Zur Praxis des Gemeinschaftsentzugs
Die Verbraucherzeitschrift „Schweizerischer Beobachter“ hat im Februar 2016 unter dem Titel „Es war, als gäbe ich mein Hirn ab“ die berührende Lebensgeschichte eines Aussteigers aus der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas porträtiert. Besonders die soziale Isolation von seiner Frau und seinen Freunden, die weiter Teil der Religionsgemeinschaft geblieben waren, beschrieb der 63-jährige Ingenieur als belastend. Der Journalist fragte bei der Pressestelle der Zeugen Jehovas nach, was es mit dem „Gemeinschaftsentzug“ bei den Zeugen Jehovas auf sich habe, und erhielt folgende Antwort: „Gibt jemand seine Mitgliedschaft in der Religionsgemeinschaft auf, gebietet die Bibel, gesellschaftliche Kontakte mit dieser Person zu meiden. In der Familie bleibt jedoch das normale Zusammengehörigkeitsgefühl erhalten.“1
Dieser Aussage widersprach die Züricher Beratungsstelle „Infosekta“ mit Belegen aus der Wachtturm-Literatur und der eigenen Beratungspraxis vehement. So behaupte ein Aufsatz in der Wachtturm-Studienausgabe vom 15. April 2015: „Gemeinschaftsentzug – ein Ausdruck der Liebe“.2 Darin heißt es: „Familienmitglieder können ihre Liebe zur Versammlung und zum Missetäter zeigen, wenn sie den Gemeinschaftsentzug respektieren. Julian erzählt: ‚Er war nach wie vor mein Sohn, aber sein Lebenswandel stand zwischen uns.’“ Die Gläubigen werden angewiesen, so belegt Infosekta mit weiteren Zitaten aus der Studienausgabe, sich konsequent an das Kontaktverbot zu halten. „Alle in der Versammlung können grundsatztreue Liebe zum Ausdruck bringen, indem sie sich weder mit dem Ausgeschlossenen unterhalten noch mit ihm Umgang haben (1. Kor. 5:11; 2. Joh. 10,11). Dadurch unterstützen sie die Zuchtmaßnahme, die eigentlich von Jehova kommt … Darüber hinaus können sie die Familienangehörigen des Ausgeschlossenen, die ja erheblich leiden, besonders liebevoll behandeln und ihnen Mut machen. Ihnen darf nicht das Gefühl vermittelt werden, sie seien ebenfalls ausgeschlossen (Röm. 12:13, 15). Julian sagt abschließend: ‚Wir brauchen den Gemeinschaftsentzug. Er trägt nämlich dazu bei, Jehovas Maßstäbe hochzuhalten. Trotz des Schmerzes, den er verursacht, ist er auf lange Sicht zum Besten. Hätte ich das schlechte Verhalten meines Sohnes toleriert, wäre er nie zurückgekommen.’“
Infosekta beklagt, dass die Loyalität gegenüber der Organisation mit der Loyalität gegenüber Jehova gleichgesetzt und über alles gestellt werde, selbst über engste familiäre Beziehungen: „Die Loyalität, die bis heute ein Kennzeichen der Organisation Jehovas gewesen ist. Sie muss gegenüber jeder menschlichen Beziehung – zum Beispiel gegenüber nahen Verwandten – vorrangig sein. Sollte ein naher Verwandter im Namen Jehovas Falschheit prophezeien, das heisst, sollte er der Königreichsbotschaft widersprechen und versuchen, andere in der Versammlung des Volkes Gottes in seinem Sinne zu beeinflussen, so müssen seine Angehörigen irgendwelche Massnahmen, die das Rechtskomitee der Versammlung trifft, loyal unterstützen“ (Der Wachtturm, 1. Juli 1983, 24).
Als weitere Quelle führt Infosekta die Zeugen-Jehovas-Broschüre „Wachsamkeit dringend nötig“ (2004, 30) an, in der I. Y. aus Japan berichtet: „In meinem Fall war die Person, die mir nahesteht und einen ‚fragwürdigen Lebenswandel’ führt, nicht nur meine Freundin, sondern auch meine unersetzliche, liebenswürdige Mutter. Ich wandte mich wegen ihrer Situation schließlich an die Versammlungsältesten, und sie wurde aus der Versammlung ausgeschlossen. Ich machte mir Vorwürfe, weil ich mit den Ältesten gesprochen hatte. Jetzt bin ich entschlossen, gegen meine unangebrachten Schuldgefühle anzukämpfen und die Anregungen in dem Artikel zu befolgen.“
Infosekta wirft der Pressestelle von Selters vor, dass die Auskunft an den Journalisten, in der Familie bleibe das normale Zusammengehörigkeitsgefühl erhalten, angesichts der eindeutigen Aussagen aus den eigenen Schriften schlichtweg falsch sei. Leider bestätigen nicht nur die Beratungsfälle bei Infosekta den Befund, dass gerade bei den Zeugen Jehovas viele Familien und Beziehungen zerstört werden.
Anmerkungen
- Beat Camenzind, Zeugen Jehovas: Es war, als gäbe ich mein Hirn ab, in: Der Schweizer Beobachter 3/2016, www.beobachter.ch/justiz-behoerde/buerger-verwaltung/artikel/zeugen-jehovas_es-war-als-gaebe-ich-mein-hirn-ab (Abruf: 8.2.2016).
- www.jw.org/de/publikationen/zeitschriften/w20150415/gemeinschaftsentzug-ausdruck-von-liebe (Abruf: 8.2.2016).