Zum Streit um das Alte Testament

Berichte über einen handfesten theologischen Skandal im deutschen Protestantismus machen die Runde. Stein des Anstoßes ist ein Fachartikel des Berliner Systematikers Notger Slenczka, der bereits 2013 in einem wissenschaftlichen Sammelband erschienen und zuvor im Theologischen Arbeitskreis Pfullingen, einer evangelischen Fachgesellschaft, eingehend diskutiert worden ist. Slenczka vertritt darin die These, dass das Alte Testament keine kanonische Geltung in der Kirche haben sollte, und pflichtet dem bedeutenden protestantischen Kirchenhistoriker Adolf von Harnack bei. Der hat in seinem einflussreichen Buch über Markion 1921 erklärt, mit Recht habe die Kirche im 2. Jahrhundert die Forderung Markions abgelehnt, das Alte Testament zu verwerfen. Es „im 16. Jahrhundert beizubehalten, war ein Schicksal, dem sich die Reformation nicht zu entziehen vermochte; es aber seit dem 19. Jahrhundert als kanonische Urkunde im Protestantismus noch zu konservieren, ist die Folge einer religiösen und kirchlichen Lähmung.“

Der Gnostiker Markion schuf einen Kanon, der ausschließlich aus frühchristlichen Schriften bestehen sollte, nämlich aus dem Lukasevangelium und den Briefen des Paulus, aus denen er nochmals vermeintlich judaisierende Interpolationen ausschied. Anders als Markion wollen Harnack und Slenczka das Alte Testament jedoch keinesfalls verwerfen. Sie betonen ihre Wertschätzung der Psalmen und der Prophetenbücher, sprechen dem Alten Testament als Ganzem aber ab, in gleicher Weise wie das Neue Testament für das Christentum kanonische Geltung beanspruchen zu können.

Slenczka plädiert dafür, den alttestamentlichen Schriften insgesamt den gleichen Rang zuzubilligen, den Luther den sogenannten alttestamentlichen Apokryphen zugestanden hat. Das sind jene Schriften, die sich in der Septuaginta – der antiken griechischen Version der jüdischen Bibel – und in der Vulgata finden, nicht aber in der Hebräischen Bibel des rabbinischen Judentums, dem heutigen Tanach. Luther urteilt über diese Schriften, sie seien der Heiligen Schrift nicht gleichzuhalten, wohl aber „nützlich und gut zu lesen“.

Slenczka ist der Ansicht, mit dieser Position nicht nur die logische Konsequenz aus den Diskussionen in der alttestamentlichen Wissenschaft zur Entstehung und Wirkungsgeschichte des Alten Testaments zu ziehen, sondern auch aus dem christlich-jüdischen Dialog nach dem Holocaust. Die Hebräische Bibel sei die Urkunde des Judentums. Die christliche Kirche könne in ihr lediglich die historischen Voraussetzungen des eigenen Glaubens finden, nicht aber unmittelbar die Offenbarung Gottes, der sich nach christlicher Überzeugung letztgültig in Jesus Christus offenbart hat. Weder Harnack noch Slenczka selbst gehe es um eine Abwertung des Judentums. Kanonisch könne das Alte Testament für die Kirche nur sein, wenn es als Christuszeugnis gelesen wird. Das aber gehe eindeutig gegen den wörtlichen Sinn der Texte und führe zu einer auch theologisch nicht länger zu rechtfertigenden Vereinnahmung der Hebräischen Bibel durch die Kirche. Hingegen habe gerade die christologische Lektüre der Hebräischen Bibel Luther nicht daran gehindert, seine judenfeindlichen Schriften abzufassen.

Slenczka wollte mit seinem Text provozieren. Das ist ihm zweifellos gelungen. Doch inzwischen ist die öffentliche Debatte derart vergiftet, dass man sich fragt, wie sie überhaupt noch sinnvoll und fair weitergeführt werden kann. Friedhelm Pieper, evangelischer Präsident des deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit, spricht von einem ungeheuerlichen Skandal. Als skandalös empfinde ich freilich eher die Art und Weise, in der Pieper und andere Slenczka an der Pranger stellen, undifferenziert des Antijudaismus – vulgo Antisemitismus – bezichtigen und mundtot zu machen versuchen.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich teile nicht Slenczkas Position, sondern bin vielmehr der Überzeugung, dass es zwingende theologische Gründe dafür gibt, am Alten Testament als Teil des christlichen Kanons festzuhalten. Für falsch halte ich Slenczkas These, das Alte Testament spreche von einem anderen Gott als das Neue Testament. Sie hätte für den christlichen Glauben fatale Konsequenzen. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass das Alte Testament des Christentums bis in die Reformationszeit keineswegs die Hebräische Bibel, sondern die Septuaginta gewesen ist. Für die katholische Kirche und die orthodoxen Kirchen gilt das bis heute. Zwar beschränken die reformatorischen Kirchen den Umfang des Alten Testaments auf die Schriften der Hebräischen Bibel, ordnen sie aber nach dem Kanon der Septuaginta an. Anders als die römisch-katholische Kirche hat zumindest die lutherische Kirche die Grenzen des Kanons niemals dogmatisch fixiert.

Die behauptete Geltung des Alten Testaments und der faktische kirchliche Umgang mit ihm fallen oftmals auseinander. Man denke bloß an die Psalmen, die im evangelischen Gesangbuch nur auszugsweise abgedruckt sind, weil man als anstößig empfundene Passagen beiseite lässt. Das alles ist wahrlich nicht neu.

Slenczkas Position fordert zum Widerspruch heraus. Die Probleme beginnen schon beim Kanonbegriff, an dessen Unschärfe bereits Harnacks Position krankt. Denkt man wie Slenczka ganz vom gegenwärtigen christlichen frommen Selbstbewusstsein aus und versteht auch die Reformation nur als eine Entwicklungsstufe zur Aufklärung, stellt sich die Frage, wozu die Kirche überhaupt noch einen Kanon braucht und weshalb es nicht genügt, sich auf die gelebte Religion zu beziehen. Wer freilich die Beschäftigung mit Harnack allein deshalb für verboten hält, weil sich Antisemiten und nationalsozialistisch gesinnte Christen auf ihn berufen haben, der muss auch auf alle, die immer noch Nietzsche und Heidegger für maßgebliche Philosophen halten, seinen Bannstrahl schleudern.

Slenczkas Berliner Kollege Christoph Markschies – ehemaliger Präsident der Humboldt-Universität, Vizepräsident der Berlin-Bandenburgischen Akademie der Wissenschaften und auch in der evangelischen Kirche überaus einflussreich – verweigert die Diskussion mit der Begründung, schließlich würden wir heutzutage ja auch nicht mehr darüber ernsthaft diskutieren, dass die Erde eine Scheibe sei. Gemeinsam mit ihm haben sich inzwischen vier weitere Fakultätskollegen von Slenczka öffentlich distanziert, offenbar aufgrund der Drohung des renommierten Judaisten Peter Schäfer, seine Honorarprofessur an der Berliner Theologischen Fakultät niederzulegen. Inzwischen haben sich weitere Stimmen – auch von der Berliner Theologischen Fakultät – zu Wort gemeldet und dafür plädiert, über ungelöste Herausforderungen in der Zuordnung zwischen Altem und Neuen Testament in einen sachbezogenen wissenschaftlichen Diskurs einzutreten. Man kann das Bemühen um Schadensbegrenzung verstehen. Dass Slenczka seinerseits Markschies & Co. die wissenschaftliche Satisfaktionsfähigkeit abspricht, macht die Aufgabe nicht leichter. Die Wissenschaftskultur erleidet durch solche Debatten Schaden.


Ulrich H. J. Körtner, Wien


Eine ähnliche Fassung dieses Beitrags ist erschienen in der österreichischen Wochenzeitung „Die Furche“ vom 30.4.2015.