Wie kann man mit Rudolf Steiner sprechen?

Zur heutigen Rolle des Begründers der Anthroposophie

Durch seine kritische Sicht auf die Anthroposophie und Rudolf Steiner hat sich der Historiker Helmut Zander einen Namen als unabhängiger Experte gemacht. Eine Außenperspektive.1

2009 ist im Alter von 102 Jahren die Anthroposophin Maria Jenny-Schuster verstorben. Sie war wohl die letzte Zeitgenossin, die Steiner noch persönlich begegnet ist. War es in der anthroposophischen Szene bis in die 1980er Jahre hinein noch möglich, sogar auf persönliche Schüler Steiners zu treffen, ist das Charisma der Unmittelbarkeit nunmehr erloschen. Die Anthroposophie ist eine Interpretationsgemeinschaft geworden, in der niemand über den Mehrwert einer persönlichen Steiner-Beziehung verfügt – insofern kann man nicht mehr unmittelbar mit Steiner sprechen.

Man kann nur „mit“ Steiner sprechen, indem man sein gedrucktes Wort interpretiert – so jedenfalls die Außenperspektive. Diese Historisierung Steiners vollzieht sich in einer Phase, in der Transformationstendenzen in der anthroposophischen Szene zunehmen – so jedenfalls meine Wahrnehmung. Ich könnte dazu manche Details beitragen – aber die kennen Menschen, die in dieser Szene arbeiten, besser. Stattdessen möchte ich einige systematische, religionssoziologische Perspektiven präsentieren, die ich mit ausgewählten Beobachtungen fülle.

Wissenschaft – aber welche?

Steiner, ein Kind des 19. Jahrhunderts, lud seine Anthroposophie mit einem hohen Wissenschaftsanspruch auf. Die Ideale von Objektivität und naturwissenschaftlicher Empirizität wurden ihm zu Leitideen. Im 20. Jahrhundert ist dieser Wissenschaftsbegriff in eine Krise geraten: Heute haben wir es nicht mehr mit „der“ Wissenschaft zu tun, sondern mit einer Pluralität von Wissenschaftskonzepten. Das bedeutet, dass sich die Anthroposophie im Gespräch mit der universitären Welt für ein Wissenschaftskonzept entscheiden muss – das erleichtert andererseits die Debatte, weil zumindest die außer-anthroposophische Wissenschaft kein Wissenschaftsmonopol mehr verteidigt, sondern nurmehr eine Option.

Steiner wird fremd

Natürlich bedeutet dies auch eine Historisierung Steiners, die sich an vielen weiteren Stellen greifen lässt. Ein Indiz ist die neue historisch-kritische Ausgabe wichtiger Werke in einem renommierten Wissenschaftsverlag. Wenn darin die Veränderungen in unterschiedlichen Auflagen offen liegen, werden die Kreativität und Beweglichkeit Steiners deutlicher: In dem Lehrer und Dogmatiker, der er auch ist, wird ein Mann sichtbar, der in immer neuen Situationen seines Lebens immer neu versucht, seine Vorstellungen zu formulieren: Was bedeutet ihm – beispielsweise – die Theosophie um 1904? Und nach der Revision von 1918? Und 1922?

Diese akademische Diskussion um Grundlagentexte kann schnell praktisch werden, etwa: In der Christengemeinschaft gibt es offenbar eine Debatte über die Möglichkeit von Änderungen an den von Steiner sakralisierten rituellen Texten. Aber im Gegensatz zu erregten früheren Debatten über genau dieses Thema geht es heute unaufgeregt zu. Auch die Auseinandersetzung um die Stigmatisierung und die nach eigenen Angaben übersinnlichen Wahrnehmungen Judith von Halles werden vergleichsweise sachlich geführt – ein Valentin Tomberg wurde in der 1930er Jahren noch aus der Anthroposophischen Gesellschaft ausgeschlossen, als er ähnlich wie Steiner höhere Erkenntnisse beanspruchte. Dabei scheint es, dass gerade traditionelle Anthroposophen, von denen man am ehesten „Widerstand“ erwarten würde, Judith von Halle akzeptieren. Ein Grundproblem der anthroposophischen Konfliktkultur wird allerdings in diesen Debatten eher verdeckt als gelöst: Wie geht man mit „absoluten“, im Grunde nicht verhandelbaren Wahrheitsansprüchen um? Denn darum handelt es sich letztlich bei „höheren“ Erkenntnissen, um die es Tomberg und von Halle ging und geht.

Diese entspannte Haltung gegenüber „esoterischen“ Inhalten kann man in der außer-anthroposophischen Welt nicht erwarten. In Kassel-Witzenhausen ist ein Lehrstuhl für biologisch-dynamische Wirtschaftsweise wieder geschlossen worden, weil er den akademischen Kriterien nicht genügte: Die esoterisch begründete Erforschung von „Lebens- oder Ätherkräften“ galt als nicht tragbar. Hingegen haben sich die anthroposophischen Gründungen Witten-Herdecke und Alanus/Alfter inzwischen etabliert, gerade weil sie beanspruchen, trotz oder mit der Berufung auf Steiner zugleich die üblichen wissenschaftlichen Standards einzuhalten. Was wird aber in ihnen aus einem Kernbereich der Anthroposophie: der höheren Erkenntnis?

Individualisierung – Pluralisierung

Individualisierung und Pluralisierung sind Kennzeichen der momentanen gesellschaftlichen Situation und damit auch der Anthroposophie. Die Individualisierung verändert die Rolle von Institutionen, die man in mancherlei Hinsicht einfach nicht mehr braucht; vielfach gibt es längst eine Anthroposophie ohne Anthroposophische Gesellschaft. Deren steter Mitgliederrückgang ist zu beträchtlichen Teilen ein Produkt dieser Individualisierung. Dagegen kann man, und diese Einsicht trifft auch andere weltanschauliche Organisationen, wenig ausrichten. In der Folge ist die Anthroposophische Gesellschaft von Überalterung und vermutlich von eher konservativen, institutionenbezogenen Mitgliedern geprägt, die Jungen fehlen – und das Goetheanum ringt mit der Frage der Finanzierung.

Der zweite Faktor, Pluralisierung, bedeutet erstmal: Die Anthroposophie bekommt eine immer stärkere Konkurrenz auf einem Markt weltanschaulicher Anbieter. Aber Pluralisierung gibt es auch innerhalb der Anthroposophie. Dies wird etwa deutlich, wenn man sich den Abstand zwischen „Dornach“ und einer Zeitschrift wie „Info3“ ansieht – Ken Wilber neben Rudolf Steiner zu präsentieren, wird das normal? So wie es heute Chi Gong oder Yoga auch in manchen katholischen Klöstern gibt? Die interne Pluralität der Anthroposophie dürfte jedenfalls zunehmen. Und steuern lässt sich das kaum, denn die direkten Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten sind in der anthroposophischen Szene – anders als von „Sektenjägern“ oft angenommen – vermutlich schwach.

Eine besondere interne Pluralisierungsdynamik entsteht durch die Internationalisierung der Anthroposophie. Der Sekem-Gründer Ibrahim Abouleish etwa erzählt auf Deutsch deutlich andere Dinge als auf Arabisch. Und eine wachsende Zahl von Waldorfschulen im nicht-deutschsprachigen Ausland lässt neue Versionen anthroposophischer Pädagogik entstehen und verändert stark den Charakter dieser lange Zeit auf Deutschland zentrierten Bewegung. Auf Dauer wird nicht nur wie heute schon die Mehrheit der Waldorfschulen außerhalb des deutschsprachigen Raums liegen, sondern auch die Mehrheit der Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft von dort kommen. Die zentrifugalen Kräfte werden dann, dazu braucht man kein Prophet zu sein, zunehmen.

Innovation

Anthroposophie ist heute weit mehr als Traditionsverwaltung. Zu den Innovationen gehört vor allem eine Neudefinition der Rolle Rudolf Steiners: Vielen gilt er heute weniger als der Guru oder der Eingeweihte, der ein System letzter Wahrheiten eröffnet hat, sondern als ein Schlüssel zur Ermöglichung individueller Sinnsuche. Hier sehe ich eine der dramatischen Verschiebungen gegenüber den ersten Jahrzehnten der Interpretation seiner Person und seines Werks.

Diese Verschiebung der Verbindlichkeit hat natürlich Konsequenzen für die Gestaltung der Praxisfelder, von denen ich wiederum die Waldorfpädagogik herausgreife. Ihr werden zentrale Teile des ursprünglichen pädagogischen Programms fremd. Inhalte und Didaktik von Steiners Konzeption sind seit 100 Jahren nicht grundlegend reformiert worden, das steht heute an. Es gibt inzwischen einige Waldorfschulen, denen man – ganz anders als Kritiker vermuten – kaum noch ansieht, dass sie Waldorfpädagogik lehren. Von „Wildwuchsmodernisierung“ ist angesichts der hastigen Reaktionen auf den Reformstau schon die Rede.

Gleichzeitig übernehmen öffentliche Schulen Elemente der Reformpädagogik. Waldorfschulen verlieren damit ihre Sonderrolle, sie werden leichter vergleichbar. Und in der Waldorfwelt treffen inzwischen innovative Ansätze auf eher konservative oder traditionelle Schulen wie etwa die Stuttgarter Uhlandshöhe. Demgegenüber gibt es Zwergschulen, die den traditionellen Klassenverband auflösen, ja sogar einen jahrgangsübergreifenden Unterricht wie in Seewalde einführen, der damit von Steiners Gedanken der karmisch definierten Klassengemeinschaft abrückt. Wieder andere bieten Elemente der Waldorfpädagogik ohne Waldorf-Label an wie die Kieler „Lernwerft“, die von ehemaligen Waldorflehrern gegründet wurde. Manche sprechen schon von „Waldorf light“: mit reformpädagogischen Inhalten zwischen selbstbestimmtem Lernen und ganzheitlicher Bildung, mit Kopf und Herz und Hand, aber ohne objektivistischen Wissenschaftsanspruch und ohne theosophischen Okkultismus?

Identität

Braucht man für sein Leben als Anthroposoph und Anthroposophin noch die Anthroposophische Gesellschaft oder die anthroposophische Bewegung? Wie gesagt, in vielerlei Hinsicht eigentlich nicht. Die nicht-anthroposophische Gesellschaft hat inzwischen viele alternativkulturelle Erfindungen übernommen: Komplementäre Medizin findet sich bis in staatliche Institutionen hinein. Während Demeter zu Beginn der Biowelle noch der größte Anbieter war, ist der bio-dynamische Landbau heute hinter Naturland und Bioland zurückgefallen. Und Menschen, die nichts mit Anthroposophie zu tun haben, nutzen die GLS-Bank, hessnatur, Alnatura oder Tegut, ohne sich um deren anthroposophischen Hintergrund zu kümmern. Damit stellt sich die Frage: Braucht man für die Praktiken der Anthroposophie eigentlich noch den weltanschaulichen Hintergrund Steiners, oder kann man die Praxis von ihren Ideen entkernen? Funktioniert Waldorf auch ohne Theosophie? Auch ohne Goethe? Letztlich: ohne Anthroposophie?

Bei der Frage nach „der“ anthroposophischen Identität scheint mir eine Frage besonders spannend: Warum hat sich die Anthroposophie im Zuge ihrer Pluralisierung nicht längst atomisiert? Ich habe darauf, ehrlich gesagt, keine mich ganz zufriedenstellende Antwort. Es dürfte mit zwei Dimensionen zusammenhängen: Zum einen gibt es einen Minimalkonsens im Werk Rudolf Steiners, dessen Auslegung nur schwach mit direkten Sanktionen kontrolliert werden kann, und gleichzeitig die Attraktivität von Praxisfeldern, die eine sehr selektive Bezugnahme auf Steiners Werk ermöglichen, sodass man „unangenehmen“ Teilen leicht ausweichen kann.

Zum anderen dürfte dieser Zusammenhalt mit einer dialektischen Rezeptionsstruktur von Steiners Vorstellungen zusammenhängen. Klassisch versprach und verspricht die Anthroposophie eine umfassende und totale Sinnstiftung. Nichts blieb in ihr unerklärt: Geburt und Tod, Leben im Jenseits, Mensch und Welt und Geist, Wirtschaft und Pädagogik und Kunst, Erkenntnistheorie und Geschichtstheorie und medizinische Anthropologie. Zugleich versprach sie maximale Freiheit: individuelle Erkenntnis, keine Dogmen, keine Unterwerfung. Dass Theorie und Praxis hier weit auseinanderliegen (können), versteht sich von selbst. Aber im Prinzip galt: Steiner gibt mir alles, aber glauben muss ich nichts.

Allerdings schwächelt auch dieses Programm, vornehmlich aus zwei Gründen: Den totalen, wissenschaftlich begründeten Allerklärungs-Anspruch haben heute nicht einmal mehr die Naturwissenschaften. Er ist unglaubwürdig geworden, und vielleicht auch der Bedarf schwächer. Zugleich gibt es die gefühlt absolute Freiheit der Weltanschauungskonstruktion heute überall. Die großen Gegner der Freiheit, der weltanschaulich doktrinäre Staat und die staatlich gestützten religiösen Orthodoxien, sind in dieser Rolle verschwunden.

Wohin wird sich die Anthroposophie in Zukunft entwickeln? Ich sehe zwei Möglichkeiten: eine konservative Abgrenzung gegenüber der Gesellschaft, was die Identifizierung eines stabilen Markenzeichens und eine scharfe Identitätsbildung ermöglichen würde, oder eine liberale Haltung, die sich mit der Umgebungskultur vernetzt, anschlussfähig ist und dabei die Veränderung und Anpassung ihres Markenzeichens einkalkuliert.

Der konservative Weg hat alle Chancen, im Getto zu enden, dem liberalen Weg droht die Auflösung in die Gesellschaft. In der Regel versucht man, einen Mittelweg zu finden: Der ist weniger risikoreich, aber eben auch weniger attraktiv.


Helmut Zander, Fribourg/Schweiz


Anmerkungen

  1. Der Beitrag erschien zuerst in: Info3 – Anthroposophie im Dialog 1/2014, 50-53. Wir danken Info3 für die Abdruckgenehmigung.