Zwei Veranstaltungen in Berlin signalieren gelungene Integration
Die „Alevitische Gemeinde Deutschland e.V.“ (AABF) und der alevitische Unternehmerverband „Almanya Ticaret ve Yatirim Birligi e.V.“ (ATIYAB) luden in diesem Jahr zu ihrem Neujahrsempfang erstmals nicht nach Köln, sondern nach Berlin ein. Der im großen Rahmen angelegte Empfang fand am 8. Februar 2011 im „Piazza Rossa“ statt, einer Event Location nur wenige Meter vom Roten Rathaus entfernt, und bot den Gästen ein stilvolles Ambiente im Zentrum Berlins. Die Entscheidung, den diesjährigen Neujahrsempfang von Köln, wo er traditionell ausgerichtet worden war, in die Hauptstadt zu verlegen, trägt dem „Angekommensein“ der Aleviten in der deutschen Gesellschaft symbolisch Rechnung.Die seit über 20 Jahren engagiert vorangetriebenen Integrationsbemühungen der Alevitischen Gemeinde in Deutschland stoßen auf immer mehr Anerkennung in Politik und Gesellschaft. Die Grußworte von Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU), Sigmar Gabriel (SPD), Claudia Roth (Bündnis 90 / Die Grünen) sowie von Abgeordneten der FDP und der Partei „Die Linke“ hoben mit jeweils eigenen Schwerpunkten die Bedeutung des „Alevitischen Modells“ als Beispiel einer gelungenen Integration hervor. Zurückzuführen ist dieser Erfolg auch auf den hohen Organisationsgrad der Aleviten, die von mehr als 120 Vereinen in Deutschland vertreten werden. Der „Bund der Alevitischen Jugend“ (BDAJ) ist beispielsweise die erste und größte Migrantenjugendselbstorganisation Deutschlands. Der Zusammenschluss der Vereine unter dem Dachverband „AABF“ macht die Aleviten seit langem zu einem verlässlichen Verhandlungspartner für die Politik. Im Ergebnis wurden die Aleviten als Religionsgemeinschaft nach dem Grundgesetz anerkannt, und es wurde ein eigener bekenntnisorientierter Religionsunterricht an einer wachsenden Anzahl von Schulen eingeführt. Die ebenfalls zum Neujahrsempfang eingeladene Staatsministerin für Migration, Flüchtlinge und Integration, Maria Böhmer (CDU), stellte im Verlauf ihrer Rede sogar die Möglichkeit der Ausbildung alevitischer Theologen an deutschen Universitäten in Aussicht.Als nicht unbedeutend ist die Teilnahme des türkischen Botschafters an den Feierlichkeiten hervorzuheben. In der einzigen auf Türkisch gehaltenen Rede des Abends ging der Botschafter auch auf die Situation der Aleviten in der Türkei ein, wobei er die Religionsfreiheit in seinem Land als gegeben darstellte – eine Auffassung, die nur von wenigen Besuchern so geteilt wurde. Eines zeigt sich aber deutlich: Die Emanzipation und die Integration der Aleviten in Deutschland haben Auswirkungen auf das Selbstverständnis der Aleviten in der Türkei, und es findet eine nicht zu unterschätzende wechselseitige Beeinflussung statt. Mit ihrer reichhaltigen und aus verschiedenen Quellen schöpfenden religiösen Tradition nehmen die Aleviten eine wichtige und eigenständige Rolle im Dialog zwischen Christentum und Islam ein. Die aus der alevitischen Tradition resultierenden vielfältigen Anknüpfungspunkte für einen Dialog mit dem Christentum schaffen im Vergleich zum sunnitischen und schiitischen Islam eine breitere Grundlage für das interreligiöse Gespräch. Ob sich die weit fortgeschrittene und erfolgreiche Integration der Aleviten in Deutschland auf diese Besonderheit zurückführen lässt, ist nur schwer zu beurteilen. Diese Frage war auch ein Diskussionspunkt auf der Tagung „Beispielhafte Integration? Aleviten in Deutschland“, die ebenfalls im Februar in Berlin stattfand (10.2.2011). Veranstalter waren die Evangelische Akademie zu Berlin und die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW). Als Referenten wirkten u. a. mit: Ehrhart Körting (Berliner Senator für Inneres und Sport), Raoul Motika (Direktor des Deutschen Orient-Instituts Istanbul) und Ali Ertan Toprak (Generalsekretär der Alevitischen Union Europa und zweiter Bundesvorsitzender der Alevitischen Gemeinde Deutschland). Motika bot den Teilnehmern in seinem Vortrag zu Beginn der Tagung einen breiten Überblick über die Geschichte der Aleviten von ihren Anfängen an. Im weiteren Verlauf der Tagung informierte Ismail Kaplan, Bildungsbeauftragter der Alevitischen Gemeinde Deutschland, über Entwicklung und aktuellen Stand des alevitischen Religionsunterrichts. Lehrplan und Inhalte des Unterrichts wurden beschrieben und deren Bedeutung bei der Vermittlung des alevitischen Glaubens erläutert. Kaplan hob dabei die zentrale Rolle von Bildung hervor, die in seinen Augen als ein maßgeblicher Faktor für die erfolgreiche Integration der Aleviten anzusehen ist. In der nachfolgenden Podiumsdiskussion goss Ehrhart Körting etwas Wasser in den Wein der von Kaplan propagierten Bildungsnähe der Aleviten, indem er auf einige Zahlen aus Bildungsstatistiken verwies. Die Ursachen für die Defizite auf dem Gebiet der Bildung seien freilich hauptsächlich in der Anwerbung von alevitischen „Gastarbeitern“ zu sehen, die meist aus bildungsfernen Schichten stammten. Die Ausführungen lösten insbesondere unter den anwesenden Aleviten Diskussionen aus, in deren Selbstverständnis Bildung offensichtlich eine hervorgehobene Rolle spielt. Die mit mehr als hundert Teilnehmern gut besuchte Veranstaltung griff das Thema des jüngst von der EZW herausgegebenen Textes „Aleviten in Deutschland – Grundlagen, Veränderungsprozesse, Perspektiven“ (EZW-Texte 211) auf und bot einigen Autoren die Möglichkeit zur Diskussion mit den Teilnehmern.
Rabih El-Dick, Hildesheim