Zur Freiheit berufen
Potenziale der Reformation
Die Neuentdeckung des biblischen Evangeliums der Freiheit in der Reformation war heilsam und befreiend. Wie alle von Menschen gestaltete Geschichte ist auch diejenige der Reformation nicht frei von Schattenseiten, von menschlichem Versagen und menschlicher Schuld. Über dieser Einsicht darf aber doch nicht das Befreiungspotenzial aus dem Blick geraten, das im Erbe der Reformation bis heute liegt.
Evangelische Freiheit und moderne Freiheitsdiskurse
Die bleibende Bedeutung der Reformation besteht darin, die Freiheit als Inbegriff des Evangeliums von Jesus Christus neu entdeckt und zur Geltung gebracht zu haben, zugleich aber auch die Gleichheit im Sinne des Priestertums aller Gläubigen. Und tatsächlich hat die Reformation nicht nur religiöse, sondern auch politische und gesellschaftliche Umbrüche hervorgerufen, die bis heute nachwirken. Tatsächlich war die Reformation in vielfältiger Hinsicht eine Befreiungsbewegung, in der es um die Freiheit von klerikaler Bevormundung ebenso ging wie um politische und soziale Freiheiten. Die Aufklärung wertete die Reformation trotz aller Kritik als eine Entwicklungsstufe auf dem Weg zur Freiheit des Geistes und aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit des Menschen. Der linke Flügel der Hegelschule deutete die Reformation als Vorstufe der bürgerlichen und dann der kommunistischen Revolution, deren Ziel ein utopisches Reich der Freiheit war. Auch die Befreiungstheologie des 20. und 21. Jahrhunderts begreift die Reformation und ihre Theologie als eine Form der politischen Theologie.
Die Pointe von Luthers Freiheitsverständnis liegt freilich darin, dass der Mensch nicht etwa zu sich selbst, sondern von sich selbst befreit werden muss. Nicht in kirchlichen oder politischen Freiheitsforderungen, sondern in der Rechtfertigungslehre liegt das Zentrum der Freiheitslehre Luthers. Man missversteht diese jedoch, wenn man seine Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders auf die Formel verkürzt: Gott nimmt jeden Menschen so an, wie er ist, und gibt uns die Kraft, mit uns Freundschaft zu schließen. Vielmehr wird Luther nicht müde zu erklären, dass uns Gott bedingungslos annimmt, obwohl wir so sind, wie wir sind, damit wir um Christi willen gerade nicht dieselben bleiben, sondern neu werden.
Von Hause aus ist der Mensch stets um sich selbst besorgt. Er kreist um sich und neigt dazu, auch die übrigen Menschen seinen eigenen Zwecken und Wünschen dienstbar zu machen. Das Gleiche geschieht in der Religion, wenn der Mensch versucht, auch Gott seinen eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen zu unterwerfen. Auf uns selbst zurückgeworfen und fixiert, sind wir im Grunde einsame Wesen, die einander die Liebe schuldig bleiben und Gott als den Grund unseres Daseins verleugnen. Aus dieser Einsamkeit und Selbstfixiertheit werden wir nach Luther durch Jesus Christus befreit. Wo das einsame und um sich selbst besorgte Ich ist, soll Christus werden, der uns für Gott und den Mitmenschen öffnet. Durch Christus, so Luther, werden die Menschen zu einem Glauben befreit, der Gott bedingungslos im Leben und im Sterben vertraut, weil er sich von Gott bedingungslos angenommen weiß. Gott, so Luther, liebt uns Menschen ohne Vorleistungen und senkt die Liebe zu ihm und unseren Mitmenschen in unser Herz.
Im Vergleich mit heutigen Freiheitsdiskursen fällt auf, dass für Luther die Frage, ob der Mensch frei oder unfrei ist, zu kurz greift, sofern sie Freiheit einfach mit Willensfreiheit gleichsetzt. Im Gegenteil hat die Freiheitserfahrung eines Christenmenschen die Unfreiheit des menschlichen Willens zur Voraussetzung. Diese aber ist nicht im Sinne eines metaphysischen oder naturwissenschaftlichen Determinismus zu verstehen, sondern als Ergebnis eines Freiheitsverlustes, der als Folge der Sünde gedeutet wird. Es sind konkrete Erfahrungen des Verlustes und der Gefährdung menschlicher Freiheit, die das theologische Nachdenken über das Wesen menschlicher Freiheit motivieren. Luther geht es nicht um eine formale Freiheitsbehauptung, sondern um existenziellen Freiheitsgewinn durch Glauben.
Freiheit und Verantwortung
Die Reformation kann uns den Blick schärfen für die Ambivalenzen und Gefährdungen der Freiheit in der heutigen Gesellschaft. Einerseits herrscht heute ein Maß an individueller Freiheit und Vielfalt der Lebensweisen, wie dies noch vor 50, 60 Jahren kaum denkbar erschien. Die bürgerliche Freiheit oder auch die Freiheit des Konsumenten erzeugt freilich nur zu oft einen Schein von Freiheit. Die Freiheit ist nicht nur durch äußere Zwänge, sondern auch durch innere Unfreiheit bedroht. Und der Zuwachs an Freiheit und Eigenverantwortung wird von vielen Menschen als Last, wenn nicht gar als Überforderung empfunden.
Die evangelischen Kirchen in Österreich haben das Reformationsjubiläum unter das Motto „Freiheit und Verantwortung“ gestellt. Interessanterweise war dies auch das Motto einer Partei im hinter uns liegenden Wahlkampf. Aber der Liberalismus hat weithin keine gute Presse. Mancher denkt bei „Freiheit und Verantwortung“ an das Schreckgespenst des Neoliberalismus. In der Politik stehen gegenwärtig Gerechtigkeit und Sicherheit ganz oben auf der Agenda. Doch die einseitige Forderung nach mehr Sicherheit und Gerechtigkeit kann das kostbare Gut der Freiheit gefährden. Und eine liberale Gesinnung, die christlich motiviert sein kann, sollte nicht einfach als Neoliberalismus verunglimpft werden.
Zu den Impulsen der Reformation gehört ein Verständnis von Freiheit und Verantwortung, das sich vom Neoliberalismus durchaus abhebt, weil die Reformatoren von einer Freiheit gesprochen haben, die sich nur in der Gemeinschaft mit Gott und den Menschen verwirklichen lässt. Die reformatorische Botschaft der Freiheit ist freilich auch von nationalistischen Freiheitsparolen scharf zu unterscheiden. Der Gott, der in Jesus Christus Mensch geworden ist, ist kein Nationalgott und seine Gemeinschaft keine auf Ausgrenzung bedachte Volksgemeinschaft. Die nationalistische Vereinnahmung der Freiheitspredigt Luthers in der deutschen Geschichte wie auch in deutschnationalen Kreisen Österreichs gehört vielmehr zu den historischen Verirrungen des Protestantismus.
Zur Freiheit befreit
Gegen solche Verzerrungen können wir uns nur schützen, indem wir aufmerksam lesen, was im Neuen Testament zur Freiheit gesagt wird. Luther zitiert Paulus: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit. So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!“ (Gal 5,1) Paulus und Luther sprechen von einer Freiheit, die wir Menschen nicht schon von Haus aus besitzen. Sie ist auch kein unverlierbares Gut. Sie kann nicht nur missbraucht, sie kann auch verspielt werden.
Muss der Mensch allererst zur Freiheit befreit werden, ist vorausgesetzt, dass er von Hause aus unfrei ist. Im christlichen Kontext wird die menschliche Freiheit zunächst unter den Bedingungen ihres faktischen Verlustes thematisch, für den der Begriff der Sünde steht. Selbst dort, wo sich der Mensch frei in seinen Entscheidungen und seiner Lebensführung wähnt, ist er nach reformatorischer Auffassung unfrei, weil – bewusst oder unbewusst – in der Negation Gottes gefangen.
Wahre Freiheit besteht in der Befreiung des Menschen von seiner Sünde durch Gott, d. h. im Sinne Luthers und der übrigen Reformatoren: in der Befreiung vom Unglauben. Glaube bedeutet nach Luther, Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen (vgl. Luthers Auslegung des 1. Gebots im Kleinen Katechismus). Der Unglaube ist das Gegenteil. Die Befreiung vom Unglauben bedeutet also die Befreiung zu einem unbedingten Vertrauen auf Gott als tragendem Grund unseres Daseins. Und die so gewonnene Freiheit meint die Freiheit von der Selbstsorge um das eigene Dasein. Wer nur um sich selbst besorgt ist, ist unfrei und auf sich selbst fixiert. Er ist, wie Luther sagt, in sich selbst gekrümmt (homo incurvatus in seipsum). Der Vorgang der Befreiung aus dieser Selbstverkrümmung wird im Anschluss an Paulus als Rechtfertigungsgeschehen gedeutet. Der Mensch kann sich aus der selbstverschuldeten Unfreiheit der Sünde nicht selbst befreien, sondern einzig durch Gott befreit werden. Die Freiheit des Glaubens ist zugesprochene Freiheit, die immer wieder neu im Hören der befreienden Botschaft des Evangeliums anzueignen ist. Endgültig besteht diese Freiheit erst im Reich Gottes. Die fragmentarischen Freiheitserfahrungen, die die Glaubenden in ihrem Leben machen, sind der Grund für die das irdische Leben übersteigende Hoffnung auf vollendete Freiheit.
Allein durch den Glauben
Nach reformatorischer Auffassung beruht die Rechtfertigung auf der bedingungslosen Vorgabe des Heils und damit auf der klaren Unterscheidung zwischen dem empfangenden und dem tätigen Wesen des Glaubens. Diese Unterscheidung wird durch ein Geviert von Exklusivbestimmungen zum Ausdruck gebracht, deren Sinn für die Gegenwart erschlossen werden soll: Allein durch den Glauben (sola fide) wird der Mensch vor Gott gerechtfertigt, und zwar durch den Glauben an Jesus Christus, weil allein Christus (solus Christus) das Heil und die Rettung des sündigen Menschen erwirkt. Das geschieht allein aus Gnade (sola gratia) und wird gültig bezeugt allein durch die Schrift (sola scriptura) als Quelle und Maßstab des rechtfertigenden Glaubens, des Lebens aus dem Glauben, aller Verkündigung und der Theologie.
Die Pointe der reformatorischen Botschaft erschließt sich nur, wenn man bedenkt, wie sich die vier genannten Exklusivbestimmungen gegenseitig interpretieren. Keine von ihnen darf isoliert genommen werden. Dass das Heil des Menschen allein an Gottes Gnade hängt, konnte auch die katholische Kirche des Spätmittelalters sagen. Und auch das Konzil zu Trient hat in seinem Dekret über die Rechtfertigungslehre die Alleinwirksamkeit der göttlichen Gnade aussagen können – jedoch so, dass diese eben nicht mit der Alleinwirksamkeit des Glaubens gleichgesetzt wurde. Was reformatorisch unter Glauben zu verstehen ist, wird aber auch verdunkelt, wenn man unter Glauben ein allgemeines Urvertrauen, Transzendenzbewusstsein oder Bewusstsein schlechthinniger Abhängigkeit versteht, das allen Menschen mehr oder weniger eigen sein soll. Glaube im reformatorischen Sinne ist Glaube an Jesus Christus als den alleinigen Grund göttlicher Annahme und Vergebung. Im Glauben ist der Mensch auf eigentümliche Weise passiv, weil das Glaubenkönnen eben kein menschliches Vermögen und keine von der Natur mitgegebene Begabung, sondern eine unverfügbare Gabe ist und bleibt. Die Tat des Glaubens aber besteht darin, der Christusbotschaft – dem Evangelium – Glauben zu schenken und darauf im Leben und im Sterben zu vertrauen.
Befreiende Bibellektüre
Luther fand zum Evangelium der Freiheit und zur Gewissheit des Glaubens durch das intensive Studium der Bibel. So wurde die Reformation zu einer Bibellesebewegung und damit einhergehend zu einer Bildungsbewegung. Die Bibel, davon waren die führenden Köpfe der Reformation überzeugt, gehört nicht in die Hand weniger, sondern in diejenige aller Christenmenschen, die durch die eigenständige Lektüre, aber auch durch das gemeinschaftliche Hören auf das Wort Gottes zur Mündigkeit in Glaubensdingen gelangen. Es war dann später vor allem der Pietismus, der die evangelische Bibelfrömmigkeit intensivierte und bis heute geprägt hat. Allerdings muss man kritisch feststellen, dass es um die Bibelfrömmigkeit in breiten Kreisen des protestantischen Christentums heute nicht gut bestellt ist. Zwar ist die neu revidierte Lutherbibel 2017 zu einem ungeahnten Bestseller geworden. Aber das heißt doch nicht unbedingt, dass die Bibel auch ein beständiger Lebensbegleiter ist. Es genügt eben nicht, sich auf den Geist der Reformation zu berufen oder vom Geist des Protestantismus zu sprechen und gleichzeitig zu meinen, man könne die Quelle reformatorischen Glaubens hinter sich lassen.
Ich möchte an dieser Stelle an Luthers letzte Notiz erinnern, die er auf dem Sterbebett 1546 auf einen Zettel schrieb: „Virgil in den Bucolica und Georgica kann keiner verstehen, der nicht fünf Jahre lang Hirte oder Bauer war. Cicero in seinen Briefen (so vermute ich) versteht keiner, der nicht zwanzig Jahre lang in einem bedeutenden Staatswesen tätig war. Die heiligen Schriften meine keiner genug geschmeckt zu haben, der nicht hundert Jahre lang mit den Propheten die Gemeinden geleitet hat. Diese göttliche Äneis suche nicht zu ergründen, sondern bete demütig ihre Spuren an. Wir sind Bettler: hoc est verum.“2
Zum Priestertum aller Gläubigen gehört die beständige Lektüre der Bibel, und sich zu solcher Lektüre in ökumenischer Geschwisterlichkeit neu einladen zu lassen, gehört für mich zu den wichtigsten Impulsen des Reformationsjubiläums. Durch die Reformatoren können wir uns auch heute noch anleiten lassen, das Neue Testament – um mit Ernst Käsemann zu sprechen – „gleichsam als Dokument des ersten Aufbruchs in die evangelische Freiheit“3 zu lesen.
Kritische Selbstprüfung
Käsemann hat freilich auch an die in der Kirchengeschichte ständig präsente Versuchung erinnert, die durch Christus geschenkte Freiheit auf das Gebiet der religiösen Innerlichkeit zu beschränken. Man fällt auf dem Weg der christlichen Freiheit immer wieder zurück, sodass alte Wahrheit nicht nur in der Reformationszeit neu entdeckt werden musste, sondern „stets neu zu entdecken ist“. „Die Geschichte der christlichen Freiheit ist in diesem Sinne ein Leidensweg, auf den die Kirchen weniger mit Stolz als mit Scham zurückzublicken haben.“4 Das gilt zweifellos auch für die aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen.
Beispielhaft ist hierfür der Kirchenkampf in der Zeit des Nationalsozialismus. Teile der evangelischen Kirche übten Verrat am Evangelium der Freiheit. Denen, die bereit waren, sich mit dem NS-Staat zu arrangieren oder mit ihm zu paktieren, hielt die Bekennende Kirche in der Barmer Theologischen Erklärung (1934) entgegen: Durch Christus „widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen. Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären, Bereiche, in denen wir nicht der Rechtfertigung und Heiligung durch ihn bedürften“ (These 2). Diese Sätze gelten auch heute und sind der Kirche zur beständigen Selbstprüfung gesagt, bejahen doch die lutherische und die reformierte Kirche in Österreich ausdrücklich die Barmer Theologische Erklärung als verbindliches Zeugnis für ihren Dienst in der Welt. In diesem Sinne ist das Evangelium der Freiheit nicht nur kirchengründend, sondern auch Grund und Maßstab von Kirchenkritik.
Das Evangelium ist und bleibt eine Botschaft der Freiheit. Als solches ist es in der Reformation neu zum Klingen und Leuchten gebracht worden. Gott befreit Menschen aus allen falschen Bindungen, von Sünde, Tod und Teufel – auch von allen Menschensatzungen, die innerhalb wie außerhalb der Kirche die Menschen der Knechtschaft unterwerfen. Die in dieser Botschaft liegende Sprengkraft darf nicht kleingeredet werden. Der Aufbruch in die Freiheit war und ist nicht ohne Abbruch und notwendige Abschiede zu haben. Das ist der Sinn der Rede Luthers von der lebenslangen Buße – nämlich der Umkehr des Christenmenschen und seiner beständig neuen Hinwendung zu Gott.
Evangelische Katholizität
Ob Aufbruch oder Abbruch – die Reformation lässt sich nicht allein auf Person und Werk Martin Luthers reduzieren, so unbestritten seine überragende historische Bedeutung ist. Wer über Erbe und Auftrag der Reformation nachdenkt, kommt an den übrigen Reformatoren der ersten und zweiten Generation nicht vorbei, Ulrich Zwingli, Philipp Melanchthon, Martin Bucer und Johannes Calvin, um nur die wichtigsten zu nennen. Man kommt aber auch nicht umhin, die Transformationsprozesse zu bedenken, die seit der Aufklärung innerhalb wie außerhalb des Protestantismus stattgefunden haben. So gewiss die Moderne nicht ohne die Impulse der Reformation vorstellbar ist, so sehr liegen doch auch zwischen Reformation und Moderne erheblich Umbrüche.
Die Reformation lässt sich weder einseitig als Sieg des modernen Individualismus feiern, noch einseitig als Kirchenspaltung und Beginn einer fortschreitenden Zersplitterung des abendländischen Christentums beklagen. Die Licht- und Schattenseiten der Reformation sind vielmehr gleichermaßen anzusprechen. Zwischen einem kritischen Gedenken und einem fröhlichen Feiern besteht kein ausschließendes Entweder-Oder. Es gibt gute Gründe, das Erbe der Reformation dankbar und fröhlich zu feiern – im ökumenischen Geist. Die katholische Kirche ist eingeladen, sich zu fragen, was sie positiv der Reformation zu verdanken hat, auch wenn sie sich ihr bis heute nicht anzuschließen vermochte. Die evangelischen Kirchen sollten sich prüfen, was sie in Geschichte und Gegenwart der katholisch gebliebenen römischen Kirche für das eigene Evangelischsein verdanken. Was bedeutet es für das eigene Verständnis des Evangeliums, des Christseins und der Kirche, dass sich eben nicht die ganze abendländische Christenheit der Reformation angeschlossen hat? Und welche Impulse gehen vom Erbe der Reformation für den gemeinsamen ökumenischen Weg in die Zukunft aus? Stellt man sich gemeinsam diesen Fragen, dann lässt sich vielleicht ein ökumenisches Verständnis von Katholizität entwickeln, das zugleich gut evangelisch ist.
„Gut evangelisch“ heißt freilich nicht unbedingt dasselbe wie „gut protestantisch“. Karl Barth hat für eine begriffliche Unterscheidung plädiert: „Nicht alle ‚protestantische‘ ist evangelische Theologie. Und es gibt evangelische Theologie auch im römischen, auch im östlich-orthodoxen Raum, auch in den Bereichen der vielen späteren Variationen und auch wohl Entartungen des reformatorischen Neuansatzes.“5 „Evangelisch“ ist für Barth die inhaltliche Näherbestimmung dessen, was ökumenisch bzw. katholisch heißt. Ökumenisch bzw. katholisch ist eine evangeliumsgemäße Theologie, wobei Barth zugleich auf den Unterschied zwischen der einen Theologie und den vielen Theologien, d. h. auf das Problem der Einheit und Pluralität christlicher Theologie aufmerksam macht. Als evangelisch bezeichnet er sachlich „die ‚katholische‘, die ökumenische (um nicht zu sagen: die ‚konziliare‘) Kontinuität und Einheit all der Theologie …, in der es inmitten des Vielerlei aller sonstigen Theologien und (ohne Werturteil festgestellt) verschieden von ihnen darum geht, den Gott des Evangeliums, d. h. den im Evangelium sich kundgebenden, für sich selbst zu den Menschen redenden, unter und an ihnen handelnden Gott auf dem durch ihn selbst gewiesenen Weg wahrzunehmen, zu verstehen, zur Sprache zu bringen.“6
Tun und Lassen
Recht verstanden ist die Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders allein durch den Glauben eine Freiheitslehre, die auch für die Ethik erhebliche Konsequenzen hat. Christliche Ethik nach evangelischem Verständnis ist grundsätzlich als eine vom Geist der Liebe bestimmte Form der Verantwortungsethik zu verstehen.7 Die evangelische Sicht von Verantwortung hängt unmittelbar mit dem Glauben an die Rechtfertigung des Sünders allein durch den Glauben zusammen. Auf ihr beruht die Unterscheidung von Person und Werk, die vom Zwang der Selbstrechtfertigung befreit – und gerade so zur Übernahme von Verantwortung befähigt. Die Wahrnehmung und Übernahme von Verantwortung geschieht nicht nur im Wissen darum, dass Menschen scheitern können, sondern auch im Vertrauen darauf, dass uns vergeben wird. Verantwortung ist nicht nur aus dem Geist der Liebe und der Freiheit zu übernehmen. Sie ist auch im Geist der Freiheit auszuüben, um gerade so dem Spannungsfeld von Autonomie und Abhängigkeit, von Spontaneität und menschlicher Grundpassivität gerecht zu werden, die im Evangelium von der zuvorkommenden und den Menschen ohne Werke rechtfertigenden Gnade Gottes zum Thema wird.
Wie Luther nicht müde wird zu betonen, wird der Mensch einerseits ohne Werke des Gesetzes gerechtfertigt, während doch andererseits ein Glaube ohne Werke, verstanden als Früchte des Glaubens und Ausdruck der Dankbarkeit gegenüber Gott, tot ist. Luthers Kritik an der spätmittelalterlichen Werkgerechtigkeit und Gesetzlichkeit ist auch heute ungemein aktuell. Wir können sagen, dass eine rechtfertigungstheologisch begründete Ethik nicht so sehr eine solche des Tuns als vielmehr eine Ethik des Lassens ist.8 Plakativ lautet das Motto einer an der Rechtfertigungslehre gewonnenen Ethik des Sein-Lassens in Umkehrung des Satzes aus Jak 1,22: „Seid aber Hörer des Wortes und nicht Täter allein, wodurch ihr euch selbst betrügt!“ Das Evangelium als Rede vom Handeln des rechtfertigenden Gottes beschreibt den Menschen, und zwar gerade den zum Handeln aufgerufenen, als rezeptives Geschöpf Gottes, das sein Leben wie Gottes Gnade nur von Gott allein empfangen kann. Die Lebensform aber, in der die Rezeptivität des Menschen ausdrücklich wird, ist das Hören.9 Der gläubige Mensch ist ganz Ohr. Das Hören des Wortes Gottes ist allerdings ebenso wenig gegen das menschliche Tun auszuspielen wie umgekehrt, doch liegt nach biblischer Auffassung ein eindeutiges Gefälle vom Hören zum Tun vor, sodass dem Hören theologisch der Primat zukommt (s. Röm 10,17).
Das Hören des Wortes Gottes weist ein in eine Ethik des Lassens, die Gott Gott und den Mitmenschen ihn selbst sein lässt, statt über ihn und die Welt eigenmächtig verfügen zu wollen. Das ethische Grundproblem ist, wie Walter Mostert zutreffend schreibt, „weniger im Engagement als in der Distanznahme zum andern zu sehen, der aus dem Zugriff des Subjekts befreit werden muß“10. Die Anerkennung des Anderen, die ihm das Seine zukommen lassen will und auf sein Wohlergehen bedacht ist, drückt sich in einer theologisch reflektierten Zurückhaltung aus. Es kommt eben keineswegs darauf an, mit Marx gesprochen, die Welt oder unsere Mitmenschen nach unseren Vorstellungen zu verändern oder zu verbessern, sondern darauf, sie zu verschonen. Auch für unseren Umgang mit der Natur hat das Freiheitsverständnis der Rechtfertigungslehre praktische Konsequenzen. Freiheit im Umgang mit der Natur besteht gerade nicht in einem willkürlichen Umgang mit ihr, sondern darin, Dinge zu lassen, die wir tun könnten, um durch solchen Verzicht der Natur das Ihre zuzugestehen. Den Anderen und die Schöpfung sein zu lassen, schließt freilich das tätige Wohlwollen ein, das jedoch immer wieder in die Gefahr geraten kann, den Mitmenschen paternalistisch zu bevormunden. Eine aus der Rechtfertigung begründete Ethik ist daher immer auch eine Ethik der Selbstbegrenzung des handelnden Subjekts.
Es gilt, das Evangelium, d. h. die gute Nachricht von der Rechtfertigung des Gottlosen allein durch den Glauben, gegen seine Verkürzung auf eine bestimmte Moral zu schützen. Die Rechtfertigungsbotschaft ist freilich ebenso gegen das Missverständnis zu schützen, als komme es auf das menschliche Tun und Lassen gar nicht an. Der Glaube ermutigt und befähigt gerade zur Verantwortungsübernahme vor Gott und den Menschen. Die Aufgabe einer evangelischen Ethik besteht darin, den inneren Zusammenhang von Freiheit, Liebe und Verantwortung zu verdeutlichen und für das gegenwärtige Handeln in Gesellschaft und Politik fruchtbar zu machen.
Anmerkungen
- Teile dieses Beitrags wurden beim Festakt „500 Jahre Reformation“ der Evangelischen Kirche A.B. im Burgenland am 28.10.2017 in Eisenstadt vorgetragen. Zum Ganzen siehe auch Ulrich H. J. Körtner, Das Evangelium der Freiheit. Potentiale der Reformation, Wien 2017.
- Luthers letzter Zettel in der Rekonstruktion von Oswald Bayer, Vom Wunderwerk, Gottes Wort recht zu verstehen, in: KuD 37, 1991, 258-279, 258.
- Ernst Käsemann, Der Ruf der Freiheit, Tübingen 51972, 11. Siehe darin Kap. 2 (55-78).
- Ebd., 55.
- Karl Barth, Einführung in die evangelische Theologie, Gütersloh 31980, 10.
- Ebd.
- Vgl. Ulrich H. J. Körtner, Evangelische Sozialethik, Göttingen 32012, 21.
- Vgl. auch Ulrich H. J. Körtner, Liebe, Freiheit und Verantwortung, in: Richard Amesbury / Christoph Ammann (Hg.), Was ist theologische Ethik?, Zürich 2015, 29-47.
- Vgl. Hans Weder, Neutestamentliche Hermeneutik, Zürich 1986, 145ff.
- Walter Mostert, Ist die Frage nach der Existenz Gottes wirklich radikaler als die Frage nach dem gnädigen Gott?, in: ZThK 74 (1977), 86-122, 119.