Werner Thiede

Wiederkehr der Religion in Westeuropa?

Seit über einem Vierteljahrhundert ist landauf, landab die These von der Wiederkehr der Religion zu vernehmen.1 Sie verstand und versteht sich als Gegenthese zum sogenannten Säkularisierungstheorem, also zu der einst von Max Weber und Ernst Troeltsch angebahnten und später durch die Religionssoziologie vertieften Rede vom notwendig zunehmenden Verschwinden der Religion als bestimmender Macht im gesellschaftlichen und individuellen Leben der Moderne. Namentlich der Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks mit seinem staatlich verordneten Atheismus wurde bei gleichzeitig feststellbarer Hartnäckigkeit der Präsenz von religiös-irrationalen Denkmustern etwa im Kontext der sogenannten New-Age-Bewegung2 im Abendland als Indiz für eine Renaissance der Religionen weltweit und auch in der abendländischen Gesellschaft gewertet.Doch unumstritten war diese These zu keiner Zeit. Unter den Gegenwartstheologen votiert namentlich Ulrich H. J. Körtner anders und betont, dass das bloße Interesse an religiösen Themen nicht mit Religiosität verwechselt werden dürfe.3 Auch Joachim Kunstmann bemerkt: „Das Interesse an Religion ist aber nicht selbst schon Religion ... Gelebte Religion, der persönliche spirituelle Vollzug, Selbstverpflichtung, Glaube und Bekenntnis sind längst zu Randphänomenen des gesellschaftlichen Lebens geworden ... Über Religion spricht man nicht.“4 Und Klaus-Peter Jörns mahnt: „Was dabei die Aussage angeht, (die) Religion sei zurückgekehrt, so sind Daten, auf die sich solche Aussagen stützen, vorsichtig zu bewerten.“5 Für christliche Religionstheoretiker, aber auch für kirchliche Analysten, insbesondere für die Verwalter der nach wie vor kontinuierlich sinkenden Mitgliederzahlen der Großkirchen, ist die Frage ihrer Aussagekraft und Richtigkeit naturgemäß von hoher Relevanz.6 Im Folgenden werde ich die These von der angeblichen Renaissance der Religion meinerseits überprüfen, und zwar primär im Blick auf die kulturelle Situation bei uns in Westeuropa. Das will ich in fünf Schritten tun, nämlich im Hinblick auf 1. das Phänomen eines anhaltenden Säkularisierungsprozesses, 2. den weltweit und auch in Westeuropa erstarkenden Islam und Islamismus, 3. einen wachsenden biblizistischen Fundamentalismus, 4. die sich vital zeigende Esoterikwelle und 5. die Zunahme synkretistischer Religiosität. Abschließend werde ich das Ergebnis meiner Analysen und Überlegungen zusammenfassen und theologisch auswerten.

Keine Wiederkehr der Religion: Die Säkularisierung in Westeuropa geht weiter

Den Wandel der gesellschaftlichen Stellung der Religion konnten Soziologen genau so lange als Säkularisierungsprozess begreiflich machen, wie es sich bei dieser „Religion“ hauptsächlich um das Christentum im Kontext der Moderne handelte. Diese Religion, die weit über ein Jahrtausend lang das Abendland maßgeblich geprägt hat, ist unübersehbar dabei, ihren prägenden Einfluss zunehmend zu verlieren. Umfragen bestätigen in der Regel, dass der Einflussverlust des Christentums weiter anhält. Von einer Renaissance des Christentums – das wird kaum jemand bestreiten – kann in Westeuropa nicht ernsthaft die Rede sein. In diesem Sinn hat die Säkularisierungsthese also Recht behalten. Dagegen ist eine „Renaissance der Religion als Kulturmacht in nahezu allen außereuropäischen Gesellschaften und Kulturkreisen unübersehbar“7. Allerdings hat in unseren europäischen Breitengraden das Säkularisierungstheorem mit dem Aufkommen der sogenannten Postmoderne und des ihr korrespondierenden religiösen Pluralismus an Evidenz eingebüßt.8 Oft genug ist von der „Rückkehr der Religionen“ (Martin Riesebrodt), der „Wiederkehr der Religion“ (Gottfried Küenzlen), der „Wiederkehr der Götter“ (Friedrich Wilhelm Graf), einer Re-Spiritualisierung (Matthias Horx) oder einer De-Säkularisierung (Peter L. Berger) die Rede. Man meint sicher sein zu können, dass Religion doch auch unter modernen bzw. postmodernen Bedingungen ihre innere Kraft behalten habe und bewähren werde.Sprechen nicht zu viele Beobachtungen gegen einen unaufhörlich weitergehenden Prozess der Verweltlichung unserer westlichen Kultur? „Nicht Säkularisierung, sondern die Entwicklung in Richtung eines religiösen Pluralismus ist der charakteristische Vorgang“, erklärt Reinhard Hempelmann.9 Die von Max Weber und Emile Durkheim eingeführte Säkularisierungsthese möchte heutzutage kaum noch jemand in den Mund nehmen; sie ist gerade auch in unserem Kulturkreis gewissermaßen aus der Mode gekommen.Aber das dürfte mit ihrem sich ausbreitenden falschen Verständnis zusammenhängen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich schnell, dass Weber wie Durkheim keineswegs die Ansicht vertreten haben, Religion schlechthin sei im Zeitalter der Moderne immer klarer zum Untergang verurteilt, um eben einer wissenschaftlich-nüchtern geprägten Weltsicht Platz zu machen. Auch spätere Religionssoziologen wie etwa Bryan Wilson10 und Detlef Pollack11 verstanden die Säkularisierungsthese mitnichten in einem solch platten Sinn. Vielmehr waren sie allenfalls der Überzeugung, dass Modernisierungsprozesse einen kritischen Einfluss auf die Stabilität und Vitalität von Religionsgemeinschaften hätten – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und das bleibt zutreffend, zumindest im Blick aufs institutionell verfasste Christentum – während sich die Lage hinsichtlich der zweitgrößten Weltreligion, des Islam nämlich, in Westeuropa etwas anders darstellt. Die schon seit Langem wahrzunehmende Tendenz einer „Verweltlichung“ der Religionen12 hält an, wenngleich nicht ohne Gegenkräfte.

Keine „Wiederkehr“ der Religion: Islam und Islamismus erobern neues Terrain

Dass es sich mit dem Islam in Sachen Säkularisierung nicht so verhält wie beim Christentum, hat Gründe, die vor allem in der andersartigen Struktur und Intention dieser monotheistischen Religion liegen. Bekanntlich ist sie weltweit im Wachsen begriffen und macht sich anheischig, den „Spitzenreiter“ Christentum immer mehr einzuholen, was ein Stück weit auch im Abendland zutrifft. Aber gerade in Westeuropa handelt es sich eigentlich nicht um eine „Wiederkehr“ dieser Religion, sondern um ein Erstarken, sodass sie mehr oder weniger Neuland erobert (mit der die Regel bestätigenden Ausnahme von Spanien). Die These von der „Renaissance der Religion“ oder der Religionen ist also gerade auch im Blick auf Islam und Islamismus in unseren Breitengraden kaum zutreffend.Immerhin wird aber die Säkularisierungsthese durch die globalen Erfolge des Islam ein Stück weit in Frage gestellt. Denn hier hat man es mit einer großen traditionellen Religion zu tun, die sich inmitten der modernen Zeit durchaus zu behaupten weiß und Zunahme verzeichnen kann.13 Mit einer Kompatibilität zur aufgeklärten Vernunft hat das – ungeachtet der bemerkenswerten mittelalterlichen Blüte arabischer Wissenschaften und ihres Einflusses in Europa – bei dieser autoritären Buchreligion relativ wenig zu tun. Vielmehr liegt es primär an ihrem Selbstverständnis, das sich tendenziell zur politischen Wirklichkeit etwas anders verhält als das Christentum. Wissen Christen sich eher als von Gott Versöhnte, die eine Vorhut der kommenden, erlösten Schöpfung inmitten der alten Welt bilden und in dieser deshalb Fremdlinge bleiben, so sehen sich Muslime mit ihrem Leben und Glauben mehr in einer Religion, die im unmittelbaren Zugriff auf die Welt kultur- und lebensgestaltend wirken will.Demgemäß ist die Grundstruktur islamischer Frömmigkeit die von Gebot und Gehorsam: „Der Mensch hat zu gehorchen, sich auf Gottes Wegleitung zu verlassen, auch dort, wo ihm die Einsicht in Grund und Berechtigung der göttlichen Forderungen verwehrt ist. Er steht vor der Wahl, sich Gottes Weisheit und Macht unterzuordnen oder sich ihm in Widerspenstigkeit zu verweigern; und auch diese Wahl ist ebenfalls noch der Verfügung Gottes unterstellt, so daß dem Menschen auch im Bösen keine Selbstherrlichkeit zukommen kann. Die Vorstellung, daß Gott mit dem Menschen heilsgeschichtlich eine Gemeinschaft eingehe, um so das Verhältnis von Schöpfer und Geschöpf, von Herrn und Knecht durch das andere von Vater und Kind zu überbieten, ist den theologischen Lehren des Islam fremd.“14 Von daher bestimmt eine fromme Gesetzlichkeit die hier herrschende Religiosität, die das gesamte Leben individuell, aber im jeweils möglichen Maße auch gesellschaftlich prägt. Sie macht die politisierenden Ambitionen des Islam plausibel: Muss doch die religiöse Ordnung möglichst gesamtgesellschaftlich geregelt und gewährleistet werden! In nüchterner Analyse gilt es wahrzunehmen, dass der Islam als Weltreligion daher schon im Ansatz wie keine andere zu einer Vermischung von Religion und Politik neigt.15 Im Unterschied zum Christentum, das seine universalistischen Ansprüche politisch erst im Mittelalter formuliert und als politische längst wieder storniert hat, ist der Islam von Beginn an auf Universalismus aus gewesen.16 Denn er sieht sich „aufgerufen, seinen Machtbereich universal auszudehnen, damit die gesellschaftlichen Verhältnisse zunehmend der Weisung Gottes, der Scharia, unterstellt werden ...“17 Zwar lehnt es der Islam ausdrücklich ab, Andersgläubige mit Gewalt zu bekehren (Sure 2,256); gleichwohl haben Muslime die Pflicht, sich um die Herstellung einer universalen Herrschaft des Islam zu bemühen.18 Die Ordnungsvorstellungen, die der Islam als Ausgestaltung des göttlichen Gesetzes ausgibt, verstehen sich als die bessere Alternative zum politischen System des Ostens und zu den demokratischen Institutionen des Westens. Überhaupt wird der Westen mit seiner Tendenz zu anhaltender Säkularisierung von Muslimen verständlicherweise kritisch gesehen. Insbesondere der ideologisch zugespitzte Islamismus mit seinen teilweise terroristischen Bestrebungen versteht sich ausdrücklich als Gegenkraft gegen die Säkularisierungsmächte des Westens.19 Zwar gibt es die sogenannten Reform-Muslime, die das abendländische Denken wegen der hier anzutreffenden humanistischen Ideale und aufgeklärten Fortschrittlichkeit entschieden bejahen und für eine angemessene Einpassung ihrer Religion in die moderne Kultur plädieren. Doch sie sind klar in der Minderheit und können ihre Stimme nur im Exil erheben – nämlich im freien Westen!

Albrecht Hauser kritisiert deshalb mit Recht die verbreitete Annahme, „alle Religionen seien mehr oder weniger nur kulturell bedingte ‚Blaupausen’ ein und derselben Grundstruktur des Religiösen, so dass auch der Islam mit etwas verständnisvoll entgegenkommendem Dialog und mit gutem Willen sich bald den europäischen Gegebenheiten anpasse“20.Zu den liberalen Reform-Muslimen zählt der international bekannte Professor Bassam Tibi: Er hat in zahlreichen Publikationen und Fernsehinterviews deutlich vor den fundamentalistischen Kräften des Islamismus gewarnt. Dass dessen religiöses Streben nach einer weltweiten Gottesordnung den Weltfrieden herausfordere, betont er seit Langem. Fundamentalismus versteht er als „Politisierung von Religion“; auf dieser Basis macht er deutlich, dass sich unter den Fundamentalismen der Weltreligionen eine direkte Verbindung von politischer Religion und Weltpolitik allein im besonderen Fall des Islam beobachten lasse.21 Mitunter hat man in den neueren Debatten das Argument zu hören bekommen, jede Weltreligion bringe Fundamentalismus und somit womöglich religiös motivierten Terrorismus hervor. Solche Gleichmacherei stellt jedoch einen bedenklichen Kurzschluss in der Wahrnehmung der Realität dar. Die Fundamentalismen der verschiedenen Weltreligionen sind bei näherer Betrachtung recht unterschiedlich strukturiert – je nach dem Charakter ihrer Basisreligion.22 Und gerade der Fundamentalismus des gelebten Islam ist laut Tibi neben Kommunismus und Faschismus zu einer dritten Spielart des Totalitarismus der neueren Zeit geworden. Eine „Wiederkehr der Religion“ ist das aber nicht – wenn denn Evelyn Bokler-Völkel Recht hat mit der These, dass „nicht von einer Renaissance des Religiösen gesprochen werden“ kann, wo dieses früher entweder gar nicht oder aber ohnehin stets vorhanden war.23

Keine Wiederkehr der „Religion“: Christlicher Fundamentalismus ringt um Vergewisserung

Wie steht es indessen mit dem christlichen, insbesondere protestantischen Fundamentalismus? Stellt nicht diese Bewegung in den USA und in Westeuropa eine Wiederkehr der Religion dar – nämlich die Wiedergeburt einer Frömmigkeit, welche die Heilige Schrift als religiöse Urkunde endlich wieder so ernst nimmt, wie das früher einmal allgemein der Fall war? Der entschiedene, in aller Regel gewaltfreie Kampf gilt hier nicht etwa jeder Vernunft überhaupt, sondern der säkular verstandenen Rationalität, die traditioneller religiöser Autorität den Boden zu entziehen trachtet.Diese stark konservative Spiritualität betont vor allem jenes eine Fundament, auf das allein sich nach ihrer Überzeugung wahre religiöse Autorität gründet und dem sich deshalb auch jedes Vernunfturteil unterzuordnen hat: die Heilige Schrift als überlieferte Textgestalt des Wortes Gottes. Ein solcher protestantischer Fundamentalismus zielt auf ein Bibelverständnis, das der Heiligen Schrift als göttlich inspirierter Größe absolute Autorität zuerkennt.24 Doch bei näherer Betrachtung handelt es sich auch bei dieser religiösen Strömung keineswegs um eine „Wiederkehr“ von früher schon da gewesener Religiosität, sondern um ein durchaus modernes Phänomen – nämlich um den Versuch der Vergewisserung eines greifbaren, tragenden Fundamentes inmitten der säkularen Welt.In dieser Hinsicht bedarf es genauerer Unterscheidungen. Die Heilige Schrift als Glaubensfundament und als Richtschnur für Lehre und Leben zu betrachten, ist zwar eine reformatorische und altprotestantische Grundhaltung. Doch zu einem „-ismus“, zu einer religiösen Ideologie ist diese Haltung erst geworden, seit die fundamentale Bedeutung der Heiligen Schrift zu einer absoluten hochstilisiert wird. Das reformatorische Prinzip des sola scriptura hat einst gegenüber dem Papstamt eine alternative Autorität ins Zentrum gerückt, hat dies allerdings eindeutig in der Absicht getan, die Autorität Christi selbst in der Kirche wieder angemessener zur Geltung kommen zu lassen. Deshalb war und ist das Sola-scriptura-Prinzip im Protestantismus immer dem theologischen Prinzip solus Christus zugeordnet, ja im Streitfall untergeordnet worden. Erst wo diese Zu- und Unterordnung fallen gelassen, ja das solus Christus womöglich umgekehrt dem sola scriptura untergeordnet wird25, hat man es innerhalb des Protestantismus mit Fundamentalismus zu tun.Für Martin Luther selbst war die Heilige Schrift nicht in solch plattem Sinn Autorität, dass sie in allen ihren Teilen gleichermaßen zu gewichten wäre. Vielmehr konnte der Reformator bei aller Verehrung der von ihm übersetzten Bibel bekanntlich auch kanonkritische Äußerungen tun, wie sie für fundamentalistisch orientierte Protestanten undenkbar wären. Die Heilserkenntnis in Christus war ihm wichtiger als ein formales Schriftprinzip, sodass er beispielsweise sagen konnte: „Wenn aber die Gegner die Schrift treiben gegen Christus, so treiben wir Christus gegen die Schrift ...“26 Nach Luthers Verständnis ist die Schrift ihr eigener Kritiker.27 Insofern ist auch theologisch begründete Bibelkritik nicht nur erlaubt, sondern im Geiste Christi sogar geboten! Bekanntlich konnte Luther den Jakobusbrief als „stroherne Epistel“ abqualifizieren – und umso leuchtender das Rechtfertigungsverständnis der zentralen paulinischen Schriften herausarbeiten. Für ihn war Christus selbst das eine Wort Gottes, demgegenüber die Worte der Heiligen Schrift dienenden Charakter hatten. Von daher unterschied er theologisch zwischen dem Gesetz in der Bibel einerseits und dem biblischen Evangelium von Jesus Christus andererseits. Kurz: Er dachte nicht biblizistisch, sondern christozentrisch. Fundament des christlichen Glaubens ist daher nach lutherischem Verständnis nicht ein Buch, sondern vielmehr Christus selbst, wie ihn Teile der Schrift in klarem Licht bezeugen. Erst eine protestantische Haltung, die im Kampf gegen die moderne Bibelkritik vonseiten autonomer Vernunft diese theologischen Unterscheidungen der Reformation mehr oder weniger aus den Augen verliert, verdient den Namen „Fundamentalismus“.28 Er stellt zwar ein erstarkendes religiöses Phänomen unserer Zeit dar, wäre aber unter der Überschrift „Wiederkehr der Religion“ in seinem Wesen verkannt.

Keine Wiederkehr „der“ Religion: Esoterik als monistische Spiritualität

Ist aber nicht die unbezweifelbare Esoterikwelle im Abendland ein deutliches Indiz für eine Wiederkehr der Religion in unserer Gesellschaft? Zu Beginn der 1990er Jahre hatte Hans-Jürgen Ruppert, damals Referent der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW), notiert, es habe „den Anschein, als ob sich die christlichen Kirchen wenigstens für die nahe Zukunft darauf einzustellen haben, daß viele Menschen Hoffnung und Lebenssinn aus einer okkulten Religiosität neben den Kirchen und dem traditionellen Christentum beziehen“.29 Dieser „Anschein“ ist inzwischen einer unübersehbaren Faktizität gewichen.30 Die „Renaissance der Esoterik“, wie ein Buchtitel des vom Okkultismus herkommenden Schriftstellers Jörg Wichmann 1990 lautete, hat ganze esoterische Taschenbuchreihen in namhaften, teils sogar christlichen Verlagen hervorgebracht. Fast jede bessere Buchhandlung verfügt heutzutage über eine eigene Abteilung „Esoterik“, in der oftmals der kleine Bestand an christlicher Literatur mit untergebracht wird. In größeren Städten sind florierende Esoterik-Buchläden anzutreffen. Kein Wunder, dass sich diese Literatur verkauft – heißt es doch in einem Werbetext für das mehrfach aufgelegte Werk „Erwache in Gott“ der Esoterikerin Silvia Wallimann, man spüre schon „beim Lesen die hohe Schwingung der Engel“! 1992 konstatierte die Fachzeitschrift „esotera“, die Esoterik-Bestsellerlisten zu publizieren pflegt, dass sich jedes sechste Buch in Deutschland mit einem „Thema aus dem Dunstkreis des Spirituellen und der Esoterik“ befasse. In den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts konnte die „Gesellschaft für Konsumforschung“ dem esoterischen Buchmarkt eine Zuwachsrate von jährlich bis zu 20 Prozent bescheinigen. Inzwischen interessiert sich laut einer 2006 vorgelegten Umfrage fast jeder zweite Deutsche für esoterische Fragen.31 Intensiv befinden sich demnach 15 Prozent der erwachsenen Bevölkerung auf spiritueller Suche nach ihrer „inneren Mitte“.32 Esoterik-Fernsehsender sorgen auf ihre Weise dafür, dass dieser Trend nicht abreißt.Sind also Millionen von Menschen in unserem Land in einer Rückkehrbewegung zur Religion unterwegs? Gewiss bleibt einzuschränken, dass mittlerweile ein leichter Rückgang gesellschaftlicher Esoterik-Fasziniertheit feststellbar ist. Doch das besagt wenig: „Esoterische Annahmen sind längst in breitem Umfang von der Hauptkultur rezipiert, wie beispielsweise die enorme Verbreitung der Reinkarnationsvorstellung oder astrologischer Überzeugungen zeigt, sodass das ‚kultische Milieu’ der Esoterik-Szene im engeren Sinn für die Vermittlung solcher Vorstellungen schließlich an Bedeutung verliert.“33 Faktisch zeigen sich inmitten unserer „aufgeklärten“ Kultur Millionen von Menschen innerhalb wie außerhalb der Kirchen an Esoterik mehr oder weniger deutlich interessiert. Aufklärung und Esoterik sind ja schon vom Aufklärungszeitalter an keineswegs zwingend als Gegensätze aufgefasst worden!34

Das aber besagt offenkundig: Die Säkularisierung ist ein Prozess, der eine Offenheit für Esoterik nicht ausschließt. In diesem Zusammenhang stellt sich allerdings die Frage, ob denn Esoterik überhaupt korrekt unter den Begriff der „Religion“ zu subsumieren wäre. Dies bejahen aus religionswissenschaftlicher Perspektive beispielsweise Julia Iwersen35 und auch Christoph Bochinger, der mit Blick auf die esoterisch durchsetzte New-Age-Bewegung ausdrücklich sagt, ein „‚Neues Zeitalter’ der Religion“36 sei entstanden. Und gewiss hat man es hier immer noch mit Religion im weitesten Sinn des schwer definierbaren Wortes37 zu tun. Doch wenn man von einer rein funktionalen Verwendung des Religionsbegriffs absieht und inhaltliche Gesichtspunkte einbezieht, dann zeigt sich rasch, dass es problematisch ist, die Esoterik pauschal zugunsten der These einer Wiederkehr „der“ Religion in Beschlag zu nehmen. Denn zum einen stellt „die“ Esoterik für sich genommen keine bestimmte Religion dar, sondern pflegt sich, sofern sie sich religiös gibt, parasitär bestehenden Religionen an- oder einzugliedern oder sich in diversen Sekten auszugestalten. Zum anderen stellt das sie durchweg bestimmende Prinzip eines spirituellen Monismus38 eine eher philosophische denn religiöse Größe dar. Nicht von ungefähr bezieht sich Madame Helena Petrovna Blavatsky, die geistige Mutter der modernen Theosophie und Esoterik, deutlich auf die Metaphysik des Neuplatonismus.39 Zeitgenössische Esoteriker sehen sich demgemäß vor allem in einer Hinsicht im Verbund mit allem, was sich „Religion“ nennt – nämlich im gemeinsamen Kampf gegen ein Wirklichkeitsverständnis, das einem materialistischen Monismus frönt. Dem Philosophen Peter Sloterdijk zufolge stellt der Okkultismus eine „verkniffene Notwehr des metaphysischen Sinns gegen die Zumutungen einer materialistischen Kulissenontologie“40 dar. Dieser Konflikt mit einer materialistischen Weltsicht bedeutet aber nicht schon eine Renaissance der Religion schlechthin, sondern nur ein verbreitetes Unbehagen an einer solchen Interpretation der Wirklichkeit, die das – durchaus vernünftige und auch tiefenpsychologisch verständliche – Bedürfnis nach einem umfassenden Sinn negiert.

Die boomende Esoterik unserer Zeit ist daher, wie ein zeitgenössischer Esoteriker selbst formuliert, „gleichbedeutend mit einem gewaltigen Supermarkt der Metaphysik, in dem sich Millionen von Menschen aus den unterschiedlichsten Motiven nach Gutdünken bedienen“41, nicht aber per se gleichzusetzen mit Religion. So betont der ehemalige Pfarrer und spätere Okkultist Hans-Dieter Leuenberger, Esoterik „sollte nicht mit Religion verwechselt werden“, denn es handle sich nicht um „Rückbindung“ (so deutet er das lateinische Wort religio), sondern um „Rückbesinnung auf das kosmische Selbstverständnis des Menschen, das durchaus ohne einen religiösen Gottesbegriff im herkömmlichen Sinne auskommt“.42 In dem Buch „Esoterik – die postreligiöse Dauerwelle“ habe ich bereits 1995 dargelegt, dass und inwiefern hier nicht ein religiöses, sondern ein nach-religiöses Phänomen vorliegt. Hinzu kommt, dass die Esoterik unserer Tage nicht einmal eine Wiederkehr der früheren, voraufklärerischen Traditionen von Okkultismus und Hermetik darstellt, sondern im Kontext der modernen Gesellschaft ein ganz eigenes Gesicht hat. Vielen Zeitgenossen erscheint esoterische Spiritualität deshalb so hilfreich, weil man damit der Fixierung auf einengende „gesellschaftliche Rollen“ zu entkommen meint, ohne allerdings zu merken, dass man dadurch nur in neue kosmische „Gesetzmäßigkeiten“ und Rollenfixierungen hineingerät. Im technologischen Zeitalter der Machbarkeiten gehen Esoteriker allzu gern von zauberhaften Bedingungen aus, zu deren Erfüllung sie befähigt sind. Entsprechend spekulieren sie darauf, ihre Zukunft aus eigener Leistung heraus gestalten zu können. Das Wissen der großen Religionen um die Notwendigkeit und Wirklichkeit der göttlichen Gnade spielt hier, wenn überhaupt, dann eine nachgeordnete Rolle. Esoterik blüht nicht von ungefähr inmitten einer ausgesprochenen Leistungsgesellschaft. Menschen, die esoterisch denken und handeln, sind nicht einfach „Nachzügler der Geistesgeschichte. Die Okkultbewegungen haben vielmehr ihren Sitz und ihre Wurzeln im Leben der modernen Welt, sind Antworten auf elementare Aporien dieser modernen Welt und empfangen ihre Gestalt aus Motiven, Denkweisen und Argumenten der modernen Welt.“43 Nachaufklärerische Symptome wie Autoritätsverfall, Sinnkrise und Hoffnungsverlust lassen viele Menschen nicht zuletzt deshalb ihre Zuflucht in der Esoterik suchen, weil sie dort aufklärerische Ideen und Werte nur in anderer Verpackung wiederfinden können. Kurz und gut: Die Esoterik stellt keine wiedergekehrte Religion dar, sondern sie ist ein Ausdruck der auch in der säkularen Welt Westeuropas virulent bleibenden Frage nach einem übergreifenden Sinnzusammenhang. Nicht eine Renaissance der Religion liegt hier vor, vielmehr ein Indiz für die Kontinuität der religiös-philosophischen Grundfragehaltung des Menschen trotz und inmitten des Säkularisierungsprozesses.

Keine Wiederkehr „der Religion“: Synkretismen in permanentem Wachstum

Religion kommt bei näherer Betrachtung immer nur in bestimmten Konkretionen vor, so wie Sprache eigentlich nicht anders als in einer Vielzahl unterschiedlicher Sprachen existiert. Gibt es aber vielleicht „Religion“ doch auch als übergreifendes Phänomen, als inhaltlich konkret füllbaren Begriff im Singular? Nämlich als eine bestimmte, mystische Tiefenstruktur, die in allen Religionen mehr oder weniger verborgen im Hintergrund steht und dabei sogar deren eigentliche Substanz ausmacht? Also als eine synkretistische „Universalreligion“, wie das insbesondere die moderne Theosophie behauptet? Und wäre diese dann eine Erklärung für global wachsende „synkretistische“ Tendenzen im Miteinander der Religionen? Schon 1974 hat sich Michael Mildenberger als damaligem Referenten der EZW der Eindruck aufgedrängt, dass sich ein synkretistisches Grundgefühl „diesseits und jenseits der verschwimmenden Ränder der christlichen Kirchen immer weiter auszubreiten scheint“.44 1987 formulierte Gerhard Adler ausdrücklich, die Hauptreligion in Westeuropa sei ein Synkretismus mit wechselnden Inhalten und Schwerpunkten.45

Eine deutliche „Tendenz zum religiösen Synkretismus“ hat 1993 auch eine Erhebung zur Religiosität in der Schweiz festgestellt.46 Damals jährte sich gerade die erste Einberufung eines „Weltparlaments der Religionen“ in Chicago zum 100. Mal. Hier trat deshalb 1993 ein zweites „Weltparlament der Religionen“ zusammen, vor dem Swami Ghahanananda wohl im Sinne der meisten anwesenden Vertreter der Religionen formulierte: „Die Behälter sind verschieden, der Inhalt ist derselbe.“ Es gelte, „von Harmonie zur Einheit“ voranzuschreiten.47 Stellt ein solcher Trend zur „Einheitsreligion“ nicht eine eindrucksvolle „Wiederkehr der Religion“ dar – nämlich die Wiedersichtbarmachung der einen, wahren Religion, die verborgen immer schon in den Herzen aller Menschen lebte und lebt? So sieht es etwa der Benediktinerpater und Zen-Meister Willigis Jäger, der „Visionen einer integralen Spiritualität“48 verfolgt. Mystisches Ahnen interpretiert er als „Erinnerung an die Einheit, aus der wir kommen“. Damit eröffnet sich freilich eine Perspektive, die „über einen Glauben an Gott weit hinausgeht“49. Jäger lehrt, alle Religionen seien Wege zur Erfahrung des Göttlichen, aber keine von ihnen könne behaupten, den einzigen Zugang zu ihm zu besitzen. Gleichwohl würden alle Religionen auf dem gleichen Gipfel enden. Jäger meint demgemäß, „dass die spirituellen Wege aller Religionen der gleichen Grundstruktur folgen“50. Wenn man – wie er das tut – das Absolute mit völliger Leere identifiziert, kann man allerdings leicht zu der These gelangen, es sei gleichgültig, wie man das Göttlich-Unbegreifliche benenne – ob Brahman, Gott, kosmisches Bewusstsein oder noch anders. Konsequent erklärt Jäger, seine Geistesschule und seine Übungswege seien „transkonfessionell“ und führten „über alle Dogmen und Bekenntnisse hinaus“.51 Doch hat man es dann überhaupt noch mit „Religion“ zu tun? Der von Jäger gelehrte Weg ist ausdrücklich bestimmt „auch für all jene, die sich keiner Religion zuzählen“, ja er eröffnet eine rein „säkulare Mystik“52!

Damit bestätigt sich zunächst exemplarisch, dass der Säkularisierungsprozess dem Bestehen lebendiger Religiosität keineswegs zuwiderläuft. Vielmehr kann eine solche Religiosität oder Spiritualität sogar tatsächlich eine wachsende sein, was der enorme Zulauf zu den Vorträgen des Paters und Zen-Meisters Willigis Jäger beweist – solange es sich nämlich um eine relativ konturenlose Spiritualität handelt, wie er sie anbietet. Genau das aber ist nicht „Religion“ im engeren Sinn des Wortes, sondern eher eine mystisch-philosophische Abstraktion davon, die sich deshalb jedweder Religion konkreter Art scheinbar problemlos einpassen oder angliedern kann. Und schon gar nicht hat man es mit dem Wiederauftauchen einer geheimen Einheitsreligion zu tun: Die stellt bei näherer Betrachtung lediglich ein spekulatives Konstrukt ohne jeglichen religionskundlichen Anhalt dar.Gewiss lässt sich so etwas wie eine mystische Erfahrung des „Zugehörens“ – diese lehrt ausdrücklich David Steindl-Rast53 – als gemeinsame Grundlage aller Religionen der Welt behaupten.54 Christlich-theologisch würde man etwa formulieren können, dass Christus als das eine Wort Gottes alle Menschen auf verborgene Weise erleuchtet (Joh 1,9) und dass sein Geist in allen wirksam ist, um sie letztlich in Richtung der befreienden Wahrheit zu drängen oder zu bewegen.55 Aber damit ist eben gerade nichts klar Aufweisbares im Sinne einer Religion gemeint, von deren Renaissance derzeit die Rede sein könnte. Vielmehr handelt es sich hierbei um die Benennung einer anthropologischen Konstante, die vom wesenhaften Aussein des menschlichen Geistes auf einen umfassenden Sinnhorizont zeugt – oder christlich-theologisch gesprochen: in der sich etwas von der grundsätzlichen Bestimmung des Menschen zur Gemeinschaft mit seinem himmlischen Schöpfer andeutet. Im Zuge des Säkularisierungsprozesses zeichnet sich in dieser Hinsicht freilich nicht mehr ab als die vage Beobachtung, dass der Mensch sozusagen unausrottbar religiös veranlagt ist – und dass diese Veranlagung durch die jeweiligen geschichtlichen bzw. kulturellen Umstände teils mehr, teils weniger hervor- oder zurücktritt. Man kann sagen, dass es im 20. Jahrhundert schon religionskritischere Zeiten gegeben hat, als sie das Abendland derzeit erlebt. Die Wendung von der „Wiederkehr der Religion“ indessen übertreibt maßlos, sofern man sie auf Westeuropa bezieht.

Zusammenfassung und Ausblick: Bleibende Religiosität auch in Westeuropa

In allen Punkten hat sich klar und deutlich zeigen lassen: Die These von der „Wiederkehr der Religion“ lässt sich zumindest für Westeuropa nicht erhärten. Sie wäre eine Illusion, die sich unscharfer Wahrnehmung und verschwommener Begrifflichkeit verdankte. Zutreffend ist sie allenfalls insofern, als man in der einen oder anderen Bewegung oder Bewegtheit ein Wiedererwachen von Religiosität, von neuem Fragen nach einem positiven Sinn des Weltganzen entdecken kann. Ein solches Fragen hat aber schon der Aufklärungsphilosoph Immanuel Kant als der autonomen Vernunft selbst zugehörig erwiesen.56 Weder die Lebendigkeit eines solchen Fragens noch die individuell gewagten Antworten oder die weltanschaulichen Monismen, innerhalb derer sie sich gern ansiedeln, bedeuten aber eine Wiederkehr der Religion bzw. der Religionen – oder gar das erneute Wachstum der einen oder anderen religiösen Institution. Vielmehr ist gerade die im Abendland immer noch vorherrschende Religion, nämlich das Christentum – die christliche Kirche in Gestalt ihrer großen Konfessionen und auch die klassischen Freikirchen und Sekten – in kontinuierlichem Schrumpfen oder bestenfalls in einem Zustand der Stagnation begriffen.57 Von ihrer Wiedererholung oder „Wiederkehr“ als kulturprägender Macht kann trotz ihrer enormen personellen und finanziellen Möglichkeiten bis heute keine Rede sein – ausgenommen einige charismatisch inspirierte Gruppen, die insbesondere auch außerhalb Westeuropas wachsen. Große Events wie Kirchentage oder Papstreisen58 stellen Ausnahmefälle dar und bestätigen nur die Regel. Dabei verzeichnen selbst solche Ausnahme-Ereignisse eher sinkende Teilnehmerzahlen. Dass man zu Groß-Events wie evangelischen oder ökumenischen Kirchentagen immer wieder einen Mann wie den Pater und Zen-Meister Willigis Jäger einlädt, der keine biblisch und kirchlich verantwortbare Lehre vertritt, zeugt von einer bedenklichen theologischen Orientierungslosigkeit der verantwortlichen Kirchenleute. Dabei müsste doch klar sein: Eine Kirche, der es im Ernst auf ihre Identität immer weniger ankommt, kommt selbstverständlich bei den Menschen immer weniger an. Dass im Übrigen die Zahl der an Jesus Christus Glaubenden in dieser Welt auf die Dauer wachse, entspricht bekanntlich nicht der Prognose der Heiligen Schrift. Vielmehr ist der apokalyptische Ausblick in dieser Hinsicht eher düster. Keine innerweltliche Entwicklung soll das Reich Gottes herbeibringen, sondern Gott selbst wird sein Königtum – vielleicht gerade im finstersten Augenblick – durch einen plötzlichen Einbruch in diese Welt und durch ihre Umwandlung in einen neuen Himmel und eine neue Erde durchsetzen.

Es ist aus dieser Perspektive nichts mit der Annahme des sogenannten Kulturprotestantismus, der im Anschluss an Kant59 und den neuzeitlichen Fortschrittsglauben auf einen innerweltlichen Wachstumsprozess in Richtung des verheißenen Gottesreiches setzt. Ein solcher Kulturprotestantismus lebt geradezu von der Verabschiedung der eschatologischen Reich-Gottes-Hoffnung zugunsten ihrer Ummünzung in eine dem Fortschrittsglauben angepasste Spiritualität. Wer solche Verabschiedung theologisch nicht mitmacht, der wundert sich kaum über eine wachsende Krise der Christenheit. Er kalkuliert vor allem auch ein, dass der anhaltende Säkularisierungsprozess mitnichten eine Art Heilsprozess darstellt.Und tatsächlich ist unser modernes, hochtechnisiertes Zeitalter alles andere als nur segensreich, sondern im Begriff, auf gigantische Krisen zuzusteuern. Nur ein paar exemplarische Stichworte seien genannt: „Die Weltwirtschaft verharrt am Rande des Abgrunds“, hieß es am 11. März 2010 auf Seite 1 der ZEIT. In nicht zu ferner Zeit drohen große Hungersnöte, wie das neue Buch „Kein Brot für die Welt“60 aufzeigt. Der CO2-Ausstoß nimmt bekanntlich langsam, aber sicher bedrohliche Ausmaße an. Die Wasserqualität wird weltweit immer schlechter.61 Die Mobilfunktechnologie zieht ein immer dichteres elektromagnetisches Hochfrequenz-Netz mit ungeklärten biologischen Folgen über die meisten Länder der Erde62. Die Gefahr atomarer Konflikte nimmt namentlich mit der Aufrüstung des Iran aktuell weiter zu.63 Ob eine wirkliche Renaissance der Religionen diese besorgniserregende Entwicklung stoppen könnte, bleibt fraglich. Denn zum einen kommt es darauf an, welche religiösen Kräfte im Einzelnen dann wirksam würden; nicht alle eignen sich als Belege für die Richtigkeit der Idee eines „Weltethos“ im Sinne Hans Küngs. Und zum anderen ist die Macht irreligiöser Kräfte, die derzeit höchst unheilvoll am Werk sind, gewaltig. Auf eine Rückkehr der Religion als heilvolle Entwicklung zu setzen, könnte sich als traurige, ja gefährliche Illusion erweisen.Anders steht es um die Möglichkeit jedes einzelnen Menschen zu einer persönlichen Rückkehr zur Religion – und zwar nicht nur zu irgendeiner Religiosität oder Spiritualität, sondern zu der Religion, die am meisten Hoffnung macht.

Mit der Verheißung der Auferstehung der Toten (1. Kor 15,20ff; Röm 8,17ff)64, eines neuen Himmels und einer neuen Erde (2. Petr 3,13) und einer Versöhnung alles Geschaffenen mit Gott durch Jesus Christus (Kol 1,20; Röm 11,32)65 ist die christliche Religion in ihrer Positivität schlechterdings nicht zu überbieten. Wer zwischenzeitlich anderen, weniger attraktiven Hoffnungen anhing, darf dem Ruf dieses Gottes, der Liebe ist (1. Joh 4,8.16), neu folgen, darf jederzeit zurückkehren zum Christus-Glauben, heimkehren ins bedingungslose Vertrauen und Hoffen. Jesus ist bekanntlich der Mann mit der Dornenkrone, der schmachvoll Gekreuzigte: In seinem Namen begegnet keine narzisstische Religiosität, sondern eine zur Hingabe befreiende, keine mit Pomp wiederkehrende Religion, sondern eine, die in die Herzen einkehren und heilsam mit dem Gott bekannt machen will, der „größer ist als unser Herz“ (1. Joh 3,20).


Werner Thiede, Regensburg

 

Anmerkungen

1 Vgl. z. B. Wolfram Weimer, Credo: Warum die Rückkehr der Religion gut ist, München 2006; Heiner Barz, Religion ist angesagt!, in: Tutzinger Blätter 4/2008, 22-24; Karl Gabriel, Die Religionen bleiben, in: zeitzeichen 11/2010, 12-14; Hans-Jürgen Luibl, Wiederkehr der Religion? in: Sonntagsblatt 11/2010, 22-24.

2 Siehe Christoph Bochinger, New Age und moderne Religion, Gütersloh 21995; Werner Thiede, „New Age“ in religionstheologischer Betrachtung, in: Michaela Moravèíková (Hg.), New Age, Bratislava 2005, 560-576.

3 Vgl. Ulrich H. J. Körtner, Wiederkehr der Religion? Das Christentum zwischen neuer Spiritualität und Gottvergessenheit, Gütersloh 2006.

4 Joachim Kunstmann, Rückkehr der Religion. Glaube, Gott und Kirche neu verstehen, Gütersloh 2010, 42f. „Die viel beschworene ‚Wiederkehr der Religion’ ist also eine Defizitanzeige“ (45).

5 Klaus-Peter Jörns, Notwendige Abschiede, Gütersloh 2004, 33.

6 Vgl. Eberhard Jüngel, Untergang oder Renaissance der Religion? , in: Erwin Teufel (Hg.), Was hält die moderne Gesellschaft zusammen?, Frankfurt a. M. 1996, 176-209.

7 Gottfried Küenzlen, Die Wiederkehr der Religion. Lage und Schicksal der säkularen Moderne, München 2003, 29. „Weltweit kann von solcher Entkräftung nicht die Rede sein“ (32); „Westeuropa ist ein Sonderfall“ (33).

8 Vgl. Detlef Pollack, Zur neueren religionssoziologischen Diskussion des Säkularisierungstheorems, in: Dialog der Religionen 5 (1995), 114-121.

9 Reinhard Hempelmann, Religion und Religiosität in der modernen Gesellschaft. Evangelische Beiträge, EZW-Texte 179, Berlin 2004, 4.

10 Vgl. Bryan R. Wilson, Religion in Secular Society. A Sociological Comment, London 1966.

11 Vgl. Detlef Pollack, Rückkehr des Religiösen? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland und Europa II, Tübingen 2009; ders., Die Wiederkehr des Religiösen, in: Herder Korrespondenz Spezial: Renaissance der Religion – Mode oder Megathema?, Freiburg i.Br. 2006, 6-10.

12 Vgl. Heinz Robert Schlette, Christen als Humanisten, München 1967, 53ff.

13 Der SPIEGEL-Beitrag mit dem Cover-Titel „Wer hat den stärkeren Gott?“ (Nr. 52/2009) bringt aktuelle Zahlen: 1900 gab es 200 Millionen Muslime, heute sind es 1,5 Milliarden; das Christentum hat sich im gleichen Zeitraum auf zwei Milliarden Anhänger „nur knapp vervierfacht“.

14 Hans Zirker, Islam. Theologische und gesellschaftliche Herausforderungen, Düsseldorf 1993, 302f.

15 Ein differenziertes Bild hierzu vermittelt Andreas Meier, Der politische Auftrag des Islam. Programme und Kritik zwischen Fundamentalismus und Reformen. Originalstimmen aus der islamischen Welt, Wuppertal 1994; ders., Politische Strömungen im modernen Islam, Bonn 1995.

16 So Bassam Tibi, Kreuzzug und Djihad. Der Islam und die christliche Welt (1999), München 2001, 43.

17 Hans Zirker, Islam, a.a.O., 233; vgl. 234.

18 Vgl. Adel Theodor Khoury, Fundamentalismus im heutigen Islam, in: Hermann Kochanek (Hg.), Die verdrängte Freiheit, Freiburg i. Br. 1991, 266-276, bes. 268.

19 Vgl. Gilles Kepel, Die Rache Gottes. Radikale Moslems, Christen und Juden auf dem Vormarsch, München / Zürich 1991.

20 Albrecht Hauser, Keine Kritik mehr am Islam? Zur Debatte um „Islamophobie“, in: idea Spektrum 10/2010, 3.

21 Vgl. Bassam Tibi, Fundamentalismus im Islam – Eine Gefahr für den Weltfrieden?, Darmstadt 2000; ferner Gisbert Gemein / Hartmut Redmer, Islamischer Fundamentalismus, Münster 2005.

22 Vgl. näherhin Hansjörg Hemminger (Hg.), Fundamentalismus in der verweltlichten Kultur, Stuttgart 1991.

23 Evelyn Bokler-Völkel, Renaissance des Religiösen?, in: MUT 499 (2009), 64-71, bes. 68 und 71.

24 Vgl. Werner Thiede, Fundamentalistischer Bibelglaube, in: ders., Sektierertum – Unkraut unter dem Weizen?, Neukirchen-Vluyn 1999, 197-234.

25 Ein Beispiel: Das Southern Baptist Council (SBC) hat Ende des 20. Jahrhunderts den Satz „Der Maßstab, nach dem die Bibel auszulegen ist, ist Jesus Christus“ ersatzlos gestrichen (vgl. Erich Geldbach, Protestantischer Fundamentalismus in den USA und Deutschland, Münster 2001, 107).

26 Übersetzt nach WA 39 I, 47, 15ff.

27 Vgl. Paul Althaus, Die Theologie Martin Luthers, Gütersloh 51980, 79ff.

28 Dagegen ist die Bestimmung dieses Begriffs durch Bezugnahme auf militante Gewalt zu einseitig und zu durchsichtig (gegen Thomas Schirrmacher, Fundamentalismus. Wenn Religion zur Gefahr wird, Holzgerlingen 2010).

29 Hans-Jürgen Ruppert, Okkultismus – Geisterwelt oder neuer Weltgeist?, Wuppertal 1990, 133.

30 Julia Iwersen erblickt als Religionswissenschaftlerin in der Esoterik eine zukunftsträchtige Wiederherstellung der Sinngebungsleistung traditioneller Religion (Wege der Esoterik. Ideen und Ziele, Freiburg i. Br. 2003).

31 Vgl. Michael Utsch, Neue Umfrage bestätigt Einsichten der EKD-Perspektivkommission, in: MD 8/2006, 306-308, hier 306.

32 „Damit zählen mehr als sechs Millionen Deutsche zur Gruppe ‚spiritueller Sinnsucher’, die besonders aus christlicher und anderer Mystik und Esoterik schöpfen ...“ (ebd., 306).

33 Hans-Jürgen Ruppert, Esoterische Religiosität auf dem Prüfstand, in: Reinhard Hempelmann u. a. (Hg.), Panorama der neuen Religiosität, Gütersloh 22005, 285-303, hier 286; ähnlich Gottfried Küenzlen, Die Wiederkehr der Religion, a.a.O., 65.

34 Vgl. Monika Neugebauer-Wölk (Hg.), Aufklärung und Esoterik. Rezeption – Integration – Konfrontation, Tübingen 2008 (dazu meine Rezension in: ThLZ 135 [2010], 585f).

35 Vgl. Julia Iwersen, Lexikon der Esoterik, Düsseldorf 2001, 81.

36 Christoph Bochinger, New Age, a.a.O., 30.

37 Helmut Gollwitzer unterstreicht, „daß ein universell anwendbarer Religionsbegriff nicht gebildet werden kann“ (Was ist Religion? München 1980, 19). Ähnlich Jürgen Hach, Gesellschaft und Religion in der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 1980, 25; Falk Wagner, Was ist Religion?, Gütersloh 1986, 12 und 449f.

38 Vgl. Werner Thiede, Theologie und Esoterik, Leipzig 2007, 20ff; Edmund Runggaldier, Philosophie der Esoterik, Stuttgart u. a. 1996, 30.

39 Vgl. Helena P. Blavatsky, Die entschleierte Isis (1877), Bd. 1, Leipzig 21922, 224 u. ö.; dies., Der Schlüssel z. Theosophie (1889), Satteldorf 31995, 23.

40 Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1983, 638.

41 Franz Binder, Astrali Banali. Vom Mißbrauch der Esoterik, Ergolding 1992, 13.

42 Hans-Dieter Leuenberger, Sieben Säulen der Esoterik, Freiburg i. Br. 1989, 17 und 91.

43 Kurt Hutten, Parapsychische Phänomene und Okkultbewegungen im Urteil der Theologie, in: Neue Wissenschaft 1/1968, 36-52, hier 37.

44 Michael Mildenberger, Heil aus Asien? Hinduistische und buddhistische Bewegungen im Westen, Stuttgart 1974, 93f.

45 Gerhard Adler, Vom buntscheckigen New Age, in: Die politische Meinung 32, 232/1987, 73ff, hier 79.

46 Vgl. Alfred Dubach / Roland J. Campiche (Hg.), „Jede(r) ein Sonderfall?“, Zürich 1993, 44.

47 Nach dem Bericht von Leo D. Lefebure, „Weltparlament der Religionen in Chicago“, in: Dialog der Religionen 4 (1994), 104-110, hier 109.

48 Willigis Jäger, Westöstliche Weisheit. Visionen einer integralen Spiritualität, Stuttgart 2007.

49 Ebd., 35.

50 Ebd., 95.

51 Ebd., 15.

52 Ebd., 16.

53 Vgl. Werner Thiede, Mystik im Christentum. 30 Beispiele, wie Menschen Gott begegnet sind, Frankfurt a. M. 2009, 227-231.

54 Vgl. Fritjof Capra / David Steindl-Rast, Wendezeit im Christentum. Perspektiven für eine aufgeklärte Theologie, München 1991, 47.

55 Vgl. auch Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, Göttingen 1988, 170ff und 404ff.

56 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: Werke in zwölf Bänden, hg. von W. Weischedel, Frankfurt a. M. 1977, Bd. 4, bes. 49 und 59.

57 Die Bertelsmann Stiftung hat im Rahmen ihres Projektes „Die Rolle der Religion in der modernen Gesellschaft“ den „Religionsmonitor“ entwickelt und 2010 festgestellt, dass für einen Großteil der Menschen in Deutschland Religion und Glaube keine oder nur eine sehr untergeordnete Rolle spielen. Deutschland ist kein Land, das weitgehend säkularisiert wäre; gleichwohl zeigt der „Religionsmonitor“, dass eine Wiederkehr der Religion oder eine Renaissance des Glaubens auch nicht behauptet werden kann. „Warum gelten Suche, Sehnsucht und Interesse an Religion so vorschnell als deren Wiederkehr?“, fragt Joachim Kunstmann (Rückkehr der Religion, a.a.O., 47).

58 Vgl. Werner Thiede (Hg.), Der Papst aus Bayern. Protestantische Wahrnehmungen, Leipzig 2010.

59 Vgl. Christine Axt-Piscalar, Das gemeinschaftliche höchste Gut. Der Gedanke des Reiches Gottes bei Immanuel Kant und Albrecht Ritschl, in: Werner Thiede (Hg.), Glauben aus eigener Vernunft? Kants Religionsphilosophie und die Theologie, Göttingen 2004, 231-256; Werner Thiede, Wie Jesus glauben? Oder: An Jesus glauben? Kants Einfluss auf die moderne Theologie, in: CA III/IV (2006), 75-80.

60 Vgl. Wilfried Bommert, Kein Brot für die Welt. Die Zukunft der Welternährung, München 2009.

61 Siehe www.wwf.de/presse/details/news/weltwasserwoche_2010_wasserqualitaet_weltweit_bedroht.

62 Vgl. Heike-Solweig Bleuel (Hg.), Generation Handy. Grenzenlos im Netz verführt, St. Ingbert 2007; Werner Thiede, Omnipräsenter Mobilfunk als ethische Herausforderung, in: Umwelt – Medizin – Gesellschaft 23 (2010, im Druck).

63 Vgl. Werner Thiede, Zeichen der Endzeit? in: unterwegs 14/2009, 3.

64 Dazu meine Diss. „Auferstehung der Toten – Hoffnung ohne Attraktivität?“ (Göttingen 1991).

65 Vgl. Ethelbert Stauffer, Die Theologie des Neuen Testaments, Stuttgart / Berlin 1941, 201ff; Werner Thiede, Die Hölle ist ausgelöscht. Warum die Hoffnung auf Allversöhnung theologisch legitim ist, in: zeitzeichen 11/2010, 15-17.