Zahlreiche Bezirkskongresse - zahlreiche Konflikte
(Letzter Bericht: 2/2015, 67)Wie jedes Jahr laden Jehovas Zeugen auch in diesem Sommer zu ihren dreitägigen, simultan übersetzten Kongressen ein. Die diesjährigen Großversammlungen, neuerdings auch „Bibelkongresse“ genannt, stehen unter dem Motto: „Ahmt Jesus nach!“ Bereits im Mai 2015 startete der Kongress-Marathon in elf amerikanischen Städten. Die Wachtturm-Gesellschaft, die ihr Logo jw.org im Jahr 2013 markenrechtlich schützen ließ und damit an der Fassade aller Königreichssäle auf ihre hoch professionelle Internetpräsenz verweist, beeindruckt erneut mit einer weltumspannenden Kampagne: Bis Januar 2016 wird die Organisation rund 5000 inhaltsgleiche Kongresse in 92 Ländern durchgeführt haben! Wie immer wurde das Programm von der leitenden Körperschaft zusammengestellt und in 347 Sprachen übersetzt, darunter 55 Gebärdensprachen. Im deutschsprachigen Europa werden ab dem 3. Juli in Deutschland, Liechtenstein, Luxemburg, Österreich und der Schweiz bis zum 16. August insgesamt 63 Kongresse stattfinden, unter anderem im Berliner Velodrom, im Nürnberger Grundig-Stadion, in der TUI-Arena in Hannover, der O2-World in Hamburg, der Stuttgarter Hanns-Martin-Schleyer-Halle – und fünfmal hintereinander im Kongresssaal im sächsischen Glauchau.
Das minutiös geplante Programm findet jeden Tag von 9.20 Uhr bis 16.55 Uhr statt. Als Höhepunkt wird ein Bühnenstück bedeutsame Ereignisse im Leben Jesu darstellen. Interviews und anschauliche Demonstrationen wollen zeigen, wie man Jesus im Alltag nachahmen soll. Der Eintritt ist wie immer frei. Offiziell werden keine Sammlungen durchgeführt. Im Programmheft wird jedoch auf die beträchtlichen Kosten der Kongresse hingewiesen. Die Mitglieder werden angehalten, freiwillig zu spenden und damit die Kosten zu decken und „das weltweite Werk zu unterstützen“. Auf dem Kongressgelände werden dazu deutlich gekennzeichnete Spendenkästen und sogar Kartenlesegeräte für bargeldlose Spenden bereitgehalten.
Weitere Höhepunkte der Veranstaltungen sind die Massentaufen an Samstagen und die Anerkennung der jährlichen Resolution, die von der Wachtturm-Gesellschaft vorbereitet wird. Mit der Resolution können Veränderungsprozesse gesteuert und Impulse gesetzt werden. Sie wird jeweils am letzten Kongresstag verlesen und soll von den Teilnehmern mit einem lauten Ja angenommen werden. Das soll das Gemeinschaftsgefühl stärken und helfen, den Herausforderungen durch die „böse Welt“ standzuhalten.
Der Programmablauf und die Themen machen deutlich, dass diese Kongresse keine Missionsveranstaltung sind, sondern der Selbstvergewisserung der Mitglieder dienen. Die Motivation der Zeugen Jehovas zu anhaltender Ausdauer im „Predigtdienst“ und zu unverminderter Hingabe an die Organisation soll gestärkt werden. Dass dies gelingt, dafür werden das intensive Gemeinschaftserleben und die Gruppendynamik von Zehntausenden Gleichgesinnten wie jedes Jahr sorgen.
Auf der anderen Seite produziert die soziale Isolation und Ächtung von ehemaligen Mitgliedern der Gemeinschaft massive Konflikte, die man hinter der Fassade freundlich lächelnder „Verkünder“ nicht vermuten würde. Neue Aussteigerberichte wollen die Öffentlichkeit über das erhebliche Konfliktpotenzial dieser Gemeinschaft informieren (vgl. MD 1/2015, 30f). Eine große Umfrage unter ehemaligen Mitgliedern weist nach: Die Ächtungspolitik von Jehovas Zeugen zerstört Familien und führt zu schwerer familiärer Zerrüttung.
Im Mai 2015 führte ein bekannter Aussteiger, Misha Anouk („Goodbye, Jehova!“, Reinbek 2014), der auch die kritische Internetseite taze.co verantwortet, eine Online-Befragung von 1055 ehemaligen Mitgliedern und Mitgliedern der Zeugen Jehovas aus Großbritannien, Australien, den USA, Kanada und Deutschland durch (http://taze.co/2015/06/15/jehovahs-witnesses-shunning-family-survey). Mit einem Online-Fragebogen wurde nach den Folgen der Strategie der systematischen „Ächtung“ von Ex-Mitgliedern gefragt. Ein deutliches Ergebnis belegt: Zwei Drittel der Befragten gaben an, dass ihr Familienleben durch Jehovas Zeugen zerstört worden sei. Ein weiteres Drittel hat eine Verkomplizierung der familiären Kontakte festgestellt. Die Studie weist allerdings auch darauf hin, dass sich nur 53 Prozent der Befragten an das absolute Kontaktverbot der Organisation halten. 5 Prozent würden regelmäßig, aber selten Kontakt aufnehmen, 17 Prozent der Befragten, falls es nötig sei.
Ächtung stellt eine extreme Form des Ausschlusses dar, der offiziell „Gemeinschaftsentzug“ genannt wird. Sie betrifft Mitglieder, die eine „schwere Missetat“ im Sinne der Lehre von Jehovas Zeugen begangen haben und diese nicht bereuen. Dazu zählen etwa vorehelicher Sex, das Hinterfragen der Lehre oder der Austrittswunsch aus der Organisation. In dem allein den Ältesten zugedachten Leitungs-Handbuch „Hütet die Herde Gottes“ (Selters 2010) sind die zunehmend härter ausfallenden Disziplinierungsmaßnahmen detailliert beschrieben. Es geht zunächst darum, einen „Missetäter“ zu identifizieren, um die Versammlung vor dem Bösen zu bewahren. Älteste werden zu unverzüglichem Handeln aufgefordert; sie sollen ein Mitglied zurechtweisen, weil sonst der „Zustrom des heiligen Geistes Jehovas in die Versammlung behindert“ werde (58). Wenn getaufte Verkündiger keine Einsicht oder Reue zeigen, soll ein „Rechtskomitee“ gebildet (58ff) und eine „Rechtskomiteeverhandlung“ (89ff) durchgeführt werden. Zu dieser Verhandlung werden nur Zeugen zugelassen, die eine sachdienliche Aussage zur Missetat machen können. Aufnahmegeräte sind nicht erlaubt. Eine zentrale Aufgabe des Komitees besteht in der Feststellung, ob beim Missetäter echte Reue vorliegt und ob die gezeigte Reue der Schwere der Tat entspricht. Dazu werden im Ältesten-Handbuch Merkmale echter Reue durch Fallbeispiele detailliert beschrieben (91ff). Bereut das Mitglied seine Tat, wird ihm eine „Zurechtweisung“ erteilt, die mit großen Einschränkungen bei den Dienstzusammenkünften verbunden ist. Die örtliche Versammlung wird darüber in einer Bekanntmachung informiert: „Bruder (Schwester) … ist zurechtgewiesen worden.“ Das Rechtskomitee wird in zukünftigen Sitzungen entscheiden, ab wann der reuige Missetäter in geistiger Hinsicht Fortschritte macht und ab wann die Einschränkungen nach und nach aufgehoben werden können. „Wenn keine echte Reue zu erkennen ist, wird der Missetäter ausgeschlossen“ (100). Die Versammlung wird von einem Ältesten in einer Bekanntmachung informiert: „… ist kein Zeuge Jehovas mehr.“ Ab diesem Zeitpunkt ist der Gemeinschaftsentzug wirksam. Das Rechtskomitee hat dem „Zweigbüro“, also der Länderfiliale der in New York ansässigen Wachtturm-Gesellschaft, den Gemeinschaftsentzug unverzüglich mitzuteilen. Das hat zur Folge, dass alle Mitglieder der Gemeinschaft, auch engste Familienangehörige und Freunde, jeden Kontakt zur ausgeschlossenen Person abbrechen müssen.
Die Wachtturm-Gesellschaft hält an dem überaus schmerzlichen Gemeinschaftsentzug fest, wie die Wachtturm-Studienausgabe vom April 2015 belegt: „Familienmitglieder können ihre Liebe zur Versammlung und zum Missetäter zeigen, wenn sie den Gemeinschaftsentzug respektieren. Alle in der Versammlung können grundsatztreue Liebe zum Ausdruck bringen, indem sie sich weder mit dem Ausgeschlossenen unterhalten noch mit ihm Umgang haben (1. Kor. 5:11; 2. Joh. 10, 11). Dadurch unterstützen sie die Zuchtmaßnahme, die eigentlich von Jehova kommt.“ Wie zynisch, die unnatürliche soziale Isolation von engsten Familienangehörigen als Ausdruck von Liebe umzudeuten! Und wie verwirrend und belastend sich solche Familienverhältnisse auf die Angehörigen auswirken, darüber berichten zunehmend mehr psychologische Beratungsstellen.
Michael Utsch