Zwei Bistümer und eine Landeskirche finanzieren Studien über geistlichen Missbrauch
Seit über einem Jahrzehnt wird sexualisierte Gewalt innerhalb deutschsprachiger christlicher Gemeinschaften und Kirchen intensiv diskutiert. Leitungsverantwortliche haben seitdem vielfältige Forschungs- und Präventionsprojekte auf den Weg gebracht. Im Gegensatz dazu wird geistlicher oder spiritueller Missbrauch erst in jüngerer Zeit genauer in den Blick genommen. Die Eingrenzung dieser Form emotionaler Gewalt ist nicht einfach, weil manche Menschen gerne direktiven Anweisungen folgen, während andere eine solche Ansprache schon als suggestiv oder manipulativ empfinden. Der Machtanspruch einer Leitungsperson vergrößert sich, wenn im Namen einer unsichtbaren höheren Wirklichkeit gesprochen wird. Spiritueller Missbrauch meint die Ausnutzung von Menschen im Namen einer höheren Macht. In religiösen oder spirituellen Gemeinschaften kommt es vor, dass Menschen bevormundet, entmündigt oder isoliert werden, um für die Leitungsperson besser steuerbar zu sein. Die sozialpsychologischen Dynamiken eines Guru-Kults, die in den 1970er Jahren zu breiten gesellschaftlichen Debatten um die sog. „Jugendreligionen“ führten, sind auch heute noch wirksam. Auch in kirchlichen und freikirchlichen Gruppen gibt es Fälle, in denen Menschen mithilfe biblischer Aussagen, theologischer Inhalte oder spiritueller Praktiken manipuliert, unter Druck gesetzt und in geistliche Abhängigkeit geführt werden. Wenn das manipulative Verhalten über den seelisch-geistlichen Bereich hinaus den Körper mit einbezieht, liegt sexualisierte Gewalt vor.
Geistlicher Missbrauch kann als Missachtung der spirituellen Selbstbestimmung zusammengefasst werden. Seit kurzem nehmen katholische Bistümer und evangelische Landeskirchen diese Gefahr stärker in den Blick, um Ursachen und begünstigende Strukturen besser zu verstehen und die Präventionsangebote auszubauen. Wie komplex und undurchsichtig geistlicher Machtmissbrauch sein kann, zeigt sich etwa bei der evangelischen Marienschwesternschaft in Darmstadt (Mutter Basilea Schlink, 1904 – 2001) und den Schönstätter Marienschwestern (Pater Josef Kentenich, 1885 – 1986). Beide Kommunitäten müssen sich mit Vorwürfen geistlichen Missbrauchs durch ihre Gründer und langjährigen Leiter auseinandersetzen. Durch die zum Teil öffentlich geführten Diskussionen hat das Ansehen beider geistlicher Gemeinschaften gelitten.
Vielfältige Einflussfaktoren wie persönliche Vorerfahrungen, Persönlichkeitsfaktoren und Erwartungen und die jeweilige Gruppenstruktur und Kommunikationskultur machen es schwer, geistlichen Missbrauch eindeutig zu diagnostizieren. Was manche als manipulativ erleben, nehmen andere als Anstoß zur Weiterentwicklung wahr.
Die katholischen Bistümer Osnabrück und Münster haben deshalb ein Forschungsprojekt zum Thema geistlicher Missbrauch auf den Weg gebracht. Seit Anfang dieses Jahres erforscht ein wissenschaftliches Team der Universität Münster unter Leitung der Theologin Judith Könemann die Ursachen des geistlichen Missbrauchs. Ziel der Studie, die über einen Zeitraum von drei Jahren laufen soll, sei es, Täterstrategien offenzulegen und grundlegende Faktoren zu ermitteln, die diese Art des Missbrauchs begünstigen. Daraus sollen Perspektiven für die Prävention entwickelt werden. Im Zentrum der Studie sollen lokale religiöse Gemeinschaften in beiden Bistümern stehen. Dabei sollen Erfahrungen von Betroffenen und Interviews mit Zeitzeugen sowie Akten analysiert und ausgewertet werden.
Auch eine evangelische Landeskirche hat zur Aufklärung von Missbrauchsvorwürfen eine Untersuchung in Auftrag gegeben. Gegen den 2011 verstorbenen Pastor Klaus Vollmer gibt es den Vorwurf, er habe in den 1980er Jahren als Leiter einer von ihm gegründeten Bruderschaft seinen Einfluss auf junge Menschen dazu missbraucht, homosexuelle Neigungen mit Gruppenmitgliedern auszuleben. Die Evangelische Geschwisterschaft e. V., die aus der Bruderschaft hervorgegangen ist, hatte im Jahr 2017 eine Untersuchung in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse die Ausübung sexualisierter Gewalt bestätigen. Der umfangreiche Untersuchungsbericht ist auf der Webseite der Geschwisterschaft öffentlich zugänglich, ebenso ein weiterführender Tagungsbericht vom Dezember 2022. Die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers hat danach beschlossen, eine unabhängige Aufarbeitungskommission zu beauftragen, die das Handeln ihres ehemaligen Pastors untersuchen soll. Die Untersuchung soll auch die Übergänge zwischen geistlichem und sexuellem Missbrauch genauer analysieren, weil einem körperlichen Übergriff in der Regel geistlicher Machtmissbrauch vorausgeht.
Für viele Menschen war Vollmer als Redner und Autor inspirierend, und seine Predigten haben Lebensentscheidungen beeinflusst. Manche von ihnen fragen sich heute, wie stark ihre Glaubensentwicklung von gruppendynamischen Prozessen beeinflusst wurde und wie der Machtmissbrauch hätte verhindert werden können. Die Mitglieder der genannten Kommission haben ihre Arbeit im Oktober 2022 aufgenommen und arbeiten selbstständig und unabhängig. Sie führen Interviews mit Beteiligten, Betroffenen, möglichen Zeitzeugen und sichten Akten. Die Untersuchung soll bis zum Oktober 2024 abgeschlossen sein. Die Landeskirche hat sich verpflichtet, den vollständigen Bericht gemeinsam mit der Kommission innerhalb von 14 Tagen nach Erhalt der Öffentlichkeit vorzustellen und zugänglich zu machen.
Für jede Religionsgemeinschaft ist es um ihrer Glaubwürdigkeit willen wichtig, geistlichem Missbrauch durch Präventionsmaßnahmen vorzubeugen, Täterprofile zu identifizieren und die Unterstützung von Betroffenen auszubauen. Einen wichtigen Baustein dafür stellt die unabhängige Erforschung des Entstehens und Ausübens geistlichen Missbrauchs dar, um Leitende präventiv zu schulen. Für ein besseres Verständnis von Fehlentwicklungen in religiösen Gruppen können auch die Befunde und Erfahrungen genutzt werden, die in der Weltanschauungsarbeit in den letzten Jahrzehnten im Umgang mit Betroffenen von destruktiven Gruppen gemacht wurden (s. www.ezw-berlin.de/publikationen/lexikon/beratung-in-weltanschaulichen-konflikten).
Michael Utsch, 01.03.2023
Quellen
Studie über geistlichen Missbrauch der Uni Münster: www.uni-muenster.de/news/view.php?cmdid=13026 (Abruf der Internetseiten: 25.1.2023).
Bericht über geistlichen und sexuellen Missbrauch in der Evangelischen Geschwisterschaft: www.geschwisterschaft.de/ueber_uns/page28/page28.html.
Tagungsbericht „Geistlicher Missbrauch“: www.loccum.de/tagungen/2276.
Kirchliche Präventionsprojekte (EKD und DBK): www.ekd.de/missbrauch-23975.htm; www.dbk.de/themen/sexualisierte-gewalt-und-praevention.
Freikirchen (exemplarisch): www.ead.de/fileadmin/user_upload/EAD-Ampelpapier_2021-07-final.pdf.