Islam

Zwanzig Jahre alevitische Gemeinde in Deutschland

(Letzter Bericht: 8/2006, 283ff) Anlässlich des 20-jährigen Bestehens des Dachverbandes „Alevitische Gemeinde Deutschland e. V.“ (AABF, Sitz in Köln) fand am 6. März 2009 in Berlin ein Festakt statt, zu dem Repräsentanten aus Politik und Gesellschaft, Verbandsvertreter und Medien eingeladen waren. Offizielle türkische Vertreter folgten der Einladung nicht.

Rund 400 000 bis 600 000 Aleviten, die mehrheitlich aus der Türkei zugewandert sind, leben in Deutschland. In über 120 alevitischen Kulturzentren beteiligen sie sich landesweit am kommunalen Leben. Spätestens seit der friedlichen Großdemonstration gegen einen wegen seiner Inzestthematik im alevitischen Milieu als diskriminierend empfundenen „Tatort“-Krimi Ende 2007 sowie dem Brand in Ludwigshafen am 3.2.2008, bei dem neun Aleviten den Tod fanden, werden Aleviten in der deutschen Öffentlichkeit gerade auch in ihrer Unterschiedenheit vom mehrheitlich sunnitischen türkischen Islam wahrgenommen.

Das Alevitentum teilt die Ursprungsgeschichte und manche Glaubensinhalte mit dem schiitischen Islam, entwickelte sich jedoch als eigenständige religiöse Tradition unter Aufnahme von iranischen, schamanistischen, christlichen, sufischen und anderen Einflüssen seit dem 13. Jahrhundert in Anatolien. Heute werden die Gleichberechtigung von Mann und Frau und die humanistisch-universelle ethische Ausrichtung hervorgehoben.

In der Türkei eine unterdrückte Minderheit, nehmen die unterschiedlichen alevitischen Richtungen die Diasporasituation in Europa als Chance wahr. Neue Möglichkeiten haben einen Prozess der Identitätsfindung und eine lebhafte Debatte darüber in Gang gesetzt, die längst – vorwiegend positive – Rückwirkungen auf die Situation der Aleviten in der Türkei hat. Ein offizielles Printmedium (Alevilerin Sesi, „Stimme der Aleviten“) erreicht viele Haushalte, der Fernsehsender „Yol TV“ wird europaweit ausgestrahlt. Ordentlicher alevitischer Religionsunterricht findet noch in diesem Jahr an 24 Standorten in fünf Bundesländern statt (in Berlin seit 2002), neben Schulversuchen zum islamischen Religionsunterricht und Sonderformen wie „Religionsunterricht für alle“ (Hamburg). Laut zweier Gutachten aus dem Jahr 2004 erfüllt die AABF als Religionsgemeinschaft alle Voraussetzungen für die Einführung des Religionsunterrichts nach dem Grundgesetz Art. 7 Abs. 3.

Beim Festakt in Berlin gingen der Vorsitzende Turgut Öker und der Generalsekretär Ali E. Toprak auf wesentliche Punkte alevitischen Selbstverständnisses und alevitischer Zielsetzungen ein. Dabei betonten sie, dass sich die Aleviten als Teil der hiesigen Gesellschaft verstehen. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik wird als Voraussetzung für die Emanzipation gewertet, die vor dem Hintergrund der Diskriminierungserfahrungen in der Türkei besonderes Gewicht erhält. Dabei spielt insbesondere die Bedeutung der Religionsfreiheit als zentrales Thema eine wichtige Rolle. Integration wird als bewusste Öffnung für die Geschichte, Kultur und Sprache der neuen Heimat Deutschland verstanden, ohne Leugnung der eigenen kulturellen Identität. Der eingeführte Religionsunterricht wird als Meilenstein gewertet und als Unterbrechung der Assimilationspolitik betrachtet, der die Aleviten in ihrer Heimat unterliegen. Die Gemeinde ist von dem Wunsch beseelt, dass dies alles eine „enorme Emanzipationskraft“ für die Aleviten in der Türkei entfalten möge.

Die Staatsministerin für Integration, Maria Böhmer, der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering und der Vorsitzende der Grünen, Cem Özdemir, würdigten in ihren Ansprachen die Integrationsleistung der alevitischen Gemeinde. Vertreter der armenisch-orthodoxen Kirche, der assyrisch-orthodoxen Kirche und der griechisch-orthodoxen Kirche wiesen auf die Schicksalsgemeinschaft von Christen und Aleviten in der Türkei hin. Der traditionelle Semah-Tanz und weitere künstlerische Darbietungen gaben einen Eindruck von der Lebendigkeit der eigenständigen alevitischen Kultur in Deutschland.

(http://www.alevi.com)

Friedmann Eißler