Michael Utsch

Wohin entwickelt sich Hellingers Familienstellen?

Die mittlerweile häufig als „Aufstellungsarbeit“ bezeichnete Methode, die Bert Hellinger vor knapp 15 Jahren als Familienstellen begründete, wird heute auf allen Kontinenten durchgeführt und ist international unter den Begriffen „Constellation Work” oder auch „Hellinger Work“ bekannt. In den letzten Jahren führte Hellinger persönlich schwerpunktmäßig Seminare in Osteuropa, Japan und Asien durch. In Deutschland fanden nur wenige öffentliche Auftritte statt. Eine Strukturierung dieser jungen Bewegung ist derzeit in vollem Gang, ihre endgültige Gestalt schwer abzuschätzen. In Deutschland sind neben esoterischen Milieus, der Osho-Bewegung oder den Anthroposophen aktuell drei Bereiche zu unterscheiden, wo die von Hellinger entwickelte Methode explizit angewendet und in unterschiedliche Richtungen weiterentwickelt wird:

1. als meditativ-spirituelle Lebenshilfe (www.hellinger-international.com),

2. als Beratung und Psychotherapie (www.iag-systemische-loesungen.de),

3. als Organisationsentwicklung (www.infosyon.de).

1. Meditativ-spirituelle Lebenshilfe

Hellinger, als Begründer dieser umstrittenen Methode, scheint mit manchen Entwicklungen der von ihm angestoßenen Bewegung unzufrieden zu sein. In der neuen, von ihm seit 2005 herausgegebenen „HellingerZeitschrift“ kritisiert er, dass seine Lehre verfälscht worden sei. Er will deshalb „als Vorstand des Familienstellens“ mit diesem eigenen Publikationsorgan seine Position „als Leitfigur“ wahrnehmen. Vor allem aber möchte er den psychotherapeutischen Bereich verlassen und möglichst vielen Menschen Lebenshilfe für den Alltag anbieten. Zu diesem Zweck hat er eine „Aktionsgemeinschaft Lebenshilfe“ gegründet, der man beitreten kann. Als Mitglied hat man u. a. den Vorzug, die Tagesseminare, die Hellinger gemeinsam mit seiner Frau Marie Sophie weltweit zu Themen wie Partnerschaft oder Kindererziehung veranstaltet, kostengünstiger zu besuchen. Für 2007 ist zudem ein großer Kongress geplant.

Mit der eigenen Zeitschrift und seinem neuen Schwerpunkt „Lebenshilfe“ distanziert sich Bert Hellinger deutlich sowohl von der um wissenschaftliche Anerkennung ringenden „Deutschen Gesellschaft für Systemische Lösungen“ als auch von der wachsenden Schar von Beratern, Trainern und Coaches, die seine Vorgehensweise im Management, im Führungstraining und in der Organisationsberatung anwenden. Darüber hinaus überrascht Hellinger die Öffentlichkeit mit einem weiteren Sinneswandel: Er kündigt an, dass er, der sich früher nie als Lehrer verstand und behauptete, keine Schüler zu haben, erstmals – zusammen mit seiner Frau – Ausbildungskurse zum Familienstellen durchführen und auch Fortgeschrittene darin schulen will.

Hellinger hat sich längst vom Anspruch einer wissenschaftlichen Überprüfbarkeit gelöst und stellt seine Methode heute als „angewandte Philosophie“ und „phänomenologischen Erkenntnisweg“ vor. Er hat es versäumt oder als nebensächlich erachtet, einen theoretischen Verstehensrahmen des Phänomens „wissendes Feld“ zu entwerfen und daraus ein regelrechtes Beratungs- oder Therapiekonzept zu entwerfen. In der eigenen Fortschreibung seiner Methode wird die Aufstellungsarbeit zunehmend zu einer Form meditativ-spiritueller Lebenshilfe. Diese Weiterentwicklung wurde ihm nach eigener Aussage „auf einem geistigen Erkenntnisweg geschenkt“. Sprach er 1994 noch von „Bewegungen der Seele“, die in den Aufstellungen sichtbar gemacht würden, redet er seit 2001 von den „Bewegungen des Geistes“ und einem „geistigen Familien-Stellen“. In der aktuellen Form seiner Arbeit geht es Hellinger gar nicht mehr um die Lösung von Problemen oder um Heilung, sondern „um das Leben in seiner Fülle“, das zugänglich gemacht werden soll, indem man sich der größeren Kraft des „geistigen Feldes“ überlässt. So stellt Hellinger jetzt nicht mehr Systeme auf, sondern nur noch ein oder zwei Personen. Wenn der Leiter der Aufstellung sich im Einklang mit diesem „geistigen Feld“, also mit der geistigen Dimension der Seele befindet, werden alle von der Bewegung des Geistes erfasst, der man nicht widerstehen könne. Diese Bewegung gehe immer in die gleiche Richtung – sie führe zusammen, was vorher getrennt war: „Es ist immer eine Bewegung der Liebe“ (www.hellinger-international.com/data/ZukunftFam.shtml).

Unverkennbar geht es Hellinger heute um eine spirituelle Lebenshilfe ohne nähere weltanschauliche Verortung im Sinne einer philosophischen Praxis. Obwohl ihr christliches Profil durchaus fraglich ist (vgl. MD 7/2003, 254ff), wächst in kirchlichen Kreisen das Interesse an Hellingers Methode und man hat immer weniger Scheu, sie anzuwenden – in Häusern der Stille, bei Mitarbeiterfortbildungen und in der seelsorgerlichen Begleitung. Die charismatische Variante „biblisches Stellen“ hat schon 2004 begonnen – dieses Jahr startet ein neuer Kurs: eine zweiwöchige Weiterbildung für 24 „erfahrene Seelsorger mit abgeschlossener Zusatzausbildung“.

2. Beratung und Psychotherapie

1999 wurde unter der Leitung von Gunthard Weber und Jakob Schneider unter dem Namen „Internationale Arbeitsgemeinschaft Systemische Lösungen nach Bert Hellinger – IAG“ ein gemeinnütziger Verein gegründet, dem es besonders um Qualitätssicherung geht. Um den Anforderungen fachlicher Standards zu genügen, wurde für die Aufnahme in diese „IAG Aufsteller-Liste“ eine Reihe von Qualitätskriterien entwickelt. Allerdings hat die IAG nach eigenen Angaben „kein Recht und keine Absicht, allgemeingültige Standards für die Arbeitsweise nach Bert Hellinger festzusetzen oder irgendwelche Kontrolle auszuüben“. Wer mit dem Ansatz Bert Hellingers arbeiten wolle, könne dies jederzeit entsprechend seinen Fähigkeiten und seiner eigenen Verantwortung tun. Immerhin führt die IAG drei verschiedene Listen von Aufstellern mit unterschiedlichen Grundausbildungen: eine Liste Psychotherapie (Ärzte, Psychologen, Heilpraktiker), eine Liste helfender Berufe (Erzieher, Lehrer, Sozialarbeiter) und eine Liste mit anderen Grundberufen. Obwohl die beiden großen Fachverbände für systemische Familientherapie sich in den Jahren 2003 bzw. 2004 in Erklärungen von den Systemaufstellungen à la Hellinger distanziert haben (vgl. MD 1/2005, 27f), geht es dem Verein um fachliche Anerkennung und um den wissenschaftlichen Nachweis, wie das Familienstellen funktioniert. In der professionell gestalteten Zeitschrift „Praxis der Systemaufstellung“ werden solche Bemühungen dokumentiert und Weiterentwicklungen diskutiert – und dies offenbar mit wachsender Resonanz: Im Jahr 2004 wurde die von der IAG herausgegebene Zeitschrift von 3100 Abonnenten bezogen.

Zu akademischen Würden ist das Familienstellen in anderer Hinsicht bereits gelangt: Im Jahr 2006 wird erstmals eine staatlich anerkannte Berufsausbildung mit Diplom- und Doktorabschluss in Familien- und Systemaufstellungen angeboten. Eine „Europäische Akademie für Systemaufstellungen“ mit Sitz in Nettersheim/Eifel wurde dazu von Heinrich Breuer und Wilfried Nelles gegründet. Diese Akademie ist Mitglied der belgischen Jean Monnet-Universität in Brüssel. Nach einem 3- bzw. 4-jährigen Studium, so kündigt die Akademie an, sei ein europaweit gültiges Diplom für Familien- und Systemaufstellungen beziehungsweise der Titel „Docteur en Costellations Familiales et Systemiques“ (Dr. für Familien- und Systemaufstellungen) zu erwerben (www.eurasys.de).

Zweifellos stehen die unterschiedlichen Ausprägungen des Familienstellens mittlerweile in offener Konkurrenz zueinander. Ganz freimütig distanzierte sich kürzlich Gunthard Weber vom Nestor des Verfahrens: „In Deutschland ist die Entwicklung der Aufstellungsarbeit schon ziemlich weit. Meine Vermutung ist daher: Die Bewegung wird bald auch ohne Hellinger weitergehen, seine Bedeutung schwindet“ (Manager Seminare, Heft 88, Juli 2005, 65). Zu Hellingers Konkurrenzzeitschrift mit dem Schwerpunkt Lebenshilfe gefragt, meint Weber: „Gründer treten nicht gerne zurück. Doch Hellinger ist ein achtzigjähriger Mann. (...) Ich könnte mir für ihn besser vorstellen, langsam zu übergeben und in einer guten Weise nach und nach zurückzutreten (...). Insofern verstehe ich den Aufbruch mit seiner neuen Zeitschrift nicht ganz. (...) Zwar ist Hellinger noch eine Leitfigur, aber die Arbeit bekommt eine Eigenständigkeit. Jeder macht heute die Aufstellung auf seine Art, wie sie zu ihm passt.“

Die angesprochene Vielfalt dokumentiert auch die neue Zeitschrift „Systemische Aufstellungspraxis“, die seit zwei Jahren erscheint und praxisorientierte Beiträge vielfältiger Couleur bietet – kürzlich beispielsweise sogar einen ausführlichen Erfahrungsbericht über Familienaufstellungen mit Tieren (!). Die in Oldenburg verlegte Zeitschrift erscheint vierteljährlich mit einer Auflagenhöhe von 3000 Exemplaren (www.aufstellungspraxis.de).

3. Organisationsentwicklung

Immer häufiger werden systemische Aufstellungen nach Hellinger heute auch in der Personal- und Organisationsentwicklung angewandt. Mittlerweile werden also nicht nur Familien, sondern auch Firmen, Organisationen und sogar ganze Nationen „aufgestellt“, um deren Beziehungsdynamik besser zu verstehen und – „im Idealfall“ – klären zu können. Sogar Werte- und Entscheidungskonflikte werden heute „aufgestellt“, um herauszufinden, wo es mehr „Energie“ gibt. Ganz allgemein spricht man in solchen Fällen von „Struktur- oder Systemaufstellungen“. „Eine Methode wird zum Selbstläufer“ – so überschrieb ein auflagenstarkes Manager-Magazin seinen Bericht über den im letzten Jahr stattgefundenen Internationalen Kongress für Systemaufstellungen in Köln (Manager Seminare, Heft 88, Juli 2005, 58-62). Der Artikel stellt die Vielfalt des Kongresses heraus, auf dem 110 Referenten in 135 Workshops dokumentierten, „wie sehr sich die Aufstellungsarbeit etabliert und weiterentwickelt hat“. Der Zweite Internationale Kongress bot Ende April einen Überblick über den „State of the Art“. Die neuartige Beratungsmethode der Systemaufstellungen scheint somit endgültig in den Unternehmen angekommen zu sein. Für die Kongress-Veranstalter steht außer Frage, dass die Wirksamkeit der Methode inzwischen durch genügend Erfahrungen belegt ist: „Systemaufstellungen verschmelzen mit anderen systemischen Vorgehensweisen zu wirkungsvollen Interventionsstrategien. An Hochschulen wird über die Funktionsweise und Wirkung auf die Organisationen geforscht.“ Offenbar wächst die Variante „Organisationsaufstellung (OA)“, also eine Strukturaufstellung in der Organisationsberatung, rasch zu einem blühenden Zweig heran.

Erst die Zukunft wird zeigen, welche der drei Richtungen sich auf Dauer etablieren kann. Hellingers Attitüde des Wissenden und seine Immunisierung gegen Kritik machte seine Methode bisher gefährlich für Anwender, die sie nicht in ein therapeutisches Konzept einbetteten. Nur innerhalb eines solchen Konzeptes kann sie von erfahrenen Therapeuten unter Umständen sinnvoll genutzt werden. Wie man aber etwa das „wissende Feld“ zu diagnostischen Zwecken behutsam und verantwortlich in einem Beratungsgespräch einsetzen kann, darüber wurde bisher zu wenig nachgedacht. Aber nur ein fachlich verantworteter Umgang mit den teilweise überraschenden Einsichten dieses Verfahrens könnte es langfristig als ein hilfreiches alternativtherapeutisches Werkzeug qualifizieren.


Michael Utsch


Neuere Literatur

Werner Haas, Familienstellen – Therapie oder Okkultismus? Heidelberg 2005

Bert Hellinger, Wahrheit in Bewegung, München 2005

Ders., Der große Konflikt: Die Antwort, München 2005

Wilfried Nelles, Die Hellinger-Kontroverse. Fakten – Hintergründe – Klarstellungen, Freiburg 2005

Ders., Heinrich Breuer (Hg.), Der Baum trägt reiche Frucht. Dimensionen und Weiterentwicklungen des Familienstellens, Heidelberg 2006

Jakob Robert Schneider, Das Familienstellen. Grundlagen und Vorgehensweisen, Heidelberg 2006

Elisabeth Reuter, Gehirn-Wäsche. Macht und Willkür in der systemischen Psychotherapie nach Bert Hellinger, Berlin 2005

Gunthard Weber, Gunther Schmidt, Fritz B. Simon, Aufstellungsarbeit revisited ... nach Hellinger? Mit einem Metakommentar von Varga von Kibed, Heidelberg 2005

Hellinger im Internet

www.iag-systemische-loesungen.de  – Portal der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Systemaufstellungen, der Deutschen Gesellschaft für Systemische Lösungen und der Zeitschrift „Praxis der Systemaufstellung“

www.hellinger.com – Angebote des virtuellen Hellinger-Instituts, internationale Seminare und Links

www.hellingerschule.de – Seminar- und Weiterbildungsangebote von Marie Sophie und Bert Hellingers „Lebensschule“

www.hellinger-international.com – Bert Hellingers eigene Seite mit Terminen, Buchhinweisen und der von ihm herausgegebenen „HellingerZeitschrift“ (14 Seiten), ab 2005 mit dem Schwerpunkt Lebenshilfe

www.hellinger-familienstellen.de – Maria Sophie Hellingers eigene Seite

www.infosyon.de – Portal zu Organisationsaufstellungen

www.eurasys.de – Europäische Akademie für Systemaufstellungen