Wo Gott in Frankreich lebt
Bericht von einer Exkursion der EZW nach Paris
Im September 2019 führte die jährliche EZW-Exkursion für Weltanschauungsbeauftragte zum ersten Mal ins Ausland. Die Hauptstadt jenes Landes, das wegen seiner Papsttreue einst als „älteste Tochter der Kirche“ gerühmt wurde, beherbergt inzwischen wie fast ganz Europa einen überaus bunten religiös-weltanschaulichen Strauß. Auf dem viertägigen Programm standen Begegnungen mit der „Christlichen Wissenschaft“, mit einer Moschee, einer Synagoge, der seit kurzem Unierten Protestantischen Kirche Frankreichs (lutherisch-reformiert), der ersten im 21. Jahrhundert erbauten Kathedrale Frankreichs, dem Europabüro des American Jewish Committee, der staatlichen „Ministerialbehörde zur Bekämpfung sektiererischer Umtriebe“ (Miviludes), mit Freimaurern, Scientology und der spiritistischen Vereinigung CESAK (Centre d’Etudes Spirites Allan Kardec).
Alle Gruppen wurden besucht, also nicht zum Vortrag in ein Tagungshaus eingeladen. Zum einen bekommt man so einen besseren Eindruck vom Leben einer Gemeinschaft – oft sind die Orte für unsere Verhältnisse bescheiden, bisweilen ärmlich – und kann hie und da als Gast an einer Kulthandlung teilnehmen. Zum anderen sprechen Menschen in ihrer vertrauten Umgebung freier. Spürbar war im Vorfeld nämlich wiederholt, dass kleine Religionsgemeinschaften in Frankreich das Außeninteresse, das sich in einem solchen kirchlichen Besuch ausdrückt – noch dazu aus dem Ausland –, nicht gewohnt sind. Es gibt in Frankreich kaum kirchliche Weltanschauungsarbeit und keine dazugehörige Publizistik. Wenn sich die staatliche Miviludes für einen interessiert, gibt das eher Anlass zur Besorgnis. So galt es in der Reisevorbereitung mehrfach, erst einmal Vertrauen herzustellen, sei es durch die Kontaktaufnahme über Mittelspersonen oder durch einen vorherigen Einzelbesuch. Mehrere der Besuchten sagten, dies sei für ihre Gemeinschaft die erste offizielle Begegnung mit einer Gruppe Pfarrer gewesen.
Einige Themen und Beobachtungen wiederholten sich in mehreren Begegnungen und werfen Schlaglichter auf die religiöse Lage im Land.
Abgrenzungen in Glaubensfragen werden unbedeutender
Abgrenzungen in Glaubensdingen sind außer in der Synagoge, Moschee und bei offiziellen kirchlichen Vertretern fast unbedeutend. Immer wieder betonten die Gesprächspartner, dass ihre Praxis und Lehren keinen exklusiven Charakter hätten – wobei aber immer deutlich war, dass die Vorstellungen vom christlichen Glauben äußerst vage waren, sodass Unterschiede gar nicht wahrnehmbar sein konnten. Bei Christian Science, die man vordergründig für eine Kirche wie andere zu halten geneigt wäre, werden zum Beispiel keine Trauungs- und Bestattungsrituale angeboten. „Das halten unsere Mitglieder, wie sie es für richtig halten. Einige heiraten nur standesamtlich, andere katholisch. Auch Beerdigungen macht zum Beispiel der katholische Ortsgeistliche.“
Auch zwei der drei Freimaurer, die wir sprachen, waren praktizierende Katholiken und bekannten dies freimütig auch angesichts eines katholischen Priesters in der Besuchergruppe. Offiziell ist die Mitgliedschaft in einer Loge nach katholischer Lehre zwar seit kurzem keine automatisch zur Exkommunikation führende Sünde mehr, aber eine Verfehlung ist es allemal. Der dritte Freimaurer, der uns gegenübersaß, war lutherischer Pfarrer, Theologieprofessor und Mitglied diverser theologischer Kommissionen seiner Kirche.
Auch die beiden jungen Vertreter der Spiritisten gaben sich als praktizierende Katholiken zu erkennen, und selbst die Scientologin äußerte sich positiv über ihre katholische Sozialisation. Es gilt offenbar: Kirchliche Positionen sind das eine, die religiöse Praxis der Menschen etwas anderes – hier machen sie es so, wie sie es für sich kompatibel finden.
Apologetik als die Kunst der Unterscheidung und die Anerkennung der Verschiedenheit aus Respekt vor dem religiös Anderen ist in diesen Gemeinschaften kein erstrebenswertes Ziel. Unverkennbar auch: Der französische Katholizismus ist als kulturell prägende Kraft auch dort noch lebendig, wo man ihn zunächst nicht vermutet.
Verhältnis zu Muslimen wird schwieriger
Zunehmend problematisch gestaltet sich das Verhältnis zum Islam bzw. zur wachsenden arabischen Minderheit. Darüber spricht man zwar immer noch etwas verhalten, aber viel offener als früher – die inflationär gebrauchten Islamophobie- und Rassismusvorwürfe entfalten angesichts der Realität immer weniger Macht. Die pensionierte Grundschullehrerin, die ehrenamtlich für Scientology Öffentlichkeitsarbeit macht, war eine für ihren Berufsstand typisch vehemente Advokatin der laizistisch-republikanischen Vorstellung von Schule. Sie ließ in einem Exkurs zu den katastrophalen Zuständen in den Schulen der Vororte erkennen, von wem ihres Erachtens die dort grassierende (kürzlich in einem staatlichen Bericht thematisierte) Gewalt gegen Schüler und Lehrer vor allem ausgehe. Auch die Freimaurer sprachen auf die Frage, warum ihr Logenhaus am Eingang mit Sicherheitsschleusen und schweren Befestigungen ausgestattet sei, nur kurz vage-kryptisch von „konkreten Terrordrohungen durch die Nachbarn“, bevor sie aussprachen, dass diese Nachbarn ein maghrebinisch dominiertes Viertel sind, wo in einem gewaltbereiten Milieu Theorien von der zionistisch-freimaurerischen Weltverschwörung gedeihen.
Markant war der Tag, an dem unsere Gruppe südöstlich von Paris in Créteil nacheinander Kathedrale, Synagoge und Moschee besuchte und sich neben dem interreligiösen Dialog auch mit dem Thema Antisemitismus beschäftigte. Motor des Dialogs ist der katholische Bischof, der zusammen mit dem Oberrabbiner und dem Imam der Großen Moschee intensiv für das Miteinander der Religionen viele Anstrengungen unternimmt. Als Symbol wählte man dafür Maria („Notre Dame de Créteil“ ist eine Marienkirche), die in Koran und Bibel auftauche und als Jüdin auch für die Juden anschlussfähig sei. Allerdings erwähnte nur die katholische Vertreterin diese Symbolik, nicht aber Rabbi und Imam.
Als Frucht des Dialogs treten Rabbiner und Imam gelegentlich gemeinsam in Schulen auf. Erleichtert wird das dadurch, dass beide aus Algerien stammen. Während die Eltern des Rabbiners kurz nach seiner Geburt 1958 wie hunderttausende andere Juden aus der arabischen Welt vertrieben wurden, ist der Imam als junger Mann freiwillig nach Frankreich gekommen.
In Créteil sind von 90 000 Einwohnern etwa 30 000 Muslime und 20 000 Juden. In der gewaltigen Moschee (ein 2008 eröffneter Prachtbau) beten laut dem Imam jedes Wochenende 3000 bis 3500 Gläubige, an Feiertagen ein Mehrfaches davon. In der zehn Minuten entfernten „ersten Kathedrale Frankreichs des 21. Jahrhunderts“ (eröffnet 2015) sind es 300 bis 500. Das mag erklären, warum Romane wie „Unterwerfung“ (Michel Houellebecq 2015) und „Die Moschee Notre-Dame – Anno 2048“ (Jelena Tschoudinova 2005, frz. 2007, dt. 2017) zu Bestsellern wurden.
Anders als im berüchtigten „Département 93“ (Seine-Saint-Denis)1 ist es in Créteil zwar noch nicht zu arabischen Pogromen gegen Juden gekommen, und der Rabbi versichert, er traue sich auch nachts mit Kippah auf die Straße. Doch diese Schilderungen des guten Miteinanders kontrastieren damit, dass auch aus Créteil immer mehr Juden flüchten (nach Israel, USA, Kanada oder – zahlenmäßig am bedeutsamsten – in die „interne Aliyah“, das heißt in Pariser Stadtteile mit weniger Muslimen). „Wir bemerken das, wenn nach den Ferien in unserer jüdischen Schule plötzlich mehrere Plätze in der Klasse leer bleiben.“ Und auch in Créteil müssen die jüdischen Schüler die öffentlichen Schulen verlassen. Der Imam allerdings, auf das Thema angesprochen, antwortete ebenso kurz angebunden wie unglaubwürdig: „Antisemitismus ist in Créteil kein Problem, das haben wir gelöst.“
Ein Vertreter im American Jewish Committee, einer Nichtregierungsorganisation, die für Menschenrechte und gegen Antisemitismus kämpft, resümierte seine Sicht auf den kirchlichen Islamdialog denn auch eher illusionslos: „Da sitzen ein paar Funktionäre zusammen, die sich kennen und schätzen. Aber wenn es drauf ankommt, sobald es in Gaza knallt, fliegt das alles auseinander und ist bedeutungslos.“
Ethnische Vielfalt in Religionsgemeinschaften ist normal
Stärker als in Deutschland scheint sich die ethnische Mischung der Gesellschaft in den Religionsgemeinschaften wiederzufinden. Viele Gruppen von der Moschee über Christian Science, Scientology und Spiritisten bis hin zur katholischen und protestantischen Kirche haben einen erheblichen Anteil Mitglieder nicht-europäischer Herkunft, seien es Migranten der ersten Generation oder Nachkommen früherer Einwandergenerationen. Viele, aber nicht alle davon kommen aus ehemaligen französischen Kolonien, weshalb ihre Integration sprachlich einfacher ist als in Deutschland. Im Logenhaus der Freimaurer waren mehrere Dutzende afrikanisch(stämmig)e Freimaurer gerade dabei, einen neuen „Meister vom Stuhl“ einzuführen. Dazu reisen dann auch Brüder aus Afrika an. Stolz erzählten unsere Gesprächspartner, darunter seien auch Minister und manchmal Staatsoberhäupter. Den meisten von uns war schon die Existenz einer afrikanischen Freimaurerei neu. Ebenso bemerkenswert ist vielleicht, dass keine der besuchten Gemeinschaften diese Tatsache als solche erwähnenswert fand. Ethnische Vielfalt innerhalb der eigenen Weltanschauungsgemeinschaft wird offenbar als Normalität wahrgenommen – ein Hinweis auf die integrierende Kraft von Religionen.
„Laïcité“ ist selbstverständlich und gerät doch unter Druck
Fast alle Gesprächspartner erwähnten die „laïcité“, also die strikte Trennung von Staat und Kirche. Sie wurde uns Deutschen als französische Besonderheit und als Rahmen der eigenen religiösen Existenz erklärt. Anders als in Deutschland sind religionspolitische Regeln in Frankreich keine Frage nur für Spezialisten. Die 1905 mit religionskritischem (antikatholischem) Hintergrund eingeführte „laïcité“ war von Anfang an ein alltagsprägendes Gesetz. Jeder, der in Frankreich zur Schule gegangen ist, ist sich ihrer bewusst. Trotz ihres bisweilen geradezu religionsfeindlich anmutenden Charakters wird die „laïcité“ von fast allen, inzwischen sogar von der katholischen Kirche, positiv gesehen und als Grundlage der republikanischen Staatsidee begrüßt. Das mag auch daran liegen, dass sie zurzeit an vielen Stellen unter Druck gerät. Insbesondere in den Schulen ist die Durchsetzung laizistischer Praxis – Stichwort Kopftuchdebatte – vielerorts kaum noch möglich, was oft besorgt und ratlos kommentiert wird.
Andererseits berichteten in Créteil alle drei Religionsvertreter davon, wie der französische Staat selbst kreativ, aber regelkonform die Grundlagen der laïcité umgehe. Grundsätzlich darf der Staat keine Religion fördern. Jedoch berichteten alle, dass der Bürgermeister von Créteil, den traditionell seit Jahrzehnten die kommunistische Partei PCF stellt, erkannt habe, dass die Religionen die stärkste Form sozialer Kohäsion in seiner Stadt darstellen. Es ist daher im Interesse der Politik, die Religionen zu stärken. Also fördert man sie, auch finanziell. Das funktioniert so: Man unterscheidet den religiösen vom kulturellen Bereich ihres Daseins („cultuel“ vs. „culturel“), den einen kann man fördern, den anderen nicht. So kommt es, dass die Kathedrale und die Moschee jeweils an den gottesdienstlichen Bereich angegliederte Versammlungs-, Unterrichts- und Verwaltungsräume haben, in die auch Steuergelder geflossen sind. Die Synagoge hat eine integrierte Schule, die ebenfalls staatlich förderungsfähig ist.
Ein Fazit
Insgesamt machte die Reise deutlich, dass die religiöse und politische Landschaft Frankreichs nicht nur vielfältig, sondern auch sehr beweglich ist. Viele Dinge, die lange galten, haben sich stark verändert, und es ist offen, was von dem, das man heute sieht, auch übermorgen noch gelten wird.
Kai Funkschmidt
Anmerkungen
- Vgl. dazu Kai Funkschmidt: „Weiß er nicht, dass sie ihn umbringen werden?“ Frankreichs islamischer Antisemitismus, in: MD 2/2016, 43-53, hier 45f.