Zum Schächtungsurteil des Bundesverfassungsgerichts
Am 23. Februar 2002 fand das diesjährige Opferfest der Muslime in aller Welt seinen Höhepunkt im gemeinsamen Festmahl, gefeiert in Familien, in Moscheen - mit Fleisch von Tieren, die nach dem im Islam vorgeschriebenen Schächtungsritus geschlachtet werden. Hierzu war am 15. Januar ein Urteil des BVG (1 BvR 1783/99) ergangen, mit dem dies einer Klage des türkischstämmigen Metzgers Rüstem Altinküpe aus Aßlar (Hessen) stattgab. Altinküpe hatte seit 1995 aufgrund eines Bundesverwaltungsgerichtsurteils keine Sondergenehmigung mehr zum rituellen Schlachten erhalten. Er hat nunmehr wieder das Recht, gemäß § 4a Tierschutzgesetz (TierSchG) Absatz 2 Nr. 2 Ausnahmegenehmigungen zum Schächten zu erhalten, die im Falle von religiösen Gründen erteilt werden können, während betäubungsloses Schlachten grundsätzlich im § 4a TierSchG Absatz 1 verboten wird. Ausnahmegenehmigungen dieser Art werden jüdischen Metzgern im Rahmen ihrer Speisevorschriften für koscheres Fleisch in Deutschland seit langem erteilt. Gegenüber den Muslimen, die im Wesentlichen die gleichen Speisevorschriften einschließlich des Schächtungsrituals befolgen, wurde 1995 vom Bundesverwaltungsgericht argumentiert, der Verzehr geschächteten Fleisches sei im Islam nicht zwingend vorgeschrieben. Diese Ansicht wurde seinerzeit vermeintlich durch eine Stellungnahme der al-Azhar-Universität in Kairo (gegenüber der dortigen dt. Botschaft) von 1982 gestützt, nach der Muslimen grundsätzlich auch der Verzehr des Fleisches nicht geschächteter Tiere gestattet sei. Dieses Zugeständnis bezieht sich nach Ansicht von Fachleuten jedoch nur auf Notsituationen, die laut Zentralrat der Muslime in Deutschland nicht gegeben seien (z. B. Betäubung von Kamelen, die vor der Schlachtung anders nicht zu bändigen seien). Das BVG hat großen Wert auf die Erhaltung der Berufsfreiheit des Metzgers Altinküpe gelegt, der in seiner Existenzgrundlage bedroht sei, sofern ihm das Schächten nicht wieder gestattet werde, ferner auf die grundgesetzlich verbürgte Freiheit der religiösen Ausübung und - in Anbetracht der Verbindlichkeit der Speisevorschriften für die Muslime wie für die Juden - auf die Gleichbehandlung mit der jüdischen Gemeinschaft.
Die Schächtungspraxis der Muslime ist weithin von den Juden übernommen worden, die dies hebräisch Schechita nennen - daher das Wort "Schächten". Die muslimische Tradition bezieht sich hauptsächlich auf Sure 2,173 und vor allem 5,3, wo Schächten geboten wird. Es geht darum, das möglichst mit dem Kopf nach unten abschüssig liegende oder hängende Schlachttier (Schaf, Huhn, seltener Rind v.a.) ohne vorherige Betäubung mit einem sorgfältig vorbereiteten und besonders geschärften Messer mit einem einzigen sauberen und schnellen Schwungschnitt durch die Kehle zu töten und es vollständig ausbluten zu lassen, da der Verzehr von Blut nicht erlaubt ist. Eine Betäubung, die meist durch Bolzenschuss oder Elektroschock herbeigeführt wird, ermögliche, so die Muslime (und Juden), keine vollständige Entblutung - und führe oft bereits zum Tode. Der Schächtungsvorgang beinhaltet ferner eine "Liturgie" mit Segnungsformeln etc., die auch über dem Messer gesprochen werden: "Verboten hat er … das, worüber ein anderer als Gott ausgerufen worden ist" (2,173). Diese Art der rituellen Schlachtung bedarf einer Sonderausbildung und der Vetärinär-Kontrolle, wie auch jede nach dem erlaubten Standard ausgeführte Schlachtung. Dies soll durch die erforderliche Sondergenehmigung gewährleistet werden. Da allemal im "rechtsfreien Raum" private Schächtungen in Wohnungen mit unzureichenden Instrumenten und unter hygienisch zweifelhaften Umständen stattfinden, ging es in dem Karlsruher Urteil auch darum, das ohnehin Geschehende öffentlich kontrollierbar zu machen. Darüber, wie "human" und schmerzarm Schächtung bzw. Betäubungsschlachtung im Vergleich zueinander sind, gehen die Meinungen weit auseinander: Der Tierschutzbund zeichnet scharfe Kontraste und meint bei Unterlassen der Betäubung eine lange Leidenszeit der Tiere vermuten zu müssen, während sich am anderen Ende der Palette die Meinung findet, dass die schächtende Schlachtungspraxis sogar die "humanere" sei. Diverse Versuche u. a. hessischer Tierschützer, Muslimen betäubungseinschließende Schlachtvorgänge zu empfehlen, die trotzdem ein vollständiges Ausbluten ermöglichen, sind von den Muslimen nicht akzeptiert worden. Auch im Falle der vorgeschriebenen Betäubungsschlachtung scheinen gesetzliche Vorschriften und die Ideale der Tierschützer einerseits und die Realität in manchen Schlachthöfen andererseits auseinander zu klaffen, zumal auch Betäubungsvorgänge keineswegs Schmerzfreiheit bedeuten müssen. Hinweise auf die Probleme und auf die verlängerte Leidensphase bei der rituellen Schlachtung von Rindern verfehlen die überwiegende Realität der Muslime, die in der Regel Schafe oder Geflügel vorziehen. Stellungnahmen aus der islamischen Welt sind mitunter mehrdeutig, wie schon das besagte Votum der al-Azhar-Universität. Auch ist die Einschätzung des Betäubungsvorgangs nicht einheitlich. Stellungnahmen zum Beispiel der türkischen Botschaft in Bonn (im Namen des Islam!) an die A.G. Deutscher Tierschutz von 1981/1982 lassen die Betäubung ausdrücklich zu - Muslime, zumal nicht-türkische, würden dieser Instanz allerdings die Repräsentation des Islam wohl kaum zugestehen.
Die "nette" Form des Schlachtens ist, so der Berliner Rabbiner Walter Rothschild, sicherlich noch nicht erfunden. Sofern es bei dem Karlsruher Urteil ja nicht um die flächendeckende Legalisierung der Schächtung geht, die die Aufhebung des Tierschutzgesetzes bedeuten würde, sondern um die einige Jahre lang unterbrochene Wiedereinbeziehung des Islam in die Ausnahmegenehmigungsfähigkeit (und damit Gleichberechtigung mit dem Judentum), kann hier sicherlich nicht von einer "Aufgabe westlicher zivilisatorischer Werte", von einem "weiteren Schritt zur Scharia in Deutschland" oder ähnlichen Produkten der Dammbruch-Fantasie die Rede sein. Die EKD hat sich durch ihren Beauftragten für agrar-soziale Fragen, Rudi Job, skeptisch zu dem Urteil geäußert und insbesondere Tierschutz und Religionsfreiheit gegeneinander abgewogen. Die Zukunft wird zeigen, wie weit dieses Urteil zur Integration der Muslime in Deutschland beiträgt. - Einen Überblick über bisherige Vorgänge und Diskussionen um die Schächtung bieten: U. Spuler-Stegemann, Muslime in Deutschland, Freiburg 1998, 161-166, P. Heine, Halbmond über deutschen Dächern, München 1997, 273 ff, sowie A. Th. Khoury / P. Heine / J. Oebbecke, Handbuch Recht und Kultur des Islams in der deutschen Gesellschaft, Gütersloh 2000, 171-183.
Ulrich Dehn