Zum Tod des Komponisten Karlheinz Stockhausen
(Letzter Bericht: 7/2005, 274) Am 5. Dezember 2007 verstarb der deutsche Komponist Karlheinz Stockhausen im Alter von 79 Jahren an Herzversagen. Dass an einem 5. Dezember auch Wolfgang Amadeus Mozart und Sri Aurobindo gestorben sind, hätte für Stockhausen sicher eine besondere Bedeutung gehabt – denn in seinem Denken hing immer alles mit allem auf geheimnisvolle Weise zusammen: Weltbild und Werk, Mikro- und Makrokosmos, Mensch und Musik. Doch gerade dieser Monismus hat auch dazu geführt, dass vielen nicht nur seine Musik, sondern auch und gerade sein Denken fremd geblieben ist. Dabei spiegeln Stockhausens Weltbild und Werk auf faszinierende Weise geistes- und religionsgeschichtliche Strömungen der Bundesrepublik wider. Verwurzelt war der am 22. August 1928 in Mödrath bei Köln geborene Stockhausen im rheinischen Katholizismus, der dem neunjährigen Karlheinz ein beinahe ekstatisch-mystisches Erleben der Erstkommunion bescherte – ihn aber auch erfahren ließ, dass seine tiefe Frömmigkeit im Nationalsozialismus kaum Platz hatte. Die Diktatur machte den Jungen überdies zum Vollwaisen: Die Mutter wurde aufgrund ihrer Depressionen Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Maßnahmen, der Vater fiel kurz vor Kriegsende in Ungarn. Beinahe völlig mittellos schlug sich der junge Karlheinz im zerbombten Köln mit Gelegenheitsarbeiten und Auftritten als Musiker durch und entwickelte in dieser Zeit seinen legendären Arbeitsethos, der ihn später dazu befähigen sollte, mit dem 29 Stunden langen Opus magnum LICHT den größten Opernzyklus der Musikgeschichte zu schaffen.
In den fünfziger Jahren machte sich der junge Komponist mit revolutionären Kompositionen und Experimenten, die ganz im Geist des optimistischen Fortschrittsglaubens der Adenauer-Ära standen, schnell einen Namen. Durch seine Entwicklungen auf dem Gebiet der elektronischen Musik wurde er zu einem Pionier, der sich in der Pop- und Techno-Szene bis heute großer Wertschätzung erfreut – auch wenn Stockhausen selbst mit dem aus seiner Sicht primitiven Schaffen seiner „musikalischen Enkel“ zeitlebens Mühe hatte. Und trotz aller Freude an technischer Innovation war und blieb Stockhausens Werk religiös, wie etwa der GESANG DER JÜNGLINGE beweist, in dem Stockhausen den Lobpreis der Jünglinge im Feuerofen (Dan 3,1-97) vertonte.
Stockhausen war also immer ein tiefreligiöser Mensch und Künstler, auch wenn sich seine Überzeugungen stark weiteten, als er sich Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre einer Vielzahl religiöser Strömungen öffnete, die seitdem Eingang in sein Werk gefunden haben. Zu nennen sind hier insbesondere das in den dreißiger Jahren entstandene „Urantia“-Buch, dessen angeblich von überirdischen Wesenheiten offenbarte Aussagen vor allem in LICHT eine große Rolle spielen (siehe MD 7/1999, 209ff), die Neuoffenbarung Jakob Lorbers, Esoterik, Gnosis und Theosophie; auch der indische Philosoph Sri Aurobindo sowie der Sufi-Meister Hazrat Inayat Khan haben Stockhausen stark geprägt. Stockhausens Öffnung für andere religiöse Traditionen entsprach der religiösen Pluralisierung, die in Gestalt einer wachsenden Begeisterung für die Spiritualität Asiens und die Esoterik die spirituelle Landschaft der Bundesrepublik zu verändern begann.
Dennoch (oder gerade deshalb?) führte diese Wende ungefähr ab Mitte der siebziger Jahre dazu, dass Stockhausen bald fast alle Kritiker gegen sich hatte und von ihnen vor allem für den Inhalt von LICHT in regelmäßigen Abständen mit Hohn und Spott übergossen wurde. Zusammengefasst lautete der Vorwurf ungefähr, dass Stockhausen, einst Wegbereiter der musikalischen Avantgarde und der elektronischen Musik sowie Pionier eines scheinbar kühl-rationalen Serialismus, seine eigenen Ideale verraten und sich in eine nebulös-irrationale Privatmythologie zurückgezogen habe. Was die Kritiker neben der Zusammenführung unterschiedlichster spiritueller Traditionen ganz offensichtlich so rat- und fassungslos machte, war einerseits Stockhausens fast kindliche Freude an verrückten Einfällen, andererseits der stark transzendente Zug in LICHT im Sinne einer Orientierung auf ferne Welten im Jenseits und Kosmos (siehe dazu auch MD 1/2005, 23ff).
Den Meister selbst störte dies nie; in bewundernswerter Unbekümmertheit stand er stets zu seinem Anliegen, der Menschheit mit seiner „astronischen Musik“1 ein „schnelles Flugschiff zum Göttlichen“2, d. h. das Erlebnis einer „fremden Schönheit“3 in „transrealen“4 Welten zu schenken, die für die Weiterentwicklung der Menschheit unverzichtbar seien. Stockhausen war überzeugt, dass eine „fremde Schönheit zur Erhaltung der Hoffnung der Menschen unbedingt notwendig ist. … Eine Gesellschaft, die das vergessen hat, die ist wirklich krank. Und man muss diese Gesellschaft aufwecken und ihr sagen: ‚Bitte orientiert euch wieder an den fremden Schönheiten.’ Wo ist unsere Fremde? Die Fremde ist in den Sternen heute, ist im Kosmos.“5 Und „wenn unser Verstand sich extrem anstrengt und an die Grenze dessen kommt, was analysierbar und beschreibbar ist, beginnt die Mystik. Dort ist für mich als Musiker meine Heimat. Da will ich hin.“6
Stockhausen kümmerte sich nie darum, ob auch andere Menschen „da hin“ wollen. Immerhin registrierte er, dass er sich mit seinem Anspruch von der Durchschnittlichkeit der meisten Zeitgenossen weit entfernte, und umso ausgeprägter war das Desinteresse des Komponisten für alles unterhalb der kosmisch-transzendenten Dimension: „Ich glaube“, so gestand er selbst einmal ein, „dass ich aufgrund der Einseitigkeit, mit der ich gelebt habe und lebe, an den meisten geistigen und auch praktischen Phänomenen dieses Planeten vorbeilebe, im Grunde also nicht richtig weiß, was die anderen machen“.7
Mit einem seiner letzten Werke – COSMIC PULSES – nahm Stockhausen sein Publikum noch einmal mit auf eine interstellare Reise in ferne Galaxien, in denen die Musik nichts Irdisches mehr an sich hat – und gerade deshalb von einer faszinierenden und fremden Schönheit ist. Eine Schönheit, die vielleicht erst die Menschen in einigen hundert Jahren zu würdigen wissen, denn Stockhausen war seiner Zeit weit voraus, zu weit vielleicht für den etablierten Kulturbetrieb. Doch zweifellos hat Deutschland gerade deshalb einen seiner wichtigsten wegweisenden Künstler verloren.
1 Karlheinz Stockhausen, TEXTE zur MUSIK, Bd. 10, Kürten 1998, 9.
2 Zit. nach www.elektropolis.de/ssb_story_stockhausen.htm (7.1.08).
3 Aussage Stockhausens in „75 Jahren Donaueschinger Musiktage“, Fernsehreportage des SWF, 1996.
4 The Gudgeon (Belfast), 26.4.2004, gudgeon.blogspot.com/2004/04/stockhausen-in-belfast-day-33.html (7.1.08).
5 Aussage Stockhausens in „75 Jahren Donaueschinger Musiktage“, Fernsehreportage des SWF, 1996.
6 Zit. nach Claus Spahn, Am Ende des Lichts“, in: Die Zeit 44/2004, 51.
7 Aussage Stockhausens in „Stockhausen – LICHTWERKE“, ein Film von Henning Lohner, 1988.
Christian Ruch, Chur/Schweiz