Zivilreligion
Das Konzept der Zivilreligion findet in unterschiedlichen Kontexten Anwendung (z. B. Kopftuchdebatte und Kruzifixurteil) und wird wissenschaftlich je spezifisch interpretiert. Es gibt z. B. theologische (Rolf Schieder), staatwissenschaftlich-philosophische (Jean-Jacques Rousseau, Hans Vorländer, Hermann Lübbe), soziologische (Robert N. Bellah, Niklas Luhmann) und auch religionswissenschaftliche (Thomas Hase) Ausdeutungen von Zivilreligion. Gemeinhin liegt der Fokus auf dem Zusammenwirken von Religion und Politik, hin auf die integrierende, gemeinschaftsstiftende und moralische Funktion von Zivilreligion in religiös pluralistischen und multiethnischen Gesellschaften.
Ursprünge des Konstrukts Zivilreligion
Der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) war der Überzeugung, dass der Mensch nicht von sich aus sozial handle, sondern Gesellschaften von Neid, Missgunst und Konkurrenz bestimmt seien, deren Ursache Privatbesitz sei. Er fragte sich, wie unter solchen Voraussetzungen moralisches kollektives Handeln möglich sein kann, und kam zum Schluss, dass dies nur durch Erziehung unter einer entsprechenden politischen Verfassung erreicht werden kann. Die staatsbürgerliche Erziehung müsse sodann die freiwillige Unterordnung des Einzelnen unter die Staatsgewalt zur Sicherung des gesellschaftlichen Zusammenlebens zum Ziel haben. Das Individuum müsse folglich zum Bürger (citoyen) werden. Rousseau entwickelte in seinem Gesellschaftsvertrag als erster die Idee einer – für alle verbindlichen – Religion des Staatsbürgers (religion civile), die den religionsneutralen Staat religiös überhöhe, jedoch von der individuellen Religion des Menschen zu unterscheiden sei. Die Zivilreligion mit ihren wenigen und einfachen Lehrsätzen führe dazu, dass sich der Einzelne zu den Pflichten und Regeln der Staatsbürgerschaft bekennt und sie moralisch verinnerlicht. Rousseaus Zivilreligion bezieht sich auf eine weise, allmächtige, wohltätige und zugleich unbestimmte Gottheit, die die Gerechten belohnt und die Gottlosen bestraft. Diese Zivilreligion sakralisiert den Gesellschaftsvertrag, aber duldet andere Religionen und „Kulte“ (Gesellschaftsvertrag, 4. Buch, Kapitel 8).
Der amerikanische Soziologie Robert N. Bellah (1927 – 2013) griff diese Ideen für seine Beschreibung der „Civil Religion in America“ im Wesentlichen auf. Seit Bellahs gleichnamigem Aufsatz aus dem Jahr 1967 gelten die USA als das Muster für Zivilreligion schlechthin. Daher wird das Konzept der Zivilreligion an der amerikanischen exemplifiziert dargestellt. Von diesem Stereotyp sind Ausprägungen in anderen Zivilgesellschaften ableitbar.
Geschichte der amerikanischen Zivilreligion
Die Ursprünge der amerikanischen Zivilreligion sind auf verschiedenen Entwicklungslinien zu finden: Neben den Ideen der europäischen Aufklärung gelten die Trennung von Kirche und Staat (festgeschrieben in der Bill of Rights von 1791, zuvor in der Virginia Declaration of Rights von 1776) sowie die durch Einwanderung bedingte religiöse Vielfalt und das protestantische Erbe als zivilreligiöser Nährboden. Die Trennung von Kirche und Staat bedeutet hier jedoch nicht, dass Religion nicht Teil der öffentlichen Semantik sein kann oder Religionsgemeinschaften sich nicht staatlich loyal zeigen (Beispiel: Flaggen in Kirchen).
Auch Bellah beschreibt die Funktion der Zivilreligion in der Aufrechterhaltung der politischen Ordnung und der Stabilisierung einer Gesellschaft, deren Mitglieder ganz vielfältigen ethnischen und religiösen Kontexten entstammten. Zivilreligion ist hier das Vehikel für die Erschaffung eines nationalen Selbstverständnisses und von handlungsleitenden Maximen, die sich möglichst alle Bürger aneignen. Erreicht wird die Herstellung von Gemeinsinn und Wertegemeinschaft durch öffentliche Rhetorik, historische Texte, nationale Riten und Symbole und die Bezugnahme auf eine transzendente Ordnung, die als moralische Instanz letztlich über das Handeln der USA als Nation urteile.
Dabei werden bekannte Motive der jüdisch-christlichen Tradition, der US-amerikanischen Geschichte sowie als typisch geltende amerikanische Werte in die Rhetorik und Symbolwelt integriert. Wesentliche Elemente des „Mythos Amerika“ entstammen dem jüdisch-christlichen Kontext und finden sich in der Gründungslegende der Neuenglandstaaten (Pilgerväter) und der Besiedlungsgeschichte (wilderness & frontier) begründet, die von biblischen Bildern des Exodus, des gelobten Landes und der Idee göttlicher Auserwählung getragen werden. Diese Topoi sind eng mit der Religionsgeschichte der ersten Siedler verknüpft. Diese hatten die Vorstellung eines neuen Jerusalems, das sui generis eine Infragestellung der weltlichen Herrschaft darstellt und einen gesellschaftlichen Gegenentwurf beinhaltet. Die soziale Ordnung müsse einer göttlichen Autorität unterworfen sein. Herrschaft sei ein von Gott gegebenes Amt, sodass Amtshandlungen ebenfalls der göttlichen Ordnung unterliegen müssen. Daraus lässt sich schließen, dass die ideale amerikanische Nation, als Neues Jerusalem imaginiert, einer Sozialutopie entspricht. Die in ihrer Heimat oftmals religiös verfolgten Siedler verstanden sich selbst als Kinder Gottes und religiöse Elite. Dieser Gedanke der Auserwählung und zugleich Vorsehung schrieb sich fest in das kulturelle Gedächtnis der Amerikaner ein und prägt bis heute das Selbstverständnis. Nach dem Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (1775 – 1783) gelangten die Elemente Demokratie, (Glaubens-)Freiheit, Gleichheit, Recht auf Selbstbestimmung und Streben nach Glück in die Zivilreligion – manifestiert in der Unabhängigkeitserklärung (1786) und der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika (1789). Durch den Amerikanischen Bürgerkrieg (1861 – 1865) wurden Opfertod und nationale Wiedergeburt, aber auch ziviler Ungehorsam als Topoi ergänzt. Von der puritanisch-pietistisch geformten Religionsgeschichte der USA und dem damit verbundenen Auftrag, den Willen Gottes auf Erden auszuführen, über das (postmillenaristische) Erbe der Social-Gospel-Bewegung im 19. Jahrhundert rühren eine heilsgeschichtliche Verantwortung her und ein zivilreligiöses Sendungsbewusstsein für die USA und die ganze Welt (vgl. Mt 13,31f), das die Utopie einer gerechten Weltordnung zum Inhalt hat.
Merkmale von Zivilreligion am Beispiel der USA
In ihrer heutigen Ausgestaltung trägt Zivilreligion in den USA (und anderen Nationen) vornehmlich die folgenden Elemente, deren Inhalte variieren können und die (zumindest in Teilen) auch in anderen nationalen und religiösen Kontexten vorfindbar sind:
• Staatliche Konfessionsneutralität und einen religionsneutralen Gottesbezug. Zugleich werden Metaphern aus religiösen Kontexten entnommen. So findet sich in den USA der Glaube an einen besonderen Bund mit Gott, der der USA eine besondere Mission zugedacht hat und ihr Schutz gewährt, sie aber auch nach ihren moralischen Prinzipien richten wird.
• Ein zivilreligiöses Weltbild, das auf dem Mythos eines vergangenen und der Utopie eines zukünftigen Amerika aufbaut und die nationale Geschichte in einen transzendenten Rahmen stellt. Zum Mythos gehören Werte wie Demokratie, Gleichheit, (Glaubens-)Freiheit, das Streben nach Glück und nationale Solidarität. Dieses Weltbild beinhaltet ein zivilreligiöses Werte- und Orientierungssystem als Senkblei für gesellschaftliches und politisches Handeln.
• Zivilreligiöse Symbole (z. B. amerikanische Flagge, Unabhängigkeitserklärung, Freiheitsstatue, Washington Memorial), die die nationale Einheit und Integration befördern, indem sie sie explizit ausdrücken.
• Zivilreligiöse Helden (z. B. Washington, Lincoln, Kennedy, King), die als nationale Identifikationsfiguren und Symbole dienen und deren Leben und politisches Handeln als vorbildhaft gelten. Sie verkörpern zugleich die amerikanischen Tugenden.
• Zivilreligiöse Riten (z. B. morgendlicher Fahnenappell mit Treueschwur – Pledge of Allegiance – in Schulen, Feierlichkeiten am Unabhängigkeitstag, an Thanksgiving, bei Amtseinführungen von Präsidenten), bei denen der amerikanische Weg und die Werte beschworen werden und die amerikanische Nation überhöht wird. Häufig sind Vertreter unterschiedlicher Religionsgemeinschaften eingebunden.
• Zivilreligiöses Expertentum, dem der amerikanische Präsident als oberster Interpret und Akteur vorsteht, dessen Amt zugleich zivilreligiös durch entsprechende Riten legitimiert wird. Hinzu stellen sich Interpreten und Propheten der Zivilreligion. Letztere üben Kritik an den bestehenden Verhältnissen und mahnen zur nationalen Einheit durch Beschwörung der nationalen Werte.
• Eine zivilreligiöse Trägerschaft, die potenziell mit allen Staatsbürgern zusammenfällt und die affektiv an amerikanische Werte und die Vorstellung eines idealen Amerika gebunden ist.
Zivilreligion steht dabei nicht in Konkurrenz zu positiven Religionen, sondern ist auf diese nicht zuletzt im Verweis auf Moralvorstellungen angewiesen. Sie verfügt über keine eigene Institution und wird vor allem in Intensivphasen (z. B. Krisenzeiten wie 9/11) sichtbar. Hier findet dann temporär eine Symbolverdichtung statt, d. h. häufige und intensive Verwendung zivilreligiöser Rhetorik, Symbole und Riten. Mittels der Zivilreligion wird ein Modell von einer Idealgemeinschaft artikuliert, an dem schließlich die Realität gemessen wird. Daraus ergibt sich eine kritisch-prophetische Funktion zur Bewertung der aktuellen Politik und gesellschaftlichen Lage. Ihre soziale Funktion liegt in der Integration sowie affektiven und normativen Bindung der Bürger an die Nation. Zivilreligion wirkt sinn- und identitätsstiftend sowie gemeinschaftsbildend in einem multinationalen und multireligiösen Staat. Zivilreligion wird zudem zur Legitimation der politischen Ordnung und zur Durchsetzung politischer Ziele eingesetzt. In dieser Hinsicht ist sie jedoch von Politischen Religionen zu scheiden, die in totalitären Regimen zur Mobilisierung der Massen missbraucht werden. Im Gegensatz zu den oft sehr konkreten religiösen und zugleich exklusiven Vorstellungen Politischer Religionen totalitärer Staaten bleibt Zivilreligion offen für Ausdeutungen und inklusiv. Allerdings sind die Übergänge mitunter fließend.
Entwicklungen in den USA
Während sich die sichtbaren Ausprägungen zivilreligiöser Symbole und ritualisierter Praktiken in den letzten Jahrzehnten gemeinhin als relativ stabil erwiesen haben, ist das Ideal von Amerika unterschiedlich interpretiert worden. Proaktive Kräfte versuchen den gesellschaftlichen Wandel in einer globalisierten Welt aktiv zu gestalten. Hier wird eine neue Weltzivilreligion mit missionarischem Impetus modelliert und eine Weltrepublik mit einem Auftrag für Demokratisierung und Liberalisierung und mit sozialer (staatlicher) Verantwortung für Mensch und Schöpfung entworfen. Das eigene, idealisierte Gesellschaftsmodell, das einen lebensweltlichen Pluralismus positiv bewertet, soll ungeachtet nationaler Unterschiede auf die ganze Welt übertragen werden. Reaktionäre Positionen vertreten meist ein neoliberales Wirtschaftsmodell, betonen konservative Werte und konzentrieren sich auf eine national begrenzte Zivilreligion, die ein exklusives, nationalistisch gefärbtes und christlich-fundamentalistisch geprägtes Gesellschaftsideal der USA vertritt. Während bei Ersteren die Bundgemeinschaft mit Gott über die Nation hinausgeht, werden bei Letzteren die Grenzen enger gezogen und sind allein die Staatsbürger der USA inkludiert. Eine Transformation ist auch in der Ausdeutung des Auserwähltheitsanspruchs und des Bewährungsgedankens zu beobachten. Während in früheren zivilreligiösen Äußerungen das „auswählte Volk“ um den göttlichen Segen bitten und sich vor Gott bewähren musste, zeigt sich derzeit eine Verschiebung hin zu einer (absoluten) Heilsgewissheit ohne Pflicht zur Bewährung und damit in Quintessenz losgelöst von jedweder moralischen Verpflichtung gegenüber einer göttlichen Entität. Beide (hier zugespitzte) Richtungen kämpfen um die Deutungshoheit von Zivilreligion und rufen wiederum zivilreligiöse Propheten auf den Plan.
Zivilreligion in Deutschland
Die Debatten um und kritische Auseinandersetzung mit Zivilreligion als solcher und explizit in Deutschland sind nicht abgeschlossen. Die evangelische und die katholische Kirche sind zwar keine Staatsreligionen, jedoch regeln das Staatskirchenrecht und die Staatskirchenverträge nicht allein die Trennung, sondern auch die Zusammenarbeit von Kirche und Staat. Es wurde in der Weimarer Republik der Zustand einer sogenannten hinkenden Trennung hergestellt, der bis heute Bestand hat. Damit sind neben den historischen bereits die rechtlichen Voraussetzungen andere als diejenigen in den USA. Aufgrund dieser Verflechtung von Kirche und Staat treten die Kirchen bereits als Akteure im zivilreligiösen Diskurs auf.
Ein weiterer Unterschied liegt in der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands. Die Schrecken des Zweiten Weltkrieges und die Schuld an der Shoa wirkten sich lange traumatisierend auf ein öffentlich artikuliertes nationales Selbstverständnis in Deutschland aus und erschweren eine positiv besetzte nationale Identitätsbildung. Eine andere Situation zeigte sich in der DDR, wo – durch die sowjetische Besatzungsmacht vorgegeben – sozialistische Rhetorik und Riten entstanden, die durchaus mit den zivilreligiösen Elementen in den USA vergleichbar waren. Dennoch sind Elemente von Zivilreligion auch in der Bundesrepublik Deutschland greifbar, die einen Gottesbezug in der Präambel des Grundgesetztes genauso wie nationale Helden (z. B. Martin Luther) und gemeinschaftliche Riten (z. B. in überkonfessionellen Gedenkgottesdiensten nach tragischen Unfällen oder Terroranschlägen) kennt. Auch der Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ vertritt einen absoluten Wahrheitsanspruch, der aus den Erfahrungen der Shoa erwuchs. Die Erinnerungskultur an die Shoa weist mit den Topoi von Gewalt, Opfer und Sühne und einem anschließenden Nie-Wieder ebenso in Richtung Zivilreligion. Dennoch trifft die Vergleichbarkeit der integrierenden Kraft und Normen- und Werteorientierung der US-amerikanischen Zivilreligion mit einer vermeintlich deutschen Ausprägung auf ihre Grenzen.
Das Erscheinungsbild von Zivilreligion ist stark von den aktuellen gesellschaftlichen, kulturellen und historischen Gegebenheiten abhängig. Es bleibt daher weiterhin zu beobachten, inwieweit sich eine globale Zivilreligion etabliert, die Menschenrechte, Frieden, (Religions-)Freiheit, Demokratie, aber auch die Bewahrung der Schöpfung zum inhaltlichen Kern hat, und inwieweit sich die christlichen Kirchen als moralischer Grund und Träger einer solchen globalen Zivilreligion etablieren.
Quellen
Robert N. Bellah: Civil Religion in America, in: Daedalus. Journal of the American Academy of Arts and Sciences 96 (1967), Boston, Massachusetts, 1-21.
Heike Bungert / Jana Weiß (Hg.): „God Bless America“ – Zivilreligion in den USA im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2017.
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David A. Frank: Obama‘s Rhetorical Signature: Cosmopolitan Civil Religion in the Presidential Inaugural Address, January 20, 2009, in: Rhetoric & Public Affairs 14/4 (2011), 605-630.
Philip Gorski: American Covenant – A History of Civil Religion from the Puritans to the Present, Princeton / Oxford 2017.
Thomas Hase: Zivilreligion – Religionswissenschaftliche Überlegungen zu einem theoretischen Konzept am Beispiel der USA, Würzburg 2001.
Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, Stuttgart 2011.
Rolf Schieder: Was ist Zivilreligion und wer braucht sie?, in: MD 5/2004, 163-168.
Thomas Schmidt: Vom Bürger zum Werktätigen: Die arbeiterliche Zivilreligion in der DDR, in: Christel Gärtner / Detlef Pollak / Monika Wohlrab-Sahr (Hg.): Atheismus und religiöse Indifferenz, Opladen 2003, 315-336.
Wolfgang Vögele: Zivilreligion, Katastrophen und Kirchen, EZW-Texte 189, Berlin 2007.
Jeannine Kunert