Wie viel Design benötigt die Seele?
Der Appell auf dem Titelblatt des auflagestarken Magazins „Woman“ im Oktober war klar und eindringlich: „Tun Sie was für Ihre Seele!“ Nicht nur der Körper, auch die Psyche benötige in Zeiten von Stress und Überforderung besondere Zuwendung in Form von „Wellness für die Seele“. Fast jeder kenne mittlerweile jemanden, der schon mal ein Coaching oder eine Therapie gemacht hat. Beim Essen plaudere man „so selbstverständlich über seine Therapie-Fortschritte, als ginge es um frische Urlaubsbräune – siehst ja so erholt aus“. Kritische Anfragen an solche aktuellen Vorstellungen der Seelenführung wurden im Rahmen der Tagung „Design für die Seele?“ gestellt, die von der Evangelischen Akademie Berlin und der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen im September auf der Insel Schwanenwerder in Berlin veranstaltet wurde. Vertreterinnen und Vertreter verschiedenster Forschungsrichtungen diskutierten die Frage, ob und wie gestaltbar die menschliche Seele sei, in welche Richtung sie sich entwickeln soll und welche Nutzen und Gefahren sich daraus ergeben. Unter den Teilnehmenden wie unter den Vortragenden war ein breites Spektrum von Fachrichtungen vertreten: Soziologie (Prof. Dr. Heiner Keupp, München), Hirnforschung (Prof. Dr. Gerald Hüther, Göttingen), Kulturwissenschaft (Dr. Barbara Zielke, Erlangen), Philosophie (Prof. Dr. Matthias Kettner, Witten-Herdecke), Theologie (Prof. Dr. Matthias Petzoldt, Leipzig) sowie Psychologie (Prof. Dr. Eva Jaeggi, Berlin und Prof. Dr. Michael Märtens, Frankfurt a.M.). Arbeitsgruppen widmeten sich den Chancen und Grenzen kassenfinanzierter Psychotherapie, der Selbstoptimierung durch Ratgeberliteratur, Psychopharmaka zwi-schen Therapie und Mind-Doping, Spiritueller Lebenshilfe und psychologischer Beratung.
Mit Vehemenz kritisierte Heiner Keupp den Verlust der Selbstreflexion innerhalb der Psychologenzunft. Der gesellschaftliche Stellenwert dieser Berufsgruppe, die innerhalb der letzten 20 Jahre rasant gewachsen ist, stehe im krassen Missverhältnis zur Bereitschaft, kritisch über ihre Deutungsmacht und ihre Menschenbilder nachzudenken. Das Faktum einer fluiden Gesellschaft, die insbesondere durch stark verändertes Beziehungs- und Bindungsverhalten gekennzeichnet sei, mache zwar den Wunsch nach einem verlässlichen Gegenüber plausibel, verführe aber viele Klienten zu illusionären Hoffnungen und manche Therapeuten zu Größenwahn.
Wohin will der Therapeut, wer oder was manipuliert den Ratsuchenden und wie beeinflussbar ist die Seele überhaupt? Mehrere Referenten problematisierten, dass dem Einzelnen zunehmend Verantwortung übertragen werde: Er soll seine eigene Veränderung mitgestalten, sich Faktenwissen aneignen und orientieren. Und ganz offensichtlich verlagere die Gesellschaft dabei auch ihre eigene Reformbedürftigkeit immer mehr auf das einzelne Individuum, gebe ihm die alleinige Verantwortung für Scheitern oder Gelingen.
Dabei scheinen heute alle Menschen prinzipiell als beratungsbedürftig und verbesserungsfähig zu gelten. Das Ziel sei die permanente Selbst-Optimierung. Die Baseler Soziologin Stefanie Duttweiler, die auf der Tagung eine Arbeitsgruppe über Anspruch und Nutzen dieser Angebote leitete, hat die unübersehbare Flut aktueller Beratungsliteratur erforscht. Als eine gemeinsame Aussage fand sie die Botschaft, dass man auch dann, wenn man medizinisch gesund sei, auf keinen Fall so bleiben darf wie man ist. „Man darf nicht der Routine verfallen, man muss ständig Gelegenheiten schaffen, etwas Neues zu erleben und zu lernen. Man soll Glückshormone aussenden, Entspannungsreaktionen einüben, auf Ernährung, Düfte und Berührung achten. Und lästige Gedanken sind mit positivem Denken und Autosuggestion trainierbar“, fasste Duttweiler zusammen.
Um dem zunehmenden Leistungsdruck gerecht werden zu können, sucht man Hilfe bei der Pharmazie. Immer mehr gesunde Menschen schlucken Lifestyle-Medikamente, von Potenzpillen, Glückspillen über Gewichtsreduzierer bis hin zu sog. Mind-doping-Präparaten. Über den illegalen Vertrieb via Internet, so der Bonner Medizinpsychologe Stephan Schleim auf der Tagung, laufe schon heute eine Art verdeckter Massenversuch mit Stimulanzien. Man müsse mittlerweile von einem regelrechten Psychopharmaka-Missbrauch sprechen – der Ritalin-Verbrauch bei Schülern etwa sei dramatisch angestiegen.
Der hohe Entwicklungsanspruch, der auf unbedingte Leistungsfähigkeit und dauerhafte Fröhlichkeit zielt, muss früher oder später zu Überforderung führen. Hier haben Theologie und Philosophie die Aufgabe, das Wesen des Menschen zu reflektieren und so dem Einzelnen zu helfen, sich gegen den Design-Anspruch von Psychotherapie und Lebenshilfe zu wehren. Einen starken Kontrapunkt zum psychologischen Wohlfühl-Diktat der Gegenwart setzte der Leipziger Theologe Matthias Petzoldt. Das Problem der menschlichen Ich-Sucht sei keine Entdeckung der Psychologie. Innerhalb der westlichen Zivilisation fungiere die protestantische Glaubensweise als Korrektiv zum Kult um das Selbst: Die evangelische Konzentration auf die Rechtfertigung wirke wie ein kritisches Ferment: Der Mensch lebt nicht aus sich selbst, sondern aus der Anerkennung, die von außen – von Gott – kommt.
Ausgangspunkt des Abschlussvortrages, den die Berliner Psychotherapeutin Eva Jaeggi hielt, war das berühmte Freud-Zitat, nach dem es Aufgabe einer Psychotherapie sei, neurotisches Elend in normales Unglück zu verwandeln. Viele Menschen würden heute unter einem Sinnvakuum leiden und zugleich an dem Wunsch scheitern, über die Alltäglichkeit hinauszuwachsen. Nicht „Wellness“ sei deshalb das angesagte Therapie-Ziel, sondern Menschen darin zu unterstützen, ihren Narzissmus zu überwinden: Die verbreitete Ich-Sucht müsse relativiert werden, damit Menschen in einen Zustand gelangen können, wo sie wieder von Dingen außerhalb ihres Selbst innerlich berührt werden. Dabei dürften Therapeuten dem Klienten allerdings nicht die Deutungshoheit abnehmen und ihm als Entwicklungsziele eigene Ansprüche zuschreiben.
Das Behandlungsziel Beziehungsfähigkeit wurde auf der Tagung mehrfach herausgestellt. Selbst der Neurowissenschaftler Gerald Hüther sprach weniger von Neuronen und Synapsen als von Liebe und Beziehung: „Heilung muss durch das Herauslocken von Sehnsucht geschehen, durch die Erfahrung, geliebt zu werden, selbst lieben zu können, mit anderen Menschen verbunden zu sein und durch eigene Leistung über sich hinauswachsen zu können.“ Solche Erfahrungen, die auch durch die intensive Beziehungsarbeit innerhalb einer Psychotherapie gemacht werden können, hinterlassen auch im Gehirn eines Erwachsenen neue Spuren und befähigen ihn, mit den Herausforderungen des Lebens angemessen umzugehen.
Michael Utsch