Zur Magie des Jesusnamens
Eine Neujahrs-Betrachtung
Ein Gottesdienst am 1. Januar wurde ursprünglich nicht wegen des Beginns des neuen Jahres gefeiert, sondern weil dieser Tag der achte Tag nach der Geburt Jesu ist. Am 1. Januar begeht die Kirche das Fest der Beschneidung und Namensgebung Jesu (nach Lukas 2,21). Es gibt nun aber mehrere Indizien dafür, dass diese Bedeutung des Tages in Vergessenheit gerät: Nicht selten wird am 1. Januar überhaupt kein Gottesdienst mehr angeboten.1 Und wenn, dann wird meist nicht mehr die Bedeutung der Beschneidung und Namensgebung Jesu thematisiert, sondern am 1. Januar wird die Passage vom alten zum neuen Jahr begangen – der Neujahrsgottesdienst als Passageritus. Vielfach hat sich die Praxis eingebürgert, an diesem Tag (oder, falls kein Gottesdienst am 1. Januar stattfindet, am vorangehenden Silvesterabend) über die Losung des neuen Jahres zu predigen. Und gern wird an der Schwelle zum neuen Jahr gesungen: „Jesus soll die Losung sein“ (EG 62).
„Jesus soll die Losung sein“
Betrachten wir die Aussagen dieses Liedes von einer repräsentativen Kennzeichnung des Phänomens Magie her, so legt sich nahe, von einer Magie des Jesusnamens zu sprechen. Anton Quack beschreibt im Lexikon der Religionen die Magie folgendermaßen: Magie „umfaßt die rituellen Handlungen und Verhaltensweisen, mit denen Menschen versuchen, auf Dinge und Ereignisse einzuwirken, die jenseits ihres normalen Einflußbereiches liegen. Magier benutzen Gegenstände und/oder Worte, denen sie automatische, mechanistische Wirkungsweisen zuschreiben. Erreicht wird die Wirkung magischer Handlungen durch eine diesen immanente Kraft.“2
Von der „Kraft“ und „Wirkung“ des Jesusnamens handelt das genannte Lied: Das Wissen und das Aussprechen des Namens Jesus ermächtigt diejenigen, die ihn kennen. Dieser Name „wirkt“. Er schützt und tröstet, gerade auch in den Gefühlen der Unsicherheit und Gefährdung, die sich beim Jahreswechsel einstellen können. Er ist das Losungswort, das Erkennungszeichen der Eingeweihten: „Jesus soll die Losung sein, da ein neues Jahr erschienen; Jesu Name soll allein denen zum Paniere3 dienen, die in seinem Bunde stehn und auf seinen Wegen gehn.“ Die weiteren Strophen charakterisieren den Jesusnamen als „Leitstern“, dessen „Gnadenschein“ „vollen Segen“ garantiert; der Jesusname versüßt „alle Sorgen, alles Leid“, und „so wird alle Bitterkeit uns zu Honig4 werden müssen“; er stillt „allen Kummer“. Und was das neue Jahr betrifft – „Auch fürs neue Jahr uns beut [= bietet] / Jesu Name Seligkeit.“5
Hier wird „alles“ allein vom Namen Jesu erwartet. Warum das bei diesem Namen möglich sein kann, wird gar nicht gesagt. Es wird nur geschildert, wie der Name wirkt und funktioniert. Insofern erhält er, in Anlehnung an die obige Definition, „magische“ Züge.
Nun mag die Zuordnung dieses frommen Liedes zur Namensmagie als befremdlich erscheinen, ja – sensibilisiert durch den Karikaturenstreit – als Verspottung einer christlichen Glaubensaussage. Warum die Einschätzung eines christlichen Liedes als „Magie“ so provozierend wirken kann, erläutert das Märchen der Brüder Grimm vom Rumpelstilzchen, ein Paradebeispiel für Namensmagie. Nachdem das zur Prinzessin gewordene arme Mädchen den Namenszauber gebrochen und das „Männlein“ mit seinem Namen angeredet hat, reagiert dieses mit den zornigen Worten „Das hat dir der Teufel gesagt!“ Magie hat also mit dem Teufel zu tun; sie wird mit Aberglauben und Zauberei assoziiert. Eben dies zeigt die Wortfeldforschung.
Das Wortfeld „Magie“
Im „Dornseiff“6 wird das Wort Magie zwar dem Thema „Religion“ zugeordnet, steht dort aber unter „Aberglaube, Zauberei“. Das nähere Wortfeld von „Magier“ wird durch vorwiegend negativ wertende Konnotationen bestimmt; die Nachbarbegriffe lauten: Astrologe, Geisterbeschwörer, Hexenmeister, Horoskopsteller, Medizinmann, Schamane, Teufelsbanner, Zauberer, falscher Prophet. Entsprechend verhält es sich auch beim Wort „Magie“: Astrologie, Dämonenbeschwörung, Geisterseherei, Hexerei, Nekromantie, Okkultismus, Spiritismus, Teufelskunst, Wettermacherei, Zauberei, Abwehrzauber.
Diesen sprachlich tief verwurzelten, negativ wertenden Assoziationen von Magie entsprechen häufige Aussagen christlicher Apologetik, die das Eigentümliche des Christlichen gerade als nicht-magisch verstehen. Das Wort „magisch“ wird als Fremdbezeichnung für mit dem christlichen Glauben bzw. der „Religion“ unvereinbare Anschauungen und Glaubensweisen benutzt. Um hierfür nur ein exemplarisches Zitat aus dem „Panorama der neuen Religiosität“ anzuführen: „...In der Religion stehen Gott und Gnade im Mittelpunkt, in der Magie der Mensch und die von ihm gesetzte magische Handlung.“7 „Magisch“ ist also als Fremdbezeichnung ein negativ wertendes Urteil zur Charakterisierung von Anschauungen und Praktiken, die als unvereinbar mit dem christlichen Glauben eingestuft werden.
Ein etwas anderes Bild ergibt das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm.8 Die vergleichsweise knappen Informationen zu „Magie“ und „magisch“ weisen hin auf eine doppelte Bedeutung dieser Wörter, die seit dem fortgeschrittenen 17. Jahrhundert sich in deutscher Form einbürgern. Einmal gibt es das oben schon erwähnte Verständnis von Magie im Sinne von Zauberkunst oder „Schwarzkunst“; berühmtester Beleg hierfür ist Goethes Faust I: „drum hab ich mich der magie ergeben, / ob mir, durch geistes kraft und mund, / nicht manch geheimnis würde kund.“ Aber daneben finden sich, gerade bei unseren Klassikern, Belege für ein „freieres“ Verständnis im Sinne von „Zauberkraft, geheimnisvolle Kraft“, so dass Magie bzw. magisch etwas geheimnisvoll Anziehendes, Schönes und Beglückendes ausdrückt. So bei Wieland im Oberon: „oft brachte die magie von einem sonnenblick / auf einmahl aus der gruft der schwermuth ihn zurück.“ Und in Schillers Don Carlos heißt es: „...der schönheit hohe, himmlische [!] magie“. Seume schließlich (in seinem Spaziergang nach Syrakus von 1802) charakterisiert mit „magisch“ gedankliche und künstlerische Spitzenleistungen: „der ideengang hat etwas magisches“; „diese schöne, reiche kunstkaskade schlieszt den grund der partie. man wird selten irgendwo so etwas magisches finden.“
Wir haben also einen doppelten sprachgeschichtlichen Befund: Das Urteil „Magie“ kann die Ablehnung befremdlicher Praktiken ausdrücken, ist also negativ. Aber es kann auch Bewunderung und vorbehaltlose Anerkennung aussprechen. Dann wird nicht etwas als fremd und unvereinbar mit der eigenen Überzeugung abgewiesen, sondern „Magie“ charakterisiert in diesem Fall ein durchaus positiv gewertetes Phänomen, dem Bewunderung gezollt wird und das insofern die eigene Auffassung bekräftigt. Kurz gesagt: Als Fremdbezeichnung ist Magie etwas Teuflisches, als Selbstbezeichnung etwas Himmlisches.
Dass sogar der Name Jesus für sich allein – und insofern explizit „magisch“ – wirkt und dass dies keineswegs in kritischer Absicht gemeint ist (etwa aus apologetischer Perspektive), dafür steht ausgerechnet Nikolaus Graf Ludwig von Zinzendorf, der Gründer von Herrnhut und „Erfinder“ der „Losungen“, den ursprünglich in Herrnhut mündlich weitergegebenen biblischen Tagesparolen.
Der Name Jesus hat „eine magische, göttliche Kraft“
Diese eigenartige Formulierung verwendete Zinzendorf 1740 auf einer Synode in Marienborn beim Vortrag seines Anliegens, die Missionare sollten bei ihrer Predigt unter den Heiden mit der Verkündigung des gekreuzigten Heilands einsetzen. Von daher lehnt er „zwei falsche Methoden“ ab: „1) Dass man ihnen zuviel von Gott sagt und nicht vom Lamme und seiner Versöhnung... 2) Dass man ihnen bei der Verkündigung des Evangelii zuerst vom Vater und denn [dann] von seinem Sohn vorsagt.“ Die missionarische Situation erfordere es also, nicht mit der Dreieinigkeit zu beginnen und zu Anfang auch von „des Heilands Gottheit“ zu schweigen. Wichtig sei ausschließlich, dass den Heiden „Jesum und sein Kreuz und Tod wahrhaftig ans Herz geredet“ werde. Alles Weitere ergebe sich dann wie von selbst. Im Grunde reiche es aus, „den Heiland nur bei seinem Namen Jesus“ zu nennen: „Es liegt in dem Namen schon was besonders. Er hat so zu reden eine magische, göttliche Kraft und greift die Herzen an.“9
Es ging Zinzendorf bei dieser Rede darum, dass die Predigt des Evangeliums nicht zunächst bei einem spekulativen oder allgemeinen Begriff von Gott einsetzt, sondern sich ohne jede Anknüpfung sofort und zuallererst auf den Gekreuzigten ausrichtet. Vom Glauben an ihn aus ist es dann den Menschen „leicht“, auch „den Vater und den Heiligen Geist“ zu „glauben“; mit dieser Ausrichtung auf den Jesusnamen als auf die Mitte des Evangeliums ist für Zinzendorf sichergestellt: „die Vernunft mengt sich nicht so mehr ein“. Aus dieser Überzeugung heraus kann Zinzendorf von der magischen Kraft des Namens Jesus reden; seine göttliche Qualität gewinnt die menschlichen Herzen.10
Auffällig ist die Kennzeichnung der dem Namen Jesus innewohnenden Kraft und Magie deshalb, weil mit „magisch“ keine abzulehnende Position charakterisiert, sondern kreuzestheologisch die Glauben schaffende Wirkung des Heilands bezeugt wird. Polemisch ist die These von der Selbstwirksamkeit des Jesusnamens bei Zinzendorf freilich in ganz anderer Hinsicht, nämlich insofern, als durch sie die „pietistische“ Bußlehre und Bemühung um die eigene Bekehrung zurückgewiesen wird; entscheidend ist allein das ausschließliche Wirken Gottes. Eben dies ist mit dem Ausdruck „magische, göttliche Kraft“ gemeint.11
Zinzendorf repräsentiert so eine Position, die das Wort magisch als Selbstbezeichnung des Kerns des christlichen Glaubens verwenden kann. Die „magische, göttliche Kraft“ des Jesusnamens macht allen menschlichen Bekehrungseifer und damit auch alle Manipulation unnötig.
Merkposten zum neuen Jahr
Es ist hier unmöglich, in die fast unüberschaubare Diskussion über das Verhältnis von Magie und Religion einzutreten. Aber der Fall Zinzendorf ist doch sehr bedenkenswert. Er zeigt: Die Grenze zwischen Religion und Magie kann verschwinden. Die These „Organisierte Religion versus Magie“12 ist problematisch. Es ist zwar angesichts der vielfach vollzogenen Abgrenzungen des Christlichen gegen alles „Magische“ einleuchtend, wenn religionswissenschaftliche Analysen das Urteil „magisch“ als Abwehrreaktion einer Religion gegenüber solchen religiösen Praktiken und Anschauungen interpretieren, die als unvereinbar mit dem eigenen Glauben angesehen werden. „Magie“ wird demnach zu einem Gegenbegriff von Religion.13
Aber demgegenüber zeigte sich bei Zinzendorf, dass er nicht Religion gegen Magie stellt, sondern Magie als eminent positive innerreligiöse Kategorie zur Sprache bringt. In Zinzendorfs dezidiert gewaltfreier Missionsauffassung repräsentiert der Name Jesus das unverwechselbar Christliche. Die „Macht“ dieses Namens beruht auf der Ohnmacht seines gekreuzigten Trägers. Die „magische, göttliche Kraft“ des Jesusnamens wirkt befreiend. Sie löscht alle Ängste, einschließlich der Berührungsängste vor „Magie“. Insofern bestätigt Zinzendorf auf seine Weise die oben in Anmerkung 2 zitierte These, Magie sei kein Gegensatz zur Religion, sondern ihre Erscheinungsform.
Freilich wird, indem Zinzendorf dem „Namen des Heilands“ jene „magische, göttliche Kraft“ zuschreibt, dem Wort magisch die Bedeutung genommen, die ihm häufig zugeschrieben wird, nämlich die Bedeutung: Ausübung von Manipulation zu eigenen menschlichen, auch religiösen, Interessen. Im Gegenteil: Zinzendorfs Erfahrung von der göttlichen Magie des Jesusnamens ist bei ihm unlösbar verbunden mit der Praxis christlicher Gelassenheit, immer wieder auch mit Humor, und mit der Abkehr von aller Aggressivität gegenüber den „Heiden“. Erlösung ist menschlich nicht machbar. Der „Name“ allein wirkt. Darin ist Zinzendorf aktuell – auch im neuen Jahr.
Hermann Brandt, Erlangen
Anmerkungen
1 Zu den Gründen und Folgen dieser problematischen Entwicklung werde ich mich äußern im Beitrag: Was feiern Christen am 1. Januar?, in: Jahrbuch des Martin-Luther-Bundes, Erlangen 2008.
2 Lexikon der Religionen, 3. Aufl., Freiburg u.a. 1996, 382f. Für Quack gehört Magie „zu den alltäglichen Erscheinungsformen der Religion [!]; sie dient dazu, bestimmte Ereignisse zu erklären bzw. bestimmte Wirkungen zu erzielen.“
3 So die Originalfassung, jetzt abgeschwächt zu „heut zum Zeichen...“ (EG 62,1).
4 Im EG (wie auch in anderen Gesangbüchern) abgeschwächt zu „Freude“, siehe EG 62,4. Mit dem plastischen Wort Honig gehen auch seine biblischen Bezüge verloren; vgl. dazu meine Predigt „Vom Schmecken des Wortes Gottes“, in: Hermann Brandt, In der Spur Gottes, Erlangen 2000, 107-111.
5 Die betreffende Strophe fehlt im EG und vielen anderen Gesangbüchern; als zusätzliche dritte Strophe ist sie enthalten im „Gesangbuch für die Evangelisch-methodistische Kirche“, 4. Aufl. 1983, Lied 41.
6 Franz Dornseiff, Der deutsche Wortschatz nach Sachgruppen, 5. Aufl., Berlin 1959, 511f.
7 Reinhard Hempelmann u.a. (Hg.), Panorama der neuen Religiosität, Gütersloh 2001, 216; vgl. auch die Aussagen zum Stichwort „Magie“ in: Andreas Fincke / Matthias Pöhlmann, Kompass. Sekten und religiöse Weltanschauungen, Gütersloh 2004, 136.
8 Die folgenden Zitate nach: Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 12, 1445f.
9 Zitate in heutiger Orthographie aus: Helmut Bintz (Hg.), Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Texte zur Mission, Hamburg 1979, 60-69.
10 Aktuelle Kurzinformationen zu Zinzendorf in den Artikeln „Zinzendorf“ von Hans Schneider bzw. Dietrich Meyer, in: TRE, Bd. 36 (2004), 691-697, bzw. in: RGG, 4. Aufl., Bd. 8 (2005), 1871-1873.
11 So erklärt Zinzendorf die pietistische Bußlehre und den Kampf um die eigene Bekehrung rundheraus für unbiblisch: Er hält „denselben Bußkampf, da sich der Mensch durch selbst-gemachte Angst und künstliche inner- oder äußerliche Übungen zur Vergebung der Sünden praeparieret, für ein dummes, dabei aber doch seelen-gefährliches Wesen“. „Dass man die Leute zu einem Kampf ermahnen soll, das habe ich in meiner Bibel nie gelesen, auch kein einzig approbiertes Exempel bei den Bekehrungen, die Jesus und seine Apostel verursacht, gefunden“, bei Theodor Wettach, Kirche bei Zinzendorf, Wuppertal 1971, 148-150. A.a.O. auch erstaunliche Aussagen Zinzendorfs zur religiösen Toleranz, 159-161.
12 So im Wikipedia-Artikel „Magie“.
13 Vgl. z.B. Hartmut Zinser, Was ist Magie? Magie ist die Religion der Anderen, in: Ders., Der Markt der Religionen, München 1997, 93-109: Theologie (und Wissenschaft!) verwenden das Wort Magie als „Ausgrenzungsbegriff“; es wird als Verdikt benutzt, durch das eine Religion eine andere, „fremde“, von sich ausgrenzt und herabsetzt. – Zinzendorf ist darin eine bemerkenswerte Ausnahme, dass er die gängige Entgegensetzung von eigener Religion und fremder Magie souverän missachtet hat.