Wie viel Religion verträgt der Staat?
Eine Revision der Ausgangsfrage
Wie viel Religion verträgt der Staat? Vor 20, vor 40 Jahren wäre niemand auf die Idee gekommen, eine solche Veranstaltung auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag anzubieten. Schon das zeigt, dass sich in der Wahrnehmung von Religion in der Gesellschaft etwas verändert hat. Bis in die 1990er Jahre hinein erschien den meisten das Christentum als unverzichtbare Umweltbedingung einer modernen Demokratie. Menschenrechte und Menschenwürde, demokratische Teilhabe und sozialstaatliche Sekuritätsversprechen wurden leichthändig zum jüdisch-christlichen Erbe erklärt. Stark verdichtet (und häufig missverstanden) wurde dieser Befund im sogenannten Böckenförde-Theorem: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“2
Inzwischen sind die gehaltvollen Debattenbeiträge um Recht und Religion, Demokratie und Christentum auch aus Kirchenkreisen vorsichtiger formuliert. In der Genealogie der Moderne spielen theologische Denkfiguren des Christentums und Judentums eine Rolle. Gerade in der nordamerikanischen Revolution kann man sie nachspüren. Doch die Entwicklung in Nordamerika erinnert uns auch daran, dass Demokratie und Menschenrechte viele Jahrzehnte lang nicht durch die Kirchen, sondern gegen die Kirchen durchgesetzt werden mussten. Es waren die in Europa verfolgten (neuprotestantischen) Dissenter, die in Nordamerika eine starke religiöse Idee von Menschenrechten durchsetzten. Sie fanden sich dabei von Anfang an verbunden mit Vertretern eines aufgeklärten Vernunftrechts, eines säkularen Vertragsrechts, das insbesondere die philosophischen Debatten in Europa prägte. Als traditionelle Gralshüter der normativen Moderne, der Doppelung aus individueller Selbstbestimmung und kollektiver Selbstregierung, können sich die verfassten Kirchen also kaum glaubwürdig inszenieren. Eher taugt die Rolle als Träger einer lernfähigen und lehnbereiten Kulturströmung, deren ideelle Ressourcen für die Ideengeschichte des freiheitlichen Verfassungsstaates von hoher, aber eben nicht exklusiver Bedeutung war.
In dieser Rolle als lernfähige Kulturströmung spielen die Kirchen aber auch heute noch eine wichtige Rolle. Womöglich taugten sie nie so sehr zum religionspolitischen Vorbild wie in diesen Tagen. Denn sie haben wesentliche Anpassungsleistungen erbracht, die von allen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften im Interesse eines friedlichen Zusammenlebens gefordert sind.
Entgegen fortschrittsoptimistischen Prognosen säkularistischer Weltanschauungen ist Religion im Laufe der Zeit nicht verschwunden. Ihre sozialen Erscheinungs- und Organisationsformen haben sich jedoch stark verändert. Die Soziologie spricht von Prozessen der Individualisierung und Pluralisierung. Zudem lässt sich ein starker Säkularisierungsschub nicht verkennen. Er findet Ausdruck in der Entwicklung der Kirchenmitgliederzahlen, auch wenn man Säkularisierung und Kirchenaustritt nicht einfach gleichsetzen darf. Es gibt „believing without belonging“ und „belonging without believing“. Eine dritte Verschiebung in der Wahrnehmung schließlich: 9/11 hat eindrücklich vor Augen geführt, dass Religion eine gefährliche Seite hat. Religion – das ist nicht nur Sinnstiftung, Solidarbeziehungen und die Sorge um soziale Kohäsion, sondern auch Fundamentalismus, Repression, Gewalt. Doch gerade weil Religion ein Ambivalenzphänomen ist, scheint mir die titelgebende Frage der Veranstaltung missverständlich. Die Frage ist doch eigentlich nicht: Wie viel, sondern welche Religion verträgt der liberaldemokratische Staat?
Zu Glauben, Wissen und Freiheit bei Jürgen Habermas
Mit dem Thema Religion und moderner Verfassungsstaat hat sich in den letzten Jahren der Sozialphilosoph Jürgen Habermas intensiv beschäftigt. Auf ihn will ich im Folgenden verweisen. Denn mit Habermas lässt sich das Religionsverfassungsrecht des Grundgesetzes verfassungstheoretisch ganz gut erschließen.
Habermas betont in seinen Schriften einerseits, dass sich die liberaldemokratische Ordnung westlicher Staaten nichtreligiösen, nachmetaphysischen Begründungen verdankt. Das spezifische Zusammenwirken von Menschenrechten und Demokratie wurde, historisch betrachtet, zunächst vernunftrechtlich durchbuchstabiert. Vernünftigkeit bedingt Verallgemeinerbarkeit. Einer besonderen religiösen Begründung bedarf der demokratische Verfassungsstaat demnach nicht.
Andererseits weist Habermas immer wieder darauf hin, dass ein solches Modell nachmetaphysischer, allgemeinverbindlicher politischer Ordnung auf „entgegenkommende Lebensformen“3 angewiesen ist. Solche entgegenkommenden Lebensformen gründen im partikularen Ethos, etwa des Christentums, des Judentums oder des Humanismus. Habermas verteidigt deshalb den säkularen Selbststand einer liberaldemokratischen Herrschaftsordnung und plädiert zugleich dafür, Religion (und Weltanschauung) in der Öffentlichkeit zu verorten.
Habermas sieht die öffentliche Funktion der Religion auf zwei Ebenen. Zum einen bildet Religion ein „dichtere[s] Geflecht kultureller Wertorientierung“4 aus, als die freiheitliche Demokratie selbst mit ihren formalen Prozeduren zu vermitteln vermag. Das religiöse Ethos kann Menschen auf besondere Weise motivieren, über sich selbst hinauszudenken, sich als Autoren des für alle geltenden Rechts aktiv einzubringen und in diesem Sinne gute Demokraten zu sein. Zum anderen sieht Habermas in der Religion und ihren Theologumena (etwa Schuld und Erlösung, Rechtfertigung und Gnade, Person und Werk, Schöpfung und Geschöpflichkeit) nicht ausgeschöpfte Potenziale für politische Verständigungsprozesse innerhalb der säkularen Verfassungsordnung. Religion sorgt so gesehen für produktive Unruhe im politischen Prozess.
Freilich kann Religion diese öffentliche Funktion angesichts des factum brutum religiöser Vielfalt, der Pluralität menschlicher Vorstellungen vom gelingenden Leben nur einnehmen, wenn sie sich auf die Bedingungen der Moderne einstellt. Den Gläubigen wird eine dreifache Reflexionsleistung abverlangt: Ich zitiere aus der Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels „Glauben und Wissen“: „Das religiöse Bewusstsein muss erstens die kognitiv dissonante Begegnung mit anderen Konfessionen und anderen Religionen verarbeiten. Es muss sich zweitens auf die Autorität von Wissenschaften einstellen ... Schließlich muss es sich auf die Prämissen des Verfassungsstaates einlassen, die sich aus einer profanen Moral begründen.“5 Die Religion muss sich mit anderen Worten so aufstellen, dass sie den Anhängern ermöglicht, trotz partikularer religiöser Identität (als Protestant, Muslima, Jude, Atheistin), anderen Bürgerinnen und Bürgern im politischen Raum als gleichberechtigt zu begegnen und die sich daraus ergebenen Begrenzungen, die partielle Suspendierung der religiösen Wahrheitsfrage, zu verinnerlichen. Wo das misslingt, entstehen zwangsläufig besondere Konflikte. Umgekehrt gilt nach Habermas aber auch: „Das universalistische Anliegen der politischen Aufklärung erfüllt sich erst in der fairen Anerkennung der partikularistischen Selbstbehauptungsansprüche religiöser und kultureller Minderheiten.“6 Der Satz war von Habermas bewusst im Zusammenhang mit der Beschneidungsdebatte in Deutschland im vergangenen Jahr formuliert.
Für die Gläubigen ist die mit der säkularen Rechtsordnung verbundene Einschränkung der praktischen Wirksamkeit ihrer Glaubenswahrheiten immer auch eine Zumutung. Diese Zumutung wird deutlich gemildert, wenn sich die Religionen „die normativen Grundlagen des liberalen Staates ... unter eigenen Prämissen aneignen“, wie Habermas schreibt. Solche Aneignungsprozesse finden sich etwa für die römisch-katholische Kirche im Zweiten Vatikanum und für den deutschen Protestantismus in der EKD-Denkschrift „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe“. „Die erforderliche Rollendifferenzierung zwischen Gemeindemitglied und Gesellschaftsbürger muss aus der Sicht der Religion selbst überzeugend begründet werden, wenn nicht Loyalitätskonflikte weiter schwelen sollen“, so Jürgen Habermas.7
Doch auch den Ungläubigen werden nach Habermas Toleranzzumutungen abverlangt. Die religiös-weltanschauliche Neutralisierung staatlicher Gewalt verbietet es auch, ein säkularistisch-szientistisches Weltbild für allgemein verbindlich zu erklären. Nichtgläubigen verlangt Habermas deshalb ab, im politischen Raum religiöse Überzeugungen nicht für schlechthin irrational zu erklären, sondern die religiöse Sprache in der öffentlichen Diskussion zuzulassen und sich sogar an deren Übersetzung in allgemeine, d. h. kraft Vernunft erschließbare Gehalte zu beteiligen.
Offenheit für die Religionen der Bürger oder Verdrängung der Religion?
Moderne Staatlichkeit verlangt politische Anerkennung des religiös-weltanschaulichen Eigensinns und religiöse Aneignung der säkularen Grundlagen einer liberaldemokratischen Verfassungsordnung. Mir scheinen die Überlegungen von Jürgen Habermas den ethischen Selbstanspruch liberaldemokratischer Verfassungsordnung sehr gut wiederzugeben und auch für eine politische Verständigung über religionspolitische Ordnungsfragen orientierend. Es wäre dann zu prüfen, welche Ausgestaltung eher in der Lage ist, die von Habermas angemahnte Doppelung aus politischer Anerkennung des religiös-weltanschaulichen Eigensinns und religiöser Aneignung der säkularen Grundlagen einer liberaldemokratischen Verfassungsordnung zu stimulieren. Es wäre zu fragen, welche Ordnung eher in der Lage ist, eine kulturkämpferische Konflikteskalation zu vermeiden, integrativ-pazifizierend zu wirken und Bürgerinnen und Bürgern Freiheit, in einem gehaltvollen Sinne verstanden, zu garantieren. Idealtypisch lautet die Alternative: die Verdrängung der Religion aus der Öffentlichkeit, der Laizismus mit seinem säkularistisch-weltanschaulichen Überschuss und seinem halbierten Freiheitsverständnis8, oder ein Staat, der offen ist für die Religionen und Weltanschauungen seiner Bürgerinnen und Bürger, gerade damit er selbst nicht religiös oder weltanschaulich wird. So gestellt, beantwortet sich die Frage im Lichte der vorstehenden Überlegungen von selbst.
Man kann sicherlich lange über Sinn und Unsinn vieler Details des geltenden Religionsrechts in Deutschland diskutieren. Seine Grundkoordinaten entsprechen jedenfalls den Habermas’schen Anforderungen. Den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften wird Raum in der Öffentlichkeit eingeräumt, auch im staatlich verfassten Bereich dieser Öffentlichkeit. Dies geschieht nicht als Fortsetzung der alten Verbindung von Thron und Altar, sondern spiegelt die religiös-weltanschaulichen Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger wider. Wohlwollende Kooperation und Integration statt laizistische Ausgrenzung und säkularistischer Kulturkampf – dieses Arrangement prägt zugleich die Religionskulturen und trägt zu deren Zivilität bei. Religionsunterricht (für alle Religionen, Weltanschauungen und Bekenntnisse) an öffentlichen Schulen, Theologie (evangelische, römisch-katholische, islamische, jüdische) an staatlichen Hochschulen, der für alle zugängliche freiheitsfördernde Status der öffentlich-rechtlichen Körperschaft für Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, der Einbezug der religiösen Wohlfahrtspflege in den sozialstaatlich organisierten sozialen Sektor – all dies stellt die religiös-weltanschauliche Neutralität nicht etwa infrage, sondern bekräftigt und gestaltet die von der Verfassung garantierte gleiche Freiheit in rebus religionis und die darauf aufruhende Idee einer religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates gerade. Der Laizismus dagegen, wie er von verschiedenen linken und humanistischen Bewegungen in Deutschland propagiert wird, erweist sich bei näherem Hinsehen als stark in den Traditionen des etatistischen und paternalistischen Denkens verwurzelt. Er ist, zugespitzt formuliert, nicht Ausdruck der Ideale der Aufklärung, sondern Verrat an ihnen. Das geltende Staatskirchenrecht bietet eine profunde Grundlage für seine organische Weiterentwicklung als modernes Religionsverfassungsrecht. Der Laizismus mit seinem naiven Fortschrittsoptimismus, seiner vordemokratischen Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft und seinem Hang zu staatlicher Bevormundung bedeutete hingegen einen Rückfall in das Denken des 19. Jahrhunderts. Unsere religionspolitische Zukunft sieht hoffentlich anders aus.
Hans Michael Heinig, Göttingen
Anmerkungen
1 Impuls für die Veranstaltung „Wie viel Religion verträgt der Staat“ – Zentrum Weltanschauungen auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag in Hamburg am 3. Mai 2013. (vgl. den Bericht von Jörg Pegelow in diesem Heft, 255ff).
2 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt a. M. 1991, 92.
3 Jürgen Habermas, Treffen Hegels Einwände gegen Kant auf die Diskursethik zu?, in: ders., Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a. M. 1991, 25.
4 Jürgen Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates?, in: ders., Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt a. M. 2005, 111.
5 Jürgen Habermas, Glauben und Wissen, Frankfurt a. M. 2001, 14.
6 Jürgen Habermas, Vortrag in der Siemens-Stiftung am 6.8.2012, online unter www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/literatur-und-kunst/wie-viel-religion-vertraegt-der-liberale-staat-1.17432314 (30.5.2013).
7 Jürgen Habermas, Religiöse Toleranz als Schrittmacher kultureller Rechte, in: ders., Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt a. M. 2005, 258 (268f).
8 Siehe Hans Michael Heinig, „Säkularismus“ und „Laizismus“ als Anfragen an das säkulare Religionsrecht in Deutschland, in: Lothar Häberle/Johannes Hattler (Hg.), Islam – Säkularismus – Religionsrecht, Berlin 2012, 79ff.