Rita Breuer

Zur islamischen Präsenz in Deutschland

Wie viel kulturelle Differenz verträgt die Gesellschaft?

Etwa 4 bis 4,2 Millionen Musliminnen und Muslime leben heute in Deutschland, das sind etwa 5 Prozent der Gesamtbevölkerung, die sich in den alten Bundesländern und darüber hinaus in städtischen Ballungsgebieten konzentrieren. Exakte Angaben sind nicht möglich, da Religionszugehörigkeit in Deutschland nicht systematisch erfasst wird. Langfristige seriöse Prognosen zur demografischen Entwicklung sind kaum möglich, aber einen vorsichtigen Blick in die Zukunft können wir durchaus wagen. Über eine Million Muslime hat heute einen deutschen Pass; die Zahl der Einbürgerungen von Muslimen liegt derzeit bei 50 000 im Jahresdurchschnitt.2 Neben der im Vergleich zu früheren Jahren deutlich reduzierten Zuwanderung von Muslimen ist für die weitere zahlenmäßige Entwicklung vor allem das innere Bevölkerungswachstum der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland in den Blick zu nehmen. Dabei wird deutlich, dass die Geburtenrate muslimischer Familien im Durchschnitt etwas höher liegt als die nichtmuslimischer Familien, sich aber in weiten Teilen hiesigen Verhältnissen angepasst hat. Einzelnen kinderreichen Familien (die es nicht nur bei Muslimen gibt) steht eine zunehmende Anzahl von Kleinfamilien gegenüber. Wenn also ein exponentielles Wachstum der muslimischen Bevölkerung in Zahlen vorausgesagt wird, so müsste entweder die Geburtenrate der hier lebenden Muslime wenigstens dreimal so hoch sein wie die ihrer jeweiligen Herkunftsländer oder es tatsächlich zu scharenweisen Übertritten zum Islam ohne nennenswerte Gegenbewegung kommen. Das eine ist so unrealistisch wie das andere. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass die muslimische Wohnbevölkerung Deutschlands im Durchschnitt jünger ist als die Gesamtbevölkerung und damit die Zahl derer, die kurz- oder mittelfristig in die Familiengründungsphase eintreten, relativ hoch ist.

Auf der Grundlage der zur Verfügung stehenden Daten prognostiziert eine Studie der Universität Tübingen für das Jahr 2030 eine muslimische Gesamtbevölkerung in Deutschland von ca. 7 Millionen, was dann etwa einem Bevölkerungsanteil von 10 Prozent entsprechen könnte; das bedeutet einen spürbaren zahlenmäßigen wie prozentualen Anstieg und gleichzeitig weiterhin eine deutliche Minderheitensituation des Islam in Deutschland. Die muslimische Bevölkerung wird dann aber wohl eine vergleichbare Alterspyramide aufweisen wie die nichtmuslimische und sich weiter den hiesigen Geburtenraten angepasst haben – ein Prozess, der bereits heute weit fortgeschritten ist. Das spräche für die Zeit nach 2030 für eine Stabilisierung des muslimischen Bevölkerungsanteils.3 Darüber hinaus sind keine seriösen Prognosen zu treffen, zumal zahlreiche Faktoren wie Zeitgeist, Weltanschauung, wirtschaftliche und soziale Rahmenbedingungen, die die Kinderzahl beeinflussen, ebenso wenig absehbar sind wie das langfristige zahlenmäßige Gewicht von Religionswechseln zwischen Christentum und Islam.

Tausende Konversionen?

Die Zahl der Konversionen zum Islam wird von muslimischer Seite, aber auch von der effektheischenden Presse gerne in die Tausende jährlich und Zigtausende im Endergebnis hochgeschraubt. Hier ist mit aller Vorsicht zu entgegnen: Etwa 15 000 der hier lebenden Muslime sind gebürtige Nichtmuslime, also Konvertiten. Der jährliche Zuwachs liegt nach allen halbwegs seriösen Schätzungen zwischen 200 und 300. Das Islam-Archiv Soest kündigte 2006 eine bis heute nicht offiziell veröffentlichte Studie an, nach der binnen eines Jahres 5000 Deutsche zum Islam konvertierten. Obwohl bereits wenig später öffentlich darauf hingewiesen wurde, dass diese Zahlenangabe jeder seriösen Grundlage entbehre,4 wird sie wieder und wieder kolportiert. In diesem Zusammenhang wird häufig auch auf die vermeintlich großen Erfolge von Wanderpredigern wie Pierre Vogel hingewiesen, die bei Vortragsveranstaltungen auf der Stelle jeweils mehrere Personen für den Islam gewinnen und deren Konversion dann propagandistisch ausschlachten und ins weltweite Netz stellen. Diese auch unter Muslimen umstrittene Form der Werbung für den Islam lässt allerdings völlig offen, inwieweit die „Konversionen“ im Einzelfall authentisch oder gestellt sind. Pierre Vogel selbst will schon „Tausende“ zum Islam geführt haben; die Frage, wo die alle abgeblieben sind, kann er nicht beantworten. Dies mag den Verdacht bestätigen, dass immer dieselben Getreuen bei seinen Vorträgen wieder und wieder öffentlichkeitswirksam zum Islam konvertieren, andere hingegen dem exotischen Reiz des Augenblicks erliegen, sich bald aber innerlich wieder distanzieren. Was sonst soll man davon halten, wenn im vergangenen Sommer im Zuge der Koranverteilungsaktion „Lies!“ in vielen deutschen Städten junge Menschen vor laufender Kamera nach kurzem Überlegen und irgendwo zwischen Hertie und Kaufhof zum Islam konvertieren? Die Motive können vielfältig sein, aber eine ernsthafte und gereifte religiöse Entscheidung dürfte kaum dahinterstecken.

Große Heterogenität, niedriger Organisationsgrad

Nun ist allerdings die Frage, wie viel Islam wir hier verkraften können, wohl weniger eine quantitative als vielmehr eine qualitative.

Die in Deutschland lebenden Muslime stellen eine in sich äußerst heterogene Gruppe dar, angefangen von ihrer Herkunft und ihrer Abstammung über den Grad der Bildung und sozialen Zugehörigkeit bis hin zu ihrer Konfession und der persönlichen religiösen Ausrichtung. Ein sehr kleiner Teil der hier lebenden Muslime bekämpft die freiheitliche Demokratie aggressiv – sei es mit Gewaltbereitschaft oder auch in Form von Hasspredigten und einschlägiger Propaganda – und stellt so eine unmittelbare Bedrohung für die innere Sicherheit dar. Am anderen Ende der Fahnenstange befinden sich die sehr viel zahlreicheren säkularen bis areligiösen Muslime, die der Religion keinerlei Bedeutung beimessen oder sich sogar dezidiert davon distanzieren, aber dennoch formal und statistisch Muslime sind, da man aus dem Islam nicht austreten kann.

Insgesamt zeigen die in Deutschland lebenden Muslime wenig Neigung, sich religiös zu organisieren oder sich irgendwelchen Interessenvertretungen anzuschließen. Nur rund 20 Prozent von ihnen gehören religiösen Verbänden an, darunter die vier großen Islam-Verbände in Deutschland – Zentralrat der Muslime (ZMD), Islamische Gemeinschaft Milli Görüş (IGMG), Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ) und Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB) –, aber auch die Alevitische Gemeinde und kleine Gruppierungen. Diese Zahl scheint bereits relativ hoch gegriffen, bedenkt man, dass der ZMD dem Vernehmen nach über 22 Mitgliedsverbände verfügt, denen insgesamt etwa 12 000 Personen angehören, nach eigenen Angaben des ZMD sind es 30 000. Auch wenn die angenommenen absoluten Zahlen weit auseinanderklaffen, reden wir von 0,3 Prozent oder auch 0,75 Prozent der Muslime in Deutschland. Rein quantitativ hat also der Führungsanspruch des ZMD als Dialogpartner für Fragen des Islam in Deutschland keine Grundlage. Trotz einer gewissen Bandbreite, die innerhalb des ZMD gegeben sein mag, lässt er in jedem Fall eine klare Abgrenzung zum Islamismus vermissen. So finden sich im Verzeichnis der Mitgliedsorganisationen nicht nur islamistische und von den Sicherheitsbehörden beobachtete Organisationen wie die Islamische Gemeinschaft in Deutschland (IGD), sondern auch das schiitisch-islamische Zentrum Hamburg als direkte Vertretung der iranischen Geistlichkeit auf deutschem Boden sowie der Bundesverband für Islamische Tätigkeiten, deren Vorsitzender Metwali Mousa als langjähriger Imam an der Abu Bakr Moschee in Köln-Zollstock die Radikalisierung des Konvertiten Barino Barsoum zu verantworten hatte und sich für die Bestrafung derer aussprach, die sich öffentlich vom Islam lossagen.5

Die Rechtstreue des ZMD wird von seinen Repräsentanten betont, ist jedoch kritisch zu hinterfragen. „Muslime, die in einem Rechtsstaat leben, müssen sich an seine Rechtsnormen halten, solange diese nicht im Widerspruch zum Islam stehen“,6 so ist es auf der Homepage des ZMD in seiner Selbstdarstellung zu lesen. Das bedeutet eigentlich unmissverständlich, dass Muslime sich nicht an Gesetze zu halten haben, die sie als unislamisch empfinden, zumindest aber, dass diese Zugeständnisse unter strategischen Aspekten gemacht werden.

Die türkisch geprägten Organisationen wie der Islamrat (dominiert seinerseits von der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüş), der VIKZ und die DITIB kommen insgesamt auf etwa 330 000 Mitglieder, das sind knapp 13 Prozent der türkischstämmigen Muslime in Deutschland. Bei diesem geringen Organisationsgrad verwundert es nicht, dass sich kaum 25 Prozent der Muslime in der ersten Phase der Islam-Konferenz durch die daran teilnehmenden Verbände angemessen vertreten fühlten. Mit Ausnahme des Sonderfalls der Aleviten vertreten die Islam-Verbände durchweg eine sehr konservative bis fundamentalistische Islam-Auslegung.

Integrationshindernisse und Konfliktfelder

Auch unabhängig von der Verbandszughörigkeit ist nicht zu leugnen, dass ein erheblicher Teil der hier lebenden Muslime eine konservative religiöse Orientierung aufweist, die zumindest integrationspolitisch ein Problem darstellt. Das liegt zum einen in der Regelhaftigkeit des Islam begründet. Im Unterschied zum Christentum ist der Islam eine Religion mit zahlreichen konkreten Normen und Gesetzen, die das Alltagsleben der Gläubigen von den rituellen Vollzügen über die Ernährung und die Kleidung bis zum Ehe- und Familienalltag und zum Zusammenleben mit Nichtmuslimen regelt und nach sehr rigider Auffassung auch im Bereich des Strafrechts Anwendung finden muss. Hieraus entstehen, wie wir gleich an einer Reihe von Beispielen sehen werden, islamspezifische Integrationshindernisse, die andere Migrantengruppen nicht aufweisen und die die deutsche Gesellschaft wie auch die praktizierenden Muslime selbst vor ein Dilemma stellen.

Nicht weniges, was praktizierende Muslime und die sie vertretenden Verbände im Namen der Religionsfreiheit (Art. 4 GG) einfordern, verstößt gegen andere Regeln und Gesetze, zum Beispiel die allgemeine Schulpflicht, den Tierschutz oder auch den Gleichheitsgrundsatz, zeigt aber vor allem deutlich, dass Muslime und Christen nicht dasselbe meinen, wenn sie sich auf das Grundrecht auf Religionsfreiheit berufen und dieses für sich in Anspruch nehmen wollen. Artikel 4 Absatz 1,2 unseres Grundgesetzes besagt dazu: „(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. (2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“

Religionsfreiheit im Islam bedeutet nach klassischer Lesart allerdings zunächst die Freiheit der Muslime, ihren Glauben auszuüben. Daneben gewährt das islamische Recht den sogenannten Schriftbesitzern – Juden und Christen – die Möglichkeit, als Bürger zweiter Klasse im islamischen Staat zu leben, und schließlich bedeutet Religionsfreiheit die Freiheit aller, den Islam anzunehmen. Hingegen hat der Muslim nicht das Recht, zu einer anderen Religion zu konvertieren, Nichtmuslime dürfen zu keiner anderen Religion als dem Islam konvertieren, und es hat niemand im islamischen Hoheitsgebiet das Recht, einer anderen Religion als Judentum, Christentum oder Islam anzugehören oder auch offen auf jedes religiöse Bekenntnis zu verzichten. Diese Grundhaltung prägt mit graduellen Abstufungen insbesondere z. B. bezüglich der strafrechtlichen Verfolgung des Religionswechsels auch heute die soziale und rechtliche Realität islamisch geprägter Länder – ein eklatanter Verstoß gegen das westliche Verständnis von Gewissens- und Bekenntnisfreiheit. Direkt betroffen sind wir, wenn ehemalige Muslime auch hier in Angst leben, in aller Regel das Licht der Öffentlichkeit meiden und andernfalls unter Polizeischutz stehen, während wenige Straßen weiter fröhlich für den Islam geworben wird.

Wenn also der Widerspruch zwischen einem konservativ-islamischen Verständnis von Religionsfreiheit und dem westlichen Gegenkonzept offensichtlich ist, wird es bei der Auslegung der grundgesetzlich zugesicherten Freiheit der Religionsausübung diffiziler. Beabsichtigt war damit, die Freiheit der Ausübung des Ritus zu gewährleisten und den Bau entsprechender Kultstätten sowie die religiöse Unterweisung grundgesetzlich zu garantieren. Für die christliche Religionsausübung ist dieser rechtliche Rahmen im Großen und Ganzen ausreichend, denn die Ausgestaltung christlichen Lebens im Alltag obliegt in weiten Teilen der persönlichen Verantwortung der Gläubigen und kollidiert in aller Regel weder mit anderen Rechten noch mit sozialen Normen oder der öffentlichen Ordnung.

Der Islam ist im Unterschied dazu eine Religion, die nicht nur für den rituellen Bereich, sondern auch für Fragen des Alltags und des sozialen Zusammenlebens, des Familienrechts und des Strafrechts mit zahlreichen Regeln aufwartet, die nach konservativer Lesart auch im deutschen Kontext so weit wie möglich zur Anwendung zu bringen sind. So stützen muslimische Verbände ihren umfangreichen Forderungskatalog auf Artikel 4 des Grundgesetzes und subsumieren unter freier Religionsausübung deutschsprachigen islamischen Religionsunterricht, Lehrstühle für die Ausbildung islamischer Religionslehrer und Imame, die uneingeschränkte Genehmigung von Moscheebauten, die Erlaubnis des lautsprecherverstärkten Gebetsrufs, die Akzeptanz islamischer Kleidung in Schulen, Behörden und allen Bereichen des öffentlichen Lebens, die Beteiligung von Muslimen an den Aufsichtsgremien der Medien, die unbeschränkte Zulassung des muslimischen Schächtens, die partielle Befreiung muslimischer Kinder von der Schulpflicht, den staatlichen Schutz der beiden höchsten islamischen Feiertage, die Einrichtung muslimischer Friedhöfe und Grabfelder, die Gewährung zinsfreier Finanzierungsprodukte und Scharia-konformer Versicherungsangebote usw. Auch zur Schaffung paralleler Institutionen (zinsfreie Kreditinstitute, islamische Schulen) und zur parallelen Geltung islamischen Personenstandrechts gibt es mehr als erste Überlegungen. Von der Forderung einer umfassenden Geltung der Scharia in Europa ist man mehrheitlich weit entfernt, doch bleibt diese für viele gläubige Muslime die ideale Lebensordnung, der sie nicht grundsätzlich entsagen wollen, die sich aber in zentralen Punkten weder mit dem Grundgesetz noch mit den Menschenrechten verträgt. Kein Gesetz darf aber aus konservativ-islamischer Sicht den Menschen über Gott stellen und klare Weisungen aus Koran und Überlieferung relativieren.

Sonderregelungen für Muslime?

Die nicht selten übertriebene Bereitschaft zu Sonderreglungen für Muslime führt hierzulande zur Teilung von Rechten, die für alle gelten sollten, zur Benachteiligung muslimischer Mädchen und Frauen und zur Förderung parallelgesellschaftlicher Strukturen, die teilweise gerne in Kauf genommen und sogar als Modell für eine gesamtgesellschaftliche Lösung gesehen werden. Der in islamistischen Kreisen beheimatete langjährige Funktionär des Islamischen Zentrums München Ahmad von Denffer formuliert: „Unser Handeln und unsere Rollen als Muslime in der nichtmuslimischen Gesamtgesellschaft zielen gar nicht darauf ab, uns im engeren Sinn in diese Gesellschaft zu integrieren, sondern vielmehr darauf, diese Gesellschaft im Verlauf ihrer ohnehin und natürlicherweise stattfindenden Fortentwicklung und Veränderung zu befördern.“7 Angesichts solcher Entschlossenheit täte uns etwas mehr Achtung der eigenen Normen und Werte gut im Dialog mit dem Islam.

Sonderregeln für Muslime oder auch mit Rücksicht auf Muslime gibt es in vielen Bereichen seit Jahren. Das Speiseangebot in öffentlichen Einrichtungen von Kindergärten und Schulen über Kantinen, Mensen und Krankenhäuser bis zur JVA bietet Essen ohne Schweinefleisch an. Was über Jahre von muslimischer Seite als Entgegenkommen geschätzt wurde, genügt inzwischen vielen nicht mehr. Erzieherinnen mit einem hohen Anteil muslimischer Kinder aus traditionell-religiösen Familien beklagen beispielsweise, dass die Eltern ein totales Schweinefleischverbot im Kindergarten durchgesetzt haben. Das heißt, dass auch das nichtmuslimische Kind auf Leberwurst und Salami verzichten muss, damit das muslimische nicht versehentlich ins falsche Brot beißt. Mancherorts geht es noch weiter: Kindertagesstätten werden vegetarisch, weil strengen Muslimen auch Fleisch aus nichtislamischer Schlachtung suspekt ist. Auch damit nicht genug. Einzelne Eltern fordern darüber hinaus die Garantie, dass in dem Topf, in dem die Gemüsesuppe zubereitet wurde, nicht irgendwann schon einmal ein Stück Fleisch gelegen hat.

Diese Dinge kommen immer häufiger vor und bringen die oftmals von hohem interkulturellem Idealismus geprägten Erzieherinnen in Nöte. Wo ist die Grenze? Wem dürfen sie empfehlen, das Kind selbst zu bekochen, wenn alles, was die Kindertagesstätte zu bieten hat, nicht recht ist? Wer schützt sie vor dem Vorwurf des Rassismus und der Islamfeindlichkeit, der nicht lange auf sich warten lassen wird? Und was sollen sie machen, wenn demnächst auch andere Religionsgruppen oder die zahlreichen Allergiker, Vegetarier, Verfechter von Biokost etc. fordern, dass alle nach ihren Regeln leben? Und last but not least: Wo ist vielleicht sogar das Kindeswohl gefährdet, wenn die Teilnahme am normalen deutschen Leben aus einem Gefühl der Überlegenheit heraus unterbunden wird? Die betroffenen Erzieherinnen und in anderen Fällen Lehrerinnen, Sozialarbeiterinnen und ähnliche Berufsgruppen stehen in der Regel alleine da, müssen abwägen und entscheiden und können es nur falsch machen, denn oftmals fehlt bereits auf der nächsthöheren Verantwortungsebene die Entschiedenheit, für bestimmte Werte und Gepflogenheiten der deutschen Gesellschaft einzutreten.

Was hier über Jahre versäumt wurde, müsste dringend nachgeholt werden, aber das geht nur in einer gemeinsamen Kraftanstrengung, zu der die Zivilcourage fehlt. Stattdessen gibt es Schulen mit hohem muslimischem Anteil, die Klassenfahrten einfach abschaffen, an denen die muslimischen Kinder ohnehin nicht teilnehmen dürfen. Einheitliche Regelungen gibt es auch bis heute nicht bezüglich der Teilbefreiung von der Schulpflicht. Wenn nicht muslimische Eltern und vor allem die Verbände immer wieder erfolgreich Sonderregeln durchgesetzt hätten, die vor allem in der Befreiung muslimischer Mädchen vom Schwimm- und Sportunterricht bestehen, wäre dieser Dauerbrenner längst vom Tisch. Im Herbst 2012 wies der hessische Verwaltungsgerichtshof die Klage eines elfjährigen Mädchens auf Unterrichtsbefreiung mit der Begründung ab, der Bildungsauftrag des Staates, der aus guten Grund das Schwimmen einschließe, sei höher zu bewerten als die Religionsfreiheit der Klägerin.

Dieses staatlich verbürgte Recht wird von muslimischer Seite wieder und wieder ins Feld geführt, um Sonderrechte zu erstreiten, seine Verletzung beklagt, wenn das nicht durchgeht. Wenige Wochen später verließ eine Fünftklässlerin in Hildesheim das Gymnasium, in das sie eben erst eingeschult worden war. Die Eltern hatten bei Antragstellung nichts gesagt, nach der Aufnahme des Mädchens aber mitgeteilt, am Schwimmunterricht werde sie nicht teilnehmen. Auch den Ganzkörperbadeanzug werde man nicht als Lösung akzeptieren, da er nicht verhindere, dass das Mädchen Jungen in Badehose sehe. Die Reaktion der Familie ist nur möglich, weil es kein einheitliches Vorgehen in dieser Frage gibt und sich vermutlich eine andere, möglicherweise konkurrierende Schule findet, die dem Begehren nachgibt. Eine Sprecherin des Kultusministeriums ließ verlauten, die Schulpflicht umfasse auch den Schwimmunterricht, aber man sei zuversichtlich, eine einvernehmliche Lösung zu finden. Wie das angesichts der unüberbrückbaren Differenzen gehen soll, bleibt allerdings vorerst ungeklärt.

Das Harmoniebedürfnis ist nicht immer ein guter Ratgeber; klare und verbindliche Regeln, die die Gleichheit der Kinder und Jugendlichen an deutschen Schulen ungeachtet ihres Geschlechts und ihrer Religionszugehörigkeit untermauern, wären sicher hilfreich. Die Schule ist übrigens für viele der einzige Raum, in dem sie solche Werte lernen und erfahren können. Sollte man ihnen den vorenthalten? Die Frage ist, welchen Platz diese traditionell-religiöse Haltung in letzter Konsequenz greift. Kinder aus streng muslimischen Familien dürfen häufig nicht zur Geburtstagsfeier; es könnte Würstchen und Gummibärchen mit Gelatine geben, und wie der Umgang mit dem anderen Geschlecht ist, weiß man auch nicht so genau. Ist die Pubertät und damit die Geschlechtsreife erreicht, wird der Radius stark eingeschränkt, vor allem für die Mädchen. Nahezu alles, was den durchschnittlichen Lebensalltag Jugendlicher außerhalb der Schule ausmacht, ist jedenfalls in der hier üblichen Form verpönt: Kino, Disco, Sport, Freibad, Popmusik, Tanz und natürlich jede Form von engerem Kontakt zum anderen Geschlecht.

Häufig geht es aber gar nicht in erster Linie um die Religion und die religiöse Pflichterfüllung, sondern viel eher um einen Machtkampf. Der Berliner Streit um die Einrichtung von Gebetsräumen für muslimische Jugendliche ist dafür ein gutes Beispiel.8 Ein vierzehnjähriger Schüler des Diesterweg-Gymnasiums hatte mit seinen Eltern geklagt, nachdem ihm das Beten auf dem Flur untersagt worden war. Trotz des ersten Gutachtens zugunsten des Klägers lag dem Gericht die wichtige Information vor, dass die Pflichterfüllung im Islam – hier bezogen auf die fünf täglichen Ritualgebete – durchaus in Abhängigkeit von den jeweiligen Gegebenheiten und Lebensumständen des einzelnen Gläubigen zu sehen ist und es so zum Beispiel die Möglichkeit gibt, Gebete zeitlich zu verschieben oder zusammenzulegen, wenn es die Situation erfordert. Das Verwaltungsgericht entschied in erster Instanz gegen die Flexibilität und für den Dogmatismus und machte es der Schule zur Auflage, dem Jungen mindestens einmal täglich die Möglichkeit zum Gebet während der Schulzeit einzuräumen. Da die Schulleitung den „werbenden und demonstrativen Charakter“9 des Gebetes erkannt hatte und andere Schüler davor schützen wollte, entschied sie sich für die Einrichtung eines separaten Raumes, nicht ohne auf die Notwendigkeit der Gleichbehandlung aller Schülerinnen und Schüler hinzuweisen, die man gar nicht würde gewährleisten können. Doch dann geschah etwas Merkwürdiges: Der jugendliche Kläger zeigte wenig Neigung zur Erfüllung der religiösen Pflicht, der Gebetsraum wurde offenkundig kaum genutzt. Allem Anschein nach hatten ihn die Eltern und insbesondere der Vater – ein Konvertit – für eine Machtdemonstration instrumentalisiert. Inzwischen machte das Beispiel Schule, sodass nach und nach weitere Anträge auf Einrichtung islamischer Gebetsräume in öffentlichen deutschen Schulen gestellt wurden, die man unter Verweis auf das anstehende Revisionsurteil zunächst auf Eis legen konnte. Vor dem Oberverwaltungsgericht siegte der Berliner Senat in zweiter Instanz – es gibt kein Recht auf Verrichten islamischer Ritualgebete während der Unterrichtszeit. Auch wenn es gerne und immer wieder anders dargestellt wird: Es geht hier nicht um eine Benachteiligung der Muslime oder gar Beschränkung ihres Rechtes auf freie Religionsausübung, sondern vielmehr um eine Ablehnung ihrer Privilegierung auf Kosten der Gemeinschaft.

Auch unter dem Eindruck des sich ausbreitenden Salafismus sollte hier keine falsche Toleranz geübt werden. Salafisten erteilen der Integration eine noch viel umfassendere Absage, lehnen demokratische Wahlen ebenso ab wie Kontakte zu Nichtmuslimen außer zum Zwecke der Mission, propagieren die Vollverschleierung der Frauen und die konsequente Meidung alles Unislamischen.

Scharia-Recht in Deutschland?

Scharia-Recht wird übrigens auch von deutschen Anwälten vertreten und in deutschen Gerichten gesprochen, und zwar insbesondere im Bereich des Ehe- und Familienrechts, das auf einer Ungleichheit der Geschlechter und einer Übermacht des Mannes beruht.

Grundlage dafür ist das Internationale Privatrecht, das davon ausgeht, dass eine im Ausland geschlossene Ehe im Bewusstsein der dort geltenden Rechtslage eingegangen wurde und es insofern eine Art Rechtssicherheit darstellt, wenn dieses Recht im Konfliktfall auch in Deutschland Anwendung findet. Für eine Ehe, in der beide Partner muslimisch sind und die in einem muslimischen Land geschlossen wurde, kann das konkret bedeuten, dass beispielsweise die einseitige Privilegierung des Vaters bei der Vergabe des Sorgerechtes auch hier Anwendung findet oder dass eine legal geschlossene polygame Ehe zur sozialversichungsmäßigen Berücksichtigung aller Ehefrauen führen muss.

Die Grenze der Anwendbarkeit ist der Ordre Public, das öffentliche Rechts- und Normenempfinden. Der Zuspruch des Sorgerechts an den Vater ist auch in Deutschland denkbar und gilt so als akzeptabel, obgleich die islamische Begründung, dass hierfür grundsätzlich der Mann die privilegierte Person sei, natürlich inakzeptabel ist. Der Verzicht auf einen nachehelichen Unterhaltsanspruch der Ehefrau hingegen würde gegen den Ordre Public verstoßen.

Die Anwendung islamischer Rechtsnormen ist dabei vollkommen unabhängig von der persönlichen religiösen Bindung der Betroffenen, die möglicherweise sogar vor religiöser Gerichtsbarkeit geflohen sind. Unlängst musste die Witwe eines Iraners in München erleben, was das bedeutet. Nach vierzigjähriger Ehe verstarb der Mann und hatte seine deutsche Frau zur Alleinerbin eingesetzt. Das Nachlassgericht, bei dem das Testament Jahre zuvor hinterlegt worden war, hatte versäumt darauf hinzuweisen, dass für den Gatten mangels deutscher Staatsangehörigkeit iranisch-islamisches Erbrecht gelte, und danach darf die Ehefrau maximal ein Viertel des Erbes erhalten, der Rest geht an unter Umständen weitläufige Verwandte. Diese klagten und hatten Erfolg. Der Witwe wurden Dreiviertel des Erbes vorenthalten, dem Witwer posthum das Recht abgesprochen, über sein Vermögen zu verfügen – ein ebenso reales wie erschreckendes Beispiel dafür, dass auch hier der Gleichheitsgrundsatz zugunsten islamischer Rechtsnormen relativierbar sein kann.

Der Journalist und Kriminologe Joachim Wagner hat unlängst in seiner Studie „Richter ohne Gesetz: Islamische Paralleljustiz gefährdet unseren Rechtsstaat“ (2011) auf das Problem muslimischer Paralleljustiz oder auch Selbstjustiz hingewiesen und damit ein Tabu gebrochen. Er problematisiert darin, dass insbesondere in Großstädten und Vierteln mit hohem muslimischem Bevölkerungsanteil Konflikte „untereinander“ und unter Hinzuziehung eines sogenannten „Friedensrichters“ gelöst werden. Konkret bedeutet das, dass beispielsweise ein Delikt im Bereich der Körperverletzung mit Täter und Opfer und den betroffenen Familien verhandelt und nach islamischem Recht ein Ausgleich meist finanzieller Art gefunden wird. Den deutschen Behörden wird der Vorfall entweder erst gar nicht gemeldet, oder die Verhandlung wird durch Aussageverweigerung, Zurückziehen von Anzeigen, gezielte Irreführung des Gerichtes u. Ä. boykottiert. Auch Familienzwistigkeiten und sogar Mordfälle werden offenkundig immer häufiger in der Moschee verhandelt, und die verachtete deutsche Gerichtsbarkeit wird auf diesem Wege entmachtet.

Fazit

Kommen wir zurück zu der Frage: Wie viel kulturelle, wie viel religiöse Vielfalt unsere Gesellschaft denn nun eigentlich verträgt. Muslime haben wie alle Menschen im Geltungsbereich unseres Grundgesetzes das uneingeschränkte Recht auf freie Religionsausübung. Es gibt zahlreiche Musliminnen und Muslime in Deutschland, die einen Islam leben, der demokratiefähig, modern und gleichberechtigt ist. Aber was ist, wenn dieses Recht so verstanden und ausgeübt wird, dass es mit anderen Rechten kollidiert?

Der Islam ist eine regelbehaftete Religion, die bei traditioneller Befolgung spezifische Integrationshindernisse mit sich bringt. Das islamische Rechts- und Normensystem (Scharia) führt bei konsequenter Anwendung zur Ungleichbehandlung der Menschen aufgrund ihres Geschlechts und ihrer Religionszugehörigkeit und verletzt Grund-, Freiheits- und Menschenrechte.

Die Beantwortung der gestellten Frage kann daher nicht allgemein verbindlich ausfallen, sondern nur Ausfluss einer persönlichen, vielleicht aber auch gesamtgesellschaftlich konsensfähigen Werthaltung sein. Sie muss sich letztlich der Frage stellen, wie bedingungslos wir hinter der freiheitlichen Demokratie stehen, wie unteilbar wir für die Geltung und Durchsetzung der Menschenrechte eintreten und welche Bedeutung der christliche Glaube oder auch die christliche Prägung Deutschlands für uns noch hat. All diese Werte stehen nicht per se mit den Musliminnen und Muslimen, sondern mit bestimmten konservativen Ausprägungen des islamischen Glaubens im offenen Konflikt.


Rita Breuer, Aachen


Anmerkungen

  1. Überarbeitete Fassung eines Vortrags bei der EZW-Tagung für Weltanschauungsbeauftragte zum Thema „Überzeugte Toleranz stärken“ am 14.5.2013 in Hildesheim.
  2. Vgl. www.remid.de. Zum Vergleich: 1945 lebten in Deutschland 6000 Muslime, 1971: 250 000, 1976: 1 200 000, 1995: 2 700 000.
  3. Vgl. https://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/bitstream/handle/10900/46269/pdf/Islam_in_Deutschland_Prognose_2030_Seminarbericht.pdf?sequence=1&isAllowed=y
  4. Vgl. www.wdr.de/themen/kultur/religion/islam/alltag/zahlen.html.
  5. Vgl. hierzu die WDR-Sendungen „Koran im Kopf“ I und II.
  6. http://islam.de/1641.php.
  7. Ahmad von Denffer, Verbietet das deutsche Recht das Leben der Muslime nach der Scharia?, unter http://web.archive.org.web20031217174702http:i-g-d.com.
  8. Vgl. Friederike Haller, Gebetsräume in öffentlichen Schulen?, in: MD 6/2008, 233f; Friedmann Eißler, Islamisches Gebet an der Schule, in: MD 11/2009, 425f.
  9. Der Tagesspiegel vom 22.5.2010.