Paul Rheinbay

Wie viel spirituellen Einfluss aus dem Osten verträgt das Christentum?

In den Spuren von Pater Lassalle

Am 11. November 2017 jährt sich zum zehnten Mal eine Feier im Bildungs- und Exerzitienhaus des Bistums Essen (Kardinal Hengsbach Haus in Essen-Werden) zur „Taufe“ des dortigen Meditationssaales mit dem Namen „Enomiya Lassalle Raum“. Eine Plakette mit einer Kopie des Portraits von Lassalle in der Weltfriedenskirche in Hiroshima wurde enthüllt und angebracht. In den Ansprachen und der Gesprächsrunde ging es, dem Erbe Lassalles (1898 – 1990) verpflichtet, um die Verbindung von Ost und West, von Zen und christlicher Kontemplation, um die Hoffnung, dass aus einem spirituell vertieften interreligiösen Dialog ein Friedenspotenzial für die globalisierte Menschheit erwachse.

Initiator der Feier war das Meditationsprogramm des Bistums Essen „Leben aus der Mitte – Zen-Kontemplation“. Es wurde begründet vom Pallottiner und Zen-Meister Johannes Kopp (gestorben 2016), der zum Kreis jener Frauen und Männer gehört, die in den 1970er Jahren von P. Lassalle eingeladen wurden, nach Japan zu kommen und sich dort unter Führung eines buddhistischen Meisters im Zen schulen zu lassen. Dies bewirkte, dass es seitdem im „Westen“ (Europa, USA, Australien) innerhalb der christlichen Kirchen Angebote gibt, Zen zu praktizieren. In vielen kirchlichen Bildungshäusern bilden entsprechende Kurse einen festen Bestandteil des Programms. Die nach außen hin sichtbare Verknüpfung mit christlicher Frömmigkeitspraxis (Gebete, Eucharistiefeier) wird unterschiedlich gehandhabt. Dies ist für kritische Beobachter Grund genug zu fragen, wie viel östlichen Einfluss das Christentum vertrage.

Geht es um eine synkretistische Vermischung, einen exotischen Schnellweg zu etwas, was als „Erleuchtung“ ganz unterschiedlich verstanden wird? Werden Menschen, die der Kirche fernstehen, in christlichen Programmen der Faszination des Buddhismus ausgesetzt? Wäre es nicht viel sinnvoller, Angebote der eigenen christlichen mystischen Tradition neu zu beleben? Geht es im Schweigen der Meditation um eine Verneinung des in Worte gefassten Glaubensbekenntnisses? Haben wir die Diskussion um „Nabelschau“, um egozentrisch verstandene Selbstverwirklichung, um Flucht vor Weltverantwortung nicht schon ausreichend geführt?

Die mit viel persönlichem Einsatz verbundene und wohl ernst zu nehmende Suche vieler Menschen nach einem „Mehr“ in ihrem Leben rechtfertigt es, sich mit dem Phänomen „Östliche Meditationspraxis und Christentum“ verantwortlich auseinanderzusetzen. In diesem Beitrag soll – eingegrenzt auf den Zen-Weg – dazu Information gegeben werden aus der Sicht eines Christen, Theologen und Priesters, der im Zen eine bisher nicht gekannte Vertiefung des eigenen Glaubens erlebt. Damit sei zugleich eine Ergänzung geboten zu vielen Stellungnahmen, welche die „Szene“ von außen betrachten und darin natürlich ebenfalls ihre Berechtigung haben.

Ein Angebot für Suchende

Denn schon von außen drängt sich eine Frage geradezu auf: Was bewegt eigentlich Menschen mit unterschiedlichsten Biografien, sich dem Zen zuzuwenden?

Schaut man auf das sich bietende Bild eines Zen-Kurses, ist der erste Eindruck eher befremdend als anziehend. Es gibt keine Wissensvermittlung, kaum Ansprache, dafür stundenlanges Sitzen im Schweigen, wenn auch nicht unbedingt und immer im Schmerzen bereitenden Lotussitz am Boden, das Gesicht zur Wand gerichtet, alle 25 Minuten ein meditatives Gehen hintereinander im Kreis, pro Tag ein Vortrag und ein kurzes Gespräch mit dem Leiter, frühes Aufstehen am Morgen, ein unveränderter Programmablauf, der sich Tag für Tag wiederholt. Dies alles ist nicht sehr werbewirksam, und Werbung in gewöhnlichem Sinne ist auch im Zen verpönt. Niemand soll von außen motiviert kommen, wenn nicht das eigene Innere ihn zu „so etwas“ hinzieht.

Fragt man Kursteilnehmer, warum sie da sind, dann werden unterschiedlichste Geschichten erzählt: Da sind Gestresste, die einfach einmal „in Ruhe gelassen werden“ wollen; Menschen mit existenziellen Lebenserfahrungen, denen ein inneres Fragen und Bohren keine Ruhe mehr lässt; von Glauben und Gemeinde Abgekommene, die spüren, dass ihnen etwas Wichtiges fehlt; Glaubende, die nach der Erfahrungsdimension ihrer Beziehung zu Gott suchen; sozial Engagierte, die spüren, dass eine regelmäßige Zeit im Schweigen ihnen und ihrem Tun „guttut“. Dazu kommt oft ein Frust aus der Überlast von Worten, aus ökonomisierten Denkstrukturen, aus oft überfordernden Berufs- und Familiensituationen. Es sind Menschen in der Lebensmitte, die neu lernen wollen, mit sich selbst etwas „anzufangen“; es sind ältere, denen sich Fragen um Leben und Tod neu stellen. Sie kommen aus ganz verschiedenen sozialen wie auch kulturellen Milieus. Sie kommen aus den christlichen Kirchen wie auch von außerhalb. Was sie verbindet, ist die Bereitschaft, sich auf ein „Nicht-Programm“, auf sich selbst und ihr inneres Programm einzulassen – und dies oft mit einem Bewunderung abverlangenden guten Willen und einem Ernst, der dem Wesentlichen des Menschseins entspricht.

Atomkatastrophe und Konzil

Eine ähnliche Erfahrung machte der Japan-Missionar und Jesuit Enomiya-Lassalle: Er begegnete Menschen, die durch die Übung des Zen sich selbst auf die Spur gekommen waren. Er sah hierin nicht nur eine Möglichkeit für sich selbst, den östlichen Menschen besser zu verstehen. Er erkannte den Zen-Weg als eine mögliche Befruchtung für Christen, als einen durchdringenden Impuls für den christlichen Grundwasserspiegel. Es wurde sein Lebensanliegen, diesem „Dialog des Schweigens“ die Wege zu ebnen. Dabei sind zwei Ereignisse zu nennen, die wie ein Katalysator wirkten: die Atomkatastrophe 1945 sowie das Zweite Vatikanische Konzil. Mit dem Abwurf der Atombombe am 6.8.1945 in Hiroshima, dessen unmittelbarer Zeuge Lassalle wurde, stellte sich ihm ein für alle Mal die Frage nach der Möglichkeit einer inneren, der Atomkraft gleichenden spirituellen Macht zum Weltfrieden. Und mit der Öffnung des Konzils gegenüber anderen Weltreligionen wurde die lange praktizierte Isolation der katholischen Kirche gegenüber anders Glaubenden aufgehoben. Hinzu kam ein Interesse vor allem für die innere Seite des Christentums mit ihren Werten und ihrer Gotteserfahrung. Dadurch motiviert warb Lassalle bei vielen Reisen in der Heimat und in Europa für das Kennenlernen der Zen-Praxis, um dadurch Christen zum Innersten zu führen. Von der „essential nature“ des Menschen sprach sein Zen-Lehrer Yamada Roshi häufig, also von der Wesensnatur des Menschen, die zu erkennen das zu erstrebende und zu erbittende Ziel der Zen-Übung sei.

Schon Lassalle fragte seinen Zen-Lehrer, ob denn für ihn als Europäer und Christen ein solcher Weg möglich sei. Er bekam zur Antwort, dass dies natürlich so sei, da er ja „einen Körper habe“. In dieser lapidaren Antwort drückt sich etwas vom Wesentlichen des Zen aus: die Einbeziehung des Leibes.

Einbeziehung des Leibes

Wer auf diese Weise den Weg in die Stille sucht, wird auf zwei zentrale Voraussetzungen hingewiesen: die äußere Haltung und den Umgang mit Gedanken. Als Erstes: Die äußere Haltung soll aufgerichtet und aufrichtend sein – so, dass in der Sitzhaltung die Leibesmitte, das Kommunikationszentrum des Menschen, frei ist. In diesem Aufrichten ist zugleich auch schon die innere Form eines „Aufrichtig-da-Seins“ angesprochen: Es gibt nichts Äußeres ohne Entsprechung im Inneren. Als Zweites: das Lassen der Gedanken, denn diese sorgen gerade im Schweigen für eine ganz eigene Lärm-Welt. Der Weg zu deren Befriedung führt zum Atem; in der Konzentration darauf, im nicht-rechnenden Zählen der Atemzüge, im Begleiten des Atems durch ein Wort. Im Sitz-Rhythmus von jeweils 25 Minuten geübt, als inneres Programm während der ganzen Zeit des Kurses beibehalten, fängt der im Schweigen „bei sich“ Einkehrende an, seinen Körper als oft verkanntes Potenzial zu spüren und wertzuschätzen. Er kommt nicht daran vorbei, ihm wird nichts anderes geboten. Hören und noch einmal hören. Gedanken und Gefühle, Erinnerungen und Vorbehalte gehen und kommen lassen. Das Einfachste, nur da zu sein, ist zugleich das Schwierigste. Und trotzdem sagen Menschen: „Das ist es!“

Ein Weg für Christen?

Darf dies ein Christ jedoch ohne Weiteres sagen, ohne sich der Gefahr auszusetzen, sich dem eigenen Glauben zu entfremden?

Im Zen treffen wir auf eine Jahrhunderte alte Tradition der Versenkung, die sich in der östlichen Hemisphäre, in Indien, China und Japan, entwickelt hat und dort mit religiösen Ausdrucksformen des Buddhismus verknüpft war und ist. Es ist die nach vielem Suchen, nach Kasteiung und langem Sitzen in der Stille geschenkte Erfahrung des Shakyamuni Buddha (563 – 483 v. Chr.) gewesen, dass „alle Wesen erleuchtet“ sind. Übersetzt in unsere Sprache ließe sich vielleicht sagen, dass die absolute Wirklichkeit in allem, was ist, aufleuchtet. Und dass es jedem Menschen grundsätzlich möglich ist, dies zu erkennen und für sein Leben zu realisieren. Zen in dieser Sichtweise ist keine Religion, sondern eine Tiefendimension, ein „Transzendenz-Bohrer“, der sich an jegliche religiöse Motivation anlegen lässt. Denn in jeder Religion geht es um „Glauben“, also um ein „vertrauendes Sich-Hinschenken an Gott“. Dies schließt eine Dimension ein, die über das rein Intellektuelle hinausgeht und vielleicht mit „Frömmigkeit“ zu benennen ist, die jedem Menschen, unabhängig von seiner akademischen Bildung, möglich ist. Vertrauen ist, dies belegen leicht die tief im Menschen wurzelnden Ängste, als Potenzial im Inneren des Menschen, in seiner Tiefendimension und damit auch in seiner Leiblichkeit verwurzelt. Wie soll ein Mensch vertrauen, d. h. glauben können, wenn er nicht mehr zur Ruhe kommen kann?

Bei dieser menschlichen Grundwirklichkeit setzt Zen an und führt über die Ruhe des aufgerichteten Leibes und der in Versöhnlichkeit gelassenen Gedanken zu einer Seins- und Einheitserfahrung, die zunächst religiös neutral ist. Ihre Benennung hängt ab vom religiösen Geprägtsein des Menschen. Ein Christ wird sich schweigend in die Atmosphäre Jesu Christi hineinbegeben und wird das ihm dort Geschenkte als Seine Gabe empfangen. Er wird im Lassen von Vorstellungen sich bereiten dafür, dass Christus sich ihm auf eine Art und Weise zeigen kann, wie er es will. Er wird Christus groß werden lassen, größer als jegliches Gegenüber, hin zu einer lebendigen Erfahrung von „Christus in allem“. Er kann in der ehrfürchtigen und konzentrierten Atmosphäre des Zen eine Atmosphäre finden, in der sein Beten sich vertiefen lässt, über Worte hinaus. Er wird dankbar ein mit der Zeit gewachsenes System entdecken, das alle Störungen fernhält und sorgfältig beste Bedingungen dafür schafft, dass es für die begrenzte Zeit eines Kurses nichts Wichtigeres zu geben braucht, als in Aufmerksamkeit bei sich selbst zu sein.

Das Programm „Zen-Kontemplation“ besteht seit 1972. Vergleichbare Initiativen sind etwa genauso alt. Und dies ist ein sehr kurzer Zeitraum, um die Begegnung zweier kontemplativer Traditionen würdigen zu können. Die vom Konzil aufgestoßene Tür führt hinaus in einen weiten Raum respektvoller Begegnung und gegenseitiger Bereicherung. Der interreligiöse Dialog setzt voraus, dass die Dialogpartner einen eigenen Standpunkt haben, von dem aus sie hörend und ergänzungsbereit auf andere zugehen. Vom Osten her gesprochen darf dieser Standpunkt, wenn es um das Menschsein geht, nicht nur intellektueller Natur sein. Dementsprechend beruht die Zen-Tradition zum großen Teil auf mündlicher Überlieferung; geschriebene Texte dienen oft dazu, den Leser von der Oberfläche des Gesagten weg zur Erfahrung des ursprünglich Gemeinten zu führen. Zen fordert im Gespräch mit dem Christentum dessen Tiefendimension heraus und trifft damit für unsere Zeit auf einen empfindsamen Nerv: Die Hoffnung auf eine Zukunft des Christseins im säkularisierten Westen hängt an dieser Möglichkeit, sich mit allen Fasern seines Menschseins („Du sollst den Herrn deinen Gott lieben aus allen deinen Kräften“) auf den Weg eines vertrauenden Sich-Überlassens zu begeben.


Paul Rheinbay