Zentralrat der Muslime (ZMD) veröffentlicht Islamische Charta
(Letzter Bericht: 3/2002, 83ff und 91f). Als ein wichtiges Votum in die aufgeheizte Debatte nach dem 11. September 2001 hinein verabschiedete der Zentralrat am 3. Februar 2002 einstimmig seine "Islamische Charta" www.islam.de/?site=sonstiges/events/charta) und gab sie am 20. Februar 2002 an die Öffentlichkeit.
Für Beobachter am interessantesten sind von den insgesamt 21 Abschnitten die Abschnitte 10 bis 13, in denen herausgestellt wird, dass Muslime in aller Welt sich nach islamischem Recht jeweils an die lokal gültige Rechtsordnung zu halten haben (10). Abschnitt 11 spricht ein eindeutiges Ja zum Grundgesetz einschließlich des Rechtes auf Wechsel der Religion - ein wichtiges Wort, auf das so mancher skeptische Kritiker gewartet hatte. Abschnitt 12 grenzt sich deutlich von islamistischen Strömungen ab, indem einem "klerikalen ‚Gottesstaat'" eine klare Absage erteilt wird. Begrüßt wird das "System der Bundesrepublik Deutschland", in dem Staat und Religion harmonisch aufeinander bezogen seien. Der deutsche Zustand, der ja in der Tat keine Trennung von Staat und Religion im engeren Sinne darstellt, wird hier sicherlich korrekt charakterisiert. Auch zu der "westlichen Menschenrechts erklärung" (gemeint sein dürfte die UN-Menschenrechtscharta, der ironische Unterton ist nicht zu überhören) gebe es vom Menschenrechtsverständnis des Koran keinen Widerspruch. In Abschnitt 14 wird einerseits die europäische Kultur auf ihrem spezifischen Hintergrund bejaht und auch auf den Beitrag der islamischen Philosophie und Zivilisation zur hiesigen Kultur hingewiesen. Wenn in Abschnitt 15 das Vernunftgebot des Koran erwähnt wird und ein "zeitgenössisches Verständnis der islamischen Quellen" gefordert wird, "welches dem Hintergrund der neuzeitlichen Lebensproblematik und der Herausbildung einer eigenen muslimischen Identität in Europa Rechnung trägt", so kann man dies auch als vorsichtige Bejahung eines hermeneutisch vielschichtigen und aufgeschlossenen Umgangs mit dem Koran und der Sunna lesen. Exegetische Experimente am Koran (Mohammed-biographische, historische, philologische Lesarten) hat es bereits in der islamischen Welt gegeben, aber eine deutliche öffentliche Förderung kritischer Methoden ist nach wie vor ein Desiderat.
Der Zentralrat betont schließlich ausdrücklich seine Verantwortung, sich gemeinsam mit anderen gesellschaftlichen Gruppen an der Gestaltung der Gesamtgesellschaft zu beteiligen (Umwelt, Integration der Minderheiten, Tierschutz, Einsatz gegen Fremdenfeindlichkeit, Sexismus, Gewalt u.a.). Zugleich stellt Abschnitt 20 noch einmal die Themen zusammen, denen der Zentralrat sich als dezidiert islamische Interessenvertretung verpflichtet weiß. In den Abschnitten 1 bis 9 werden die zentralen Bestandteile des islamischen Glaubens als Grundlage der Charta aufgeführt.
Diese Erklärung sollte mehr als willkommen sein in einer Zeit, in der so manche Interviewäußerung des ZMD-Vorsitzenden Nadeem Elyas skeptische Stimmen auf den Plan gerufen hatte. Sie ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg des Islam in die westliche Gesellschaft hinein. Erfreulich wäre, wenn auch der umstrittene Islamrat sich zu einer Erklärung dieser Art durchringen könnte. Nachdem es in der letzten Zeit mehrfache Annäherungsversuche des Islamrats an den Zentralrat mit Blick auf einen Zusammenschluss gab, kann die Islamische Charta vielleicht auch als strategischer Schritt zur Klärung der "Bedingungen" betrachtet werden.
Ulrich Dehn