Wie ökumenefähig ist die Neuapostolische Kirche?
Im 12. Kapitel des ersten Korintherbriefes bezeichnet Paulus die Kirche als Leib Christi, als Ort der heilvollen Gegenwart Christi. Damit unterstreicht er die Verbindung zwischen Christus und Kirche und lenkt das Augenmerk auf das Zentrum des Heilsgeschehens, auf das Kreuz und die Auferweckung des Gekreuzigten. Die Kirche ist Werkzeug Christi zur Kommunikation mit der Welt. Mit dem Gleichnis vom Leib und den vielen Gliedern unterstreicht Paulus, dass es in der Kirche eine große Vielfalt an Gaben und Diensten gibt, dass Gott seine Kirche reich beschenkt hat. Gleich an zwei Stellen zählt er Geistes- und Gnadengaben auf. Die erste Liste (Verse 8-10) nennt ausschließlich Funktionen, die zweite (Verse 28-29) fügt Gemeindeämter (Apostel, Propheten, Lehrer) hinzu: „Und Gott hat in der Gemeinde eingesetzt erstens Apostel, zweitens Propheten, drittens Lehrer, dann Wundertäter, dann Gaben, gesund zu machen, zu helfen, zu leiten und mancherlei Zungenrede. Sind alle Apostel? Sind alle Propheten? Sind alle Lehrer? Sind alle Wundertäter?“
Paulus kennt keine ausdifferenzierte Ämterhierarchie. Ämter sind Dienste, ausgerichtet auf die Verkündigung des Evangeliums, den Aufbau der Gemeinde und den Dienst in der Welt. Die von der korinthischen Gemeinde an den Apostel gerichteten Fragen (vgl. 1. Kor 12,1) nach den Geistesgaben (pneumatika) werden von ihm so beantwortet, dass er die Geistesgaben mit den Worten diakoniai (Dienste) und charismata (Gnadengaben) erläutert. Der zuletzt genannte Begriff setzt die Geistesgaben mit der Gnadentat Gottes in dem gekreuzigten Jesus in Beziehung und stellt die Verbindung zwischen paulinischer Charismenlehre und Rechtfertigungstheologie dar. Die Charismen sind eine Konkretion der Gnade. Vielfalt und Einheit der Gaben werden in trinitarischer Perspektive begründet und gesehen (1. Kor 12,4-6).
Auch andere Schriften des Neuen Testaments kennen Aufzählungen von Diensten und Ämtern, so der Epheserbrief. Hier ist die Rede von „Aposteln, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrern“ (Eph 4,11). In der Auslegungsgeschichte des Textes stieß in einzelnen Gruppen gerade diese Aufzählung auf besonderes Interesse. Waren hier – so wurde in erwecklich und endzeitlich geprägten Kreisen gefragt – wichtige Ämter bzw. die Ämterhierarchien für die Geschichte der Kirche und der Kirchen vorgezeichnet? War es ein grundlegender Fehler der christlichen Kirchen, auf eine weitere Ausbildung des Apostelamtes, das im ersten Korintherbrief und im Epheserbrief zuerst genannt wird, aber auch des Prophetenamtes verzichtet zu haben? Müsste die Kirche Jesu Christi, die die Kontinuität zu ihrem Ursprung wahren will, nicht insbesondere das Apostelamt wieder aufrichten?
Wo ist Kirche?
Die christlichen Kirchen kennen eine Vielzahl von Ämtern und Diensten. Zwischen protestantischen Kirchen und der römisch-katholischen Kirche ist die Ämterfrage ein zentrales Thema ökumenischer Diskussion und ein wesentliches Hindernis auf dem Weg zu einer vollen Kirchengemeinschaft. Einig sind sich die ökumenisch verbundenen Kirchen allerdings darin, dass die Apostolizität der Kirche ihr Kennzeichen nicht in der Etablierung eines besonderen Apostelamtes hat.
Es waren bibeltheologische Gründe, die die christlichen Kirchen veranlassten, das Apostelamt nicht beizubehalten:
• Das Neue Testament bezeichnet diejenigen Zeugen des Evangeliums als Apostel, deren Wirken eine kirchengründende Bedeutung hatte. Bei Paulus und bei Lukas bezieht sich der durchaus unterschiedliche Apostelbegriff auf einen begrenzten Kreis.
• Lukas begrenzte die Apostelzahl auf zwölf. Apostel müssen Zeugen des Lebens Jesu und seiner Auferstehung gewesen sein.
• Paulus, der fraglos wichtigste Zeuge im Blick auf Herkunft, Charakter und Verständnis des Apostelamtes, betonte, dass er das Evangelium nicht durch Menschen, sondern durch eine Offenbarung Jesu Christi empfangen hat (Gal 1,12). Apostel sind diejenigen, denen der auferstandene Jesus erschienen ist und die er zum Dienst beauftragt hat.
• Paulus, Petrus und Johannes haben keine Nachfolger bestimmt. Der Dienst der Apostel ist einzigartig und unwiederholbar.
Das reformatorische Kirchenverständnis grenzt sich sowohl gegenüber einem Institutionalismus der Äußerlichkeit ab, der die damalige Kirche bestimmte, als auch gegenüber einem Spiritualismus der Innerlichkeit, der im sogenannten „linken Flügel“ der Reformation begegnete und die äußeren Vermittlungsgestalten des Evangeliums missachtete. Grundlegend sind unter anderem die Aussagen der Confessio Augustana VII, die definitionsartig die Bedingungen für das Kirchesein der Kirche nennen. Die Versammlung der Heiligen (in der lateinischen Version des Textes von CA VII „congregatio sanctorum“) ist die Versammlung der gerechtfertigten Sünder. Die Verkündigung des Evangeliums und die evangeliumsgemäße Feier der Sakramente sind das Geschehen, durch das die Kirche zur Kirche wird. Die Kirche ist eine Schöpfung des Wortes Gottes (creatura verbi).
Unterschieden werden die für die Einheit der Kirche konstitutiven und zugleich ausreichenden Voraussetzungen („die reine Predigt des Evangeliums und die evangeliumsgemäße Darreichung der Sakramente“) von den von Menschen eingesetzten „Ceremonien“, die für die Einheit nicht notwendig sind. Gottes heilvolle Nähe ist nicht an besondere Organisationsprinzipien der Kirche gebunden.
Ämter und Dienste müssen von dem Auftrag her verstanden werden, das Evangelium zu verkündigen. Die Apostolizität der Kirche liegt in ihrer Botschaft begründet. Die Überzeugungskraft des Evangeliums kommt aus dem Wirken des Geistes. Im christlichen Zeugnis wird der Unterschied zur Wahrheit, die es bezeugt, gewahrt. Inhaltlich ist das apostolische Zeugnis die Botschaft von der freien Gnade Gottes, die Menschen aufrichtet, tröstet und zum „dankbaren Dienst“ (Barmer Theologische Erklärung II) befreit.
Wo ist Kirche? Sie ist da, wo die Gemeinschaft des Glaubens als Hörgemeinschaft, als Sakramentsgemeinschaft, als Dienstgemeinschaft gelebt wird und Gestalt gewinnt.
Selbstverständnis und Lehre der NAK
Die Wiederaufrichtung des Apostelamtes ist prägendes Merkmal der Neuapostolischen Kirche (NAK).2 Die ersten „Apostel der Neuzeit“ wurden zwischen 1832 und 1835 in England ausgerufen.3 Mit dem Namen „Neuapostolische Kirche“ wird artikuliert, dass sich aus der 1863 vollzogenen Abspaltung von den Katholisch-apostolischen Gemeinden („Alt-apostolischen“ Gemeinden) ein neues Werk entwickelt hat. Auf die Geschichte der NAK möchte ich hier nicht weiter eingehen, sondern nur erwähnen, dass ihre Entstehung zwar auf dem Hintergrund der erwecklich und prophetisch-endzeitlich geprägten katholisch-apostolischen Bewegung zu sehen, eine Kontinuität zu deren zentralen Anliegen jedoch keineswegs gegeben ist. Das neuapostolische Apostelamt hat die charismatisch-prophetischen Elemente der katholisch-apostolischen Bewegung zurückgedrängt und durch die Monopolstellung des Apostelamtes nahezu zum Verschwinden gebracht. Wo ist Kirche Jesu Christi? Sie ist da, wo das Apostelamt aufgerichtet ist. Das ist die pointierte Antwort der NAK.
1. Im vierten ihrer zehn Glaubenssätze heißt es: Ich glaube, dass der Herr Jesus seine Kirche durch lebende Apostel regiert bis zu seinem Wiederkommen, dass er seine Apostel gesandt hat und noch sendet mit dem Auftrag, zu lehren, in seinem Namen Sünden zu vergeben und mit Wasser und dem Heiligen Geist zu taufen.“ Die hervorgehobene Stellung des Apostelamtes unterstreicht auch der fünfte Glaubenssatz: „Ich glaube, dass sämtliche Ämter in der Kirche Christi nur von Aposteln erwählt und in ihr Amt eingesetzt werden und dass aus dem Apostelamt Christi sämtliche Gaben und Kräfte hervorgehen müssen, auf dass mit ihnen ausgerüstet, die Gemeinde ein lesbarer Brief Christi werde.“ Im gegenwärtigen Heilsabschnitt geschieht nach der Lehre der NAK die Vermittlung des Heils durch das Apostelamt. Ziel dieser Heilsvermittlung ist die endzeitliche Sammlung der Braut Christi sowie die „Bereitung auf die Wiederkunft des Herrn“.
Der Stammapostel ist als das „sichtbare Haupt der Kirche Jesu Christi in allen ihren Angelegenheiten oberste Instanz. Er wird von den Mitgliedern der Neuapostolischen Kirche als Repräsentant des Herrn auf Erden angesehen“.4 In ihm und in den anderen Aposteln vollbringt Christus sein gegenwärtiges Werk auf Erden. Zum Stammapostelamt, das seit Pfingsten 2005 durch den achten Stammapostel Wilhelm Leber ausgeübt wird, wird angemerkt, dass der Stammapostel die Kirche von ihrem Hauptsitz in Zürich aus leitet und seine Stellung vergleichbar ist mit der, „die Petrus vor 2000 Jahren im Kreis der Apostel innehatte“. Seine engsten Mitarbeiter sind die Bezirksapostel. Sie leiten die jeweiligen Gebietskirchen. Das Wirken der Apostel bezieht sich auf Lebende und Verstorbene. Höhepunkte im Kirchenjahr sind Entschlafenengottesdienste, die dreimal gefeiert werden.
2. Die NAK kennt drei Sakramente: die Heilige Wassertaufe (Kindertaufe), das Heilige Abendmahl und die Heilige Versiegelung, die nur vom Stammapostel und den anderen Aposteln vollzogen werden darf. Ausdrücklich wird darauf hingewiesen, dass Geistempfang und Gotteskindschaft an die Versiegelung gebunden sind. Die Taufe ist grundlegende Gnadenmitteilung, die in ein „Näheverhältnis“ zu Gott führt. Erst gemeinsam mit der Versiegelung bewirkt sie die „Wiedergeburt aus Wasser und Geist“.
3. Das heimholende Kommen Christi steht im Zentrum der endzeitlichen Erwartung der NAK, die in Lehre und Frömmigkeit eine zentrale Rolle spielt. Den Themen „Zukunft und Ewigkeit“ wird besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Für das endzeitliche Selbstverständnis der NAK ist charakteristisch, dass die versiegelten Gotteskinder im endzeitlichen Geschehen eine entscheidende Rolle spielen.
4. Allein dem Apostelamt obliegt die verbindliche Auslegung der Bibel. „Nach neuapostolischem Glaubensverständnis ist es dem Apostelamt gegeben, die Heilige Schrift auszulegen. Das bedeutet nicht, dass die Gläubigen nicht mit Gewinn die Bibel lesen könnten. Aber es ist dem Apostelamt übertragen, die Deutung der Heiligen Schrift vorzunehmen, Dinge klarzulegen und Weisung im Glauben zu geben. Dabei werden die Schriftstellen im Zusammenhang betrachtet, denn die Überbetonung einzelner Aussagen kann zu falschen Schlussfolgerungen führen“, so heißt es in Ausführungen des Stammapostels Wilhelm Leber im März 2009. In den Änderungsmitteilungen zu „Fragen und Antworten“ aus dem Jahr 2005 werden die Aufgaben des Stammapostels ebenfalls beschrieben. Ihm kommt lehramtliche Vollmacht zu, „die das Verkünden neuer Offenbarungen des Heiligen Geistes und die Reinhaltung der Jesuslehre einschließt“.5
Wo ist Kirche und was ist Kirche? Von Seiten der NAK werden diese Fragen deutlich beantwortet. Implizit enthält die ausgesprochene Antwort eine Stellungnahme zu anderen Kirchen. Die Ökumenefähigkeit der NAK hängt unter anderem von ihrem Selbstverständnis und Selbstbild ab. Sie hängt davon ab, ob es neben den Differenzen im Verständnis des Glaubens und der Kirche ausreichende Gemeinsamkeiten gibt.
Die Aussagen, die von der NAK etwa zum Thema Apostelamt und Bibelverständnis gemacht werden, bleiben aus der Perspektive eines evangelischen Christen und Theologen unbefriedigend. Die Autorität der Bibel, aber auch die Freiheit des Geistwirkens werden gewissermaßen von der starken Autorität der Apostel verschlungen, die im Zentrum der Kirche stehen. Kann die NAK ein Selbstbild formulieren, das in Bezug auf grundlegende Einsichten des Glaubens für andere Christen zustimmungsfähig ist und in dem nicht nur die Suche nach Anerkennung, sondern auch die Gewährung von Anerkennung Raum haben. Das im Jahr 2007 publizierte Selbstbild ist dafür gerade kein Beispiel.
Lehrerweiterungen und Lehrveränderungen
Über Jahrzehnte gab es im Selbstbild der NAK und in den Außenwahrnehmungen dieser Religionsgemeinschaft eine große Konstanz. Man schlage dazu etwa die einschlägigen Lexikonartikel auf oder verfolge die Beschreibung der NAK in den vielfältigen Auflagen des Buches von Kurt Hutten über die traditionellen Sekten und religiösen Sondergemeinschaften, oder man greife auf das inzwischen in 6. Auflage erschienene „Handbuch Religiöse Gemeinschaften“ zurück.6
Nicht bestreiten lässt sich, dass die NAK in ihrem Verhältnis zu anderen Religionsgemeinschaften neue Wege zu gehen begonnen hat. Schon seit einer Reihe von Jahren vollzieht sich dieser Prozess auf verschiedensten Ebenen. Zu ihm gehört, dass Verantwortungsträger der NAK auf evangelische und katholische Christinnen und Christen zugehen. In einer 1977 von der EZW herausgegebenen Publikation „Stichwort ‚Sekten’“ hieß es noch: „Die Neuapostolische Kirche selbst hat keinerlei Beziehungen zu anderen christlichen Kirchen und Gemeinschaften. Sie sondert sich ab. Sie verschließt sich Außenstehenden in einem Maße, wie dies sonst nur ganz wenige extreme Sondergruppen tun.“7
Oswald Eggenberger, ein großer Kenner der apostolischen Bewegungen, schrieb in früheren Auflagen des Herder-Lexikons der Sekten: „Sie ist die einzige Kirche, die dank dem Apostelamt das Erlösungswerk Jesu zu Ende führt. Sie geht darum ihren Weg allein, ohne Kontakte mit anderen Kirchen.“8
Heute muss dieses Bild korrigiert werden. Die zitierten Sätze treffen die Situation nicht mehr. Nur ein Beispiel unter vielen ist das Gespräch zwischen der NAK und der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) in Baden-Württemberg in den Jahren 2001 und 2002, dessen Ergebnis in einem Kommuniqué zusammengefasst wurde.9 Gespräche mit Vertretern der NAK finden gegenwärtig auf verschiedenen Ebenen statt, und zwar in freundlicher und offener Atmosphäre. Zu einer tiefer gehenden theologischen Auseinandersetzung ist es bisher allerdings noch nicht gekommen.
Mit ihren Lehrveränderungen und Lehrerweiterungen (zur Teilhabe an der ersten Auferstehung von christlichen Märtyrern, 2003; zur Taufanerkennung, 2006; zum Absolutheitsanspruch und zum Verständnis von Heil und Exklusivität, 2006; zur Heilsmöglichkeit von Menschen, die nicht versiegelt sind; zum Wirken des Geistes außerhalb der eigenen Kirche) verfolgt die NAK ein Doppeltes: Das eigene Selbstverständnis wird in Kontinuität zur eigenen Geschichte zum Ausdruck gebracht. Insbesondere dann, wenn die Exklusivität dieses Selbstverständnisses die Bestreitung des Heils, des göttlichen Handelns in anderen Kirchen und Glaubensgemeinschaften beinhaltet, wird das negative Urteil über andere gemildert. So spricht die NAK vom Heil, vom Heiligen Geist und seinem Wirken, vom Kirchesein in einem doppelten Sinn. Im jetzigen Heilsabschnitt gilt die traditionelle Lehre. Die Teilhabe unversiegelter Seelen an den göttlichen Verheißungen „durch einen besonderen Gnadenakt des Herrn“ wird jedoch nicht ausgeschlossen, sie bleibt „der Souveränität Gottes überlassen“.10
Fazit
Ob die Neuapostolische Kirche in absehbarer Zeit Mitglied bzw. Gastmitglied der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen werden wird, ist eine sehr offene Frage, obgleich dies auf örtlicher Ebene hier und da schon erfolgt ist. Ich glaube nicht, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt die ACK-Mitgliedschaft auf Bundesebene ein realistisches Ziel sein kann. Es ist dann möglich, wenn es gelingt, dem anders Glaubenden im eigenen Glaubensverständnis und der Glaubenspraxis Raum zu geben. Für die Wahrnehmung anderer christlicher Gemeinschaften ist die eigene eschatologische Enderwartung durchaus maßgeblich. Das Abrücken von einem strengen Heilsexklusivismus in der NAK bleibt für die Wahrnehmung von Mitgliedern anderer Glaubensgemeinschaften allerdings eher folgenlos. Die NAK unterstreicht gewissermaßen den aus ihrer Sicht geltenden „allgemeinen“ Heilsweg. Er besagt, dass die Versiegelten, also die Mitglieder der NAK, die Erben des Reiches Gottes sind. Und doch wird die Tür zum Himmel für anders Glaubende einen kleinen Spalt geöffnet.
Wer zur Familie der sich ökumenisch begegnenden Kirchen gehören soll und kann, bestimmt keine Kirche allein. In der NAK gibt es Veränderungs- und Beharrungskräfte. Keine Religionsgemeinschaft kann ihre Geschichte vergessen. Jede Kirche und Religionsgemeinschaft ist herausgefordert, sich selbstkritisch mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Diese Auseinandersetzung ist Voraussetzung für die Abkehr von den verletzenden Schattenseiten der eigenen religiösen Tradition. Von Verantwortlichen religiöser Gemeinschaften ist Redlichkeit in der geschichtlichen Erinnerung zu erwarten. Kann eine Deutung der eigenen Tradition so geschehen, dass andere Christen nicht ausgeschlossen, sondern eingeschlossen werden in die Zukunftshoffnung des Glaubens?
Es ist gut und wichtig, einander zu begegnen. Der Aufbau einer Dialog- und Begegnungskultur und die Suche nach respektvollen Umgangsformen ist auch abgesehen von der Frage der ACK-Mitgliedschaft ein wichtiger Schritt. Mehr exegetische Arbeit, mehr interne Debatten über den rechten Weg, mehr synodale Elemente, das wären Erwartungen eines evangelischen Christen an die Neuapostolische Kirche. Vielleicht ist es möglich, in der NAK zu einer stärkeren Würdigung des Dienstes der Theologie für die Kirche zu kommen. Obgleich die NAK eine stark durch Laien geprägte Kirche ist, hat sie starke Hierarchien aufgebaut.
Am Beginn des reformatorischen Lärmens im 16. Jahrhundert stand die Vision einer partizipatorischen Kirche. Diese Vision stellt Fragen an alle Kirchen. In seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“ (1520) entwickelt Martin Luther grundlegende Überlegungen zum Priestertum aller Gläubigen: „Man hat erfunden, dass Papst, Bischöfe, Priester und Klostervolk der geistliche Stand genannt wird, Fürsten, Herrn, Handwerks- und Ackerleute der weltliche Stand. Das ist eine sehr feine Erdichtung und Trug. Doch soll niemand deswegen schüchtern werden, und das aus dem Grund: alle Christen sind wahrhaft geistlichen Standes und ist unter ihnen kein Unterschied (außer allein des Amts halber), wie Paulus in 1. Kor 12,12ff sagt ... Demnach werden wir allesamt durch die Taufe zu Priestern geweiht, wie Petrus (1. Petr 2) sagt: „Ihr seid ein königliches Priestertum ...“11 Luthers Vision knüpft an das an, was Paulus im ersten Korintherbrief ausgesprochen hatte: Zur wahren Kirche gehören Partizipation und Aufgabenteilung, Gleichwertigkeit der Charismen und Solidarität.
Reinhard Hempelmann
Anmerkungen
- Dieser Beitrag basiert auf einem Vortrag, der am 21.5.2009 im Zentrum Weltanschauungen auf dem 32. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Bremen gehalten wurde.
- Vgl. Helmut Obst, Neuapostolische Kirche – die exklusive Endzeitkirche?, Neukirchen-Vluyn 1996.
- Vgl. Helmut Obst, Apostel und Propheten der Neuzeit. Gründer christlicher Religionsgemeinschaften des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 2000.
- Neuapostolische Kirche International, Fragen und Antworten über den neuapostolischen Glauben, Zürich 1992, 82.
- Neuapostolische Kirche International, Fragen und Antworten über den neuapostolischen Glauben, Änderungsmitteilung, Zürich 2005, 5.
- Kurt Hutten, Seher, Grübler, Enthusiasten. Das Buch der traditionellen Sekten und Sonderbewegungen, Stuttgart 131984;
- Handbuch Religiöse Gemeinschaften und Weltanschauungen, im Auftrag der Kirchenleitung der VELKD hg. von Hans Krech / Matthias Kleiminger, Gütersloh 62006.
- So Manfred Voegele, in: Hans-Diether Reimer (Hg.), Stichwort „Sekten“. Glaubensgemeinschaften außerhalb der Kirchen, Stuttgart 1977, 61.
- Oswald Eggenberger, Art. Neuapostolische Kirche, in: Hans Gasper / Joachim Müller / Friederike Valentin (Hg.), Lexikon der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen, Freiburg i. Br. 1990, 729.
- Vgl. Kommuniqué zur Gesprächsrunde 2001/2002, in: MD 2/2003, 63-65.
- Neuapostolische Kirche International, Fragen und Antworten über den neuapostolischen Glauben, Änderungsmitteilung, Zürich 2005, 12. Hier bezogen auf die Erstlinge, „die sich der dreieinige Gott als Eigentum von der Welt erkauft hat“.
- Martin Luther, An den christlichen Adel ..., in: Luther Deutsch 2, hg. von Kurt Aland, Göttingen 21981, 157-170