Zur Entwicklung der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Die Erste Klasse
Johannes Kiersch, Zur Entwicklung der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Die Erste Klasse, Verlag am Goetheanum, Dornach 2005, 310 Seiten, 19,00 Euro.
Anthroposophie, das ist mehr als Waldorfschulen, Demeter-Äpfel und Weleda-Heilsalbe. Die Anthroposophie besitzt den Anspruch, übersinnliche, „höhere“ Erkenntnis zu vermitteln. Diese wollte Rudolf Steiner (1861-1925) in einer „Hochschule“ für Geisteswissenschaft gelehrt wissen, die allerdings nichts mit einer akademischen Hochschule oder einer Universität zu tun hat, sondern die in drei „Klassen“ eine Arkandisziplin befördern sollte. Aber diese Anleitung zur Entwicklung übersinnlicher Erkenntnisfähigkeiten befindet sich seit Steiners Tod in einer permanenten Krise, weil er die „Esoterische Schule“ 1914 geschlossen hatte und über der Errichtung einer Nachfolgeinstitution, eben der „Hochschule“, verstarb.
Johannes Kierschs Buch zeichnet die Entwicklung der „ersten Klasse“ bis in die Gegenwart nach, mit dem Schwerpunkt auf den dreißiger Jahren. Steiner hatte 1924 die „erste Klasse“ gegründet, in der er für einen esoterischen Kern der Anthroposophen, streng abgeschieden von der Vereinsöffentlichkeit, Vorlesungen hielt und „Mantren“ gab.
Noch bevor er die zweite und dritte Klasse eröffnen konnte, starb Steiner. Aber nach seinem Tod geriet schon die Fortführung der ersten Klasse zu einem Schlachtfeld um die richtige Deutung von Steiners Vermächtnis. Zugleich wurde die Machtfrage zwischen den Führungspersonen des Vorstandes, nicht zuletzt zwischen Marie Steiner, Steiners Frau, und Ita Wegman, der engen Freundin Steiners in den letzten Lebensjahren, gestellt. Darüber spaltete sich 1935 die Anthroposophische Gesellschaft und die Dornacher Fraktion schloss Wegman aus, ein Riss, der erst nach dem Tod der beiden Protagonistinnen nach dem Zweiten Weltkrieg überbrückt werden konnte. In der Nachzeichnung und Deutung dieser Geschichte ist eine in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerte Publikation entstanden.
1. Kiersch dokumentiert das Bemühen einer Fraktion in der heutigen Anthroposophischen Gesellschaft, nicht in der Pragmatik der erfolgreichen Praxisfelder zu ersticken. Dahinter steht ein Gespür für die Gefahr, das spirituelle Zentrum zu verlieren.
2. Kierschs Buch ist ein Beleg für anthroposophische Versuche, die Vereinsgeschichte offen aufzuarbeiten – etwa mit Quellen (in einem über 100-seitigen Anhang) oder mit Nachweisen von Archivalien, insbesondere im Archiv der Anthroposophischen Gesellschaft. Damit gehört der Autor in eine Fraktion der Anthroposophischen Gesellschaft, die seit etwa 20 Jahren Quellen offen legt und dogmatische Interpretationen der anthroposophischen Geschichte zurückdrängt. Dabei benennt er auch offene Fragen, etwa zur Konzeption der beiden oberen Klassen, über die man nur wenig weiß. Den größten Raum erhält die Geschichte der Vermittler der „Klassentexte“ und Mantren, die zuerst von Steiner, dann von Vorstandsmitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft autorisiert wurden. Dieser Teil ist allerdings für allgemein interessierte Leser in seiner Detailliertheit nicht leicht zu lesen.
3. Dabei werden Themen, die bislang einer strikten Geheimhaltung unterlagen und außerhalb anthroposophischer Kreise kaum bekannt waren, allgemein zugänglich gemacht: Steiners Beauftragung des Leitungspersonals, die Debatten um die Interpretation der Bestimmungen zur Geheimhaltung, vor allem aber die Auseinandersetzungen zwischen Wegman und anderen Mitgliedern des Vorstandes in Dornach. Kiersch verzichtet darauf, die tief verletzenden Polemiken in all ihren Schärfen nachzuzeichnen, aber die normal-menschlichen Niederungen des Vereinslebens werden nicht mehr verschwiegen.
4. Dabei bezieht Kiersch implizit auch Stellung zu aktuellen Auseinandersetzungen. Augenblicklich befindet sich die Anthroposophische Gesellschaft in einer bis vor die Gerichte getragenen „Konstitutionsdebatte“, in der es um die Reichweite der Rechte des Vorstandes geht. Kiersch diskutiert nun, ob die Klassenvorträge nur vom Vorstand oder von den vom Vorstand autorisierten Vermittlern „verlesen“ werden dürfen und ob es auch das Recht gebe, „frei“, also deutend, mit diesen Texten umzugehen. Dies sieht nach einer Quisquilie aus, ist aber letztlich eine Grundfrage zur Konstitution der Anthroposophischen Gesellschaft, wie weit sie also hierarchisch geleitet oder „von unten“ organisiert sein soll. Bei aller Zurückhaltung Kierschs lese ich seine Darstellung als ein Plädoyer für eine nichtzentralistisch orientierte Anthroposophische Gesellschaft.
5. Kierschs Darstellung der ehemaligen „Abtrünnigen“ empfinde ich als fair, etwa Ita Wegmans, die sowohl leise Kritik als auch – und etwas lauter – Wohlwollen erfährt. Auch Valentin Tomberg, der sich im Gegensatz zu Wegman von der Anthroposophie abwandte, wird in dem Ernst seines Anliegens gewürdigt – ganz im Gegensatz zu der blindwütigen Polemik, die Sergej Prokofjew, immerhin Mitglied des aktuellen Vorstandes der Anthroposophischen Gesellschaft, über Tomberg ausschüttet.
Vorsichtige Kritik übe ich nur an drei Stellen. Zum einen wünschte ich mir die Auflösung mancher Andeutungen. Dass etwa Ita Wegman Steiners große Liebe der letzten Jahre war, die Steiners Ehe in eine Krise brachte, muss man so deutlich sagen, weil ein Teil der Konflikte mit Marie Steiner nach 1925 nur so verständlich wird. Anthroposophen mögen die Andeutungen auf diesen Sachverhalt verstehen, unbedarfte Leser und Leserinnen sind hier verloren.
Sodann wünschte ich mir eine intensivere Diskussion der zwei weiteren Klassen, die Steiner noch einrichten wollte. Zugegeben, das ist ein schwerer Brocken, aber dessen Einbeziehung ist notwendig, weil die Frage, wieweit Steiner seine „Hochschule“ wirklich „von unten“ konzipiert hat, auch an der Konzeption der beiden obersten Klassen hängt – insbesondere, da er dort wohl rituelle Zeremonien einrichten wollte, die in der Nachfolge seiner bis 1914 praktizierten Freimaurerriten gestanden hätten.
Drittens scheint mir Kierschs liberale Deutung von Steiners Anweisungen zum Umgang mit dem Material der „Hochschule“ zu große normative Voraussetzungen zu enthalten. Denn die Option, mit den „Klassentexten“ deutend, kreativ umzugehen, hängt an Äußerungen wie derjenigen von Ludwig Polzer-Hoditz, einem persönlichen Freund Steiners, dass Steiner ihm gesagt habe: „Machen Sie es, wie Sie wollen.“ Diese wohl auch von Kiersch präferierte liberale Position müsste sich in der historisch-kritischen Analyse mit Äußerungen Steiners (die Kiersch in seinem Buch nicht verschweigt) auseinandersetzen, die die Verbindlichkeit des verlesenen Textes hoch ansetzen und die Freiheit der Vermittler einschränken.
Schwer abzusehen ist, was eine weitere Reduzierung der Kontrolle der „Klassentexte“ für die Anthroposophische Gesellschaft bedeutet. Ihre Rolle als Verwalterin von Steiners esoterischem Erbe wird zurückgehen, sie wird ein Stück mehr schlichter Verein sein. Aber diesen Prozess macht die Gesellschaft mit der Veröffentlichung anderer esoterischer Materialien seit Jahren durch – und auch der liberalisierte Umgang mit den Klassentexten wird ihre Existenz nicht bedrohen. Religionsgeschichtlich ist aber spannender, ob sich die Anthroposophische Gesellschaft als Anbieterin meditativer Erkenntnis etablieren kann. Hier ist die Konkurrenz, auch zu den christlichen Kirchen, inzwischen groß geworden, wohingegen es zu Steiners Lebzeiten eine Leerstelle in der europäischen Spiritualitätstradition gab, die die anthroposophische Praxis zu einem knappen Gut machte.
Helmut Zander, Berlin