Islam

Zwischen Diesseits und Jenseits – Türkeistämmige Deutsche auf der Suche nach Zugehörigkeit

Der Befund der DİTİB-Jugendstudie „Lebensweltliche Einstellungen junger Muslim:innen in Deutschland“ zur gefühlten Zugehörigkeit türkeistämmiger Deutscher in der zweiten und dritten Generation ist zwiespältig und fordert die Islamverbände ebenso wie die Politik zum Handeln heraus. Denn eine zunehmende Hinwendung zur Türkei als Exit-Option ist unverkennbar.

Die Jugendstudie bestätigt damit einen Befund, der bereits seit den 2010er Jahren von zahlreichen empirischen Erhebungen (ZfTI 2018, 2021) in der zweiten und dritten Generation türkeistämmiger Deutscher beobachtet wird: Bei gleichzeitiger Abnahme des Gefühls der Zugehörigkeit zu Deutschland nimmt die Hinwendung zur Türkei selbst unter den gut integrierten Mitgliedern der gebildeten Mittelschicht zu. Als Erklärung dafür wird zumeist auf die 2010 mit Thilo Sarrazins Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ (2010) anhebende öffentliche Diskussion um dessen als rassistisch gebrandmarkte Thesen zum Islam und zu den Muslimen sowie auf die ein Jahr später erfolgte (Selbst-)Enttarnung der rechtsextremen Terrororganisation NSU verwiesen, deren zahlreiche Morde an türkeistämmigen Deutschen in den 2000er Jahren von der Polizei über Jahre hinweg dem türkischen Milieu selbst („Döner-Morde“) zugerechnet wurden. Das nach 2001 durch jahrelange Rasterfahndungen gestörte und 2006 mit Wolfgang Schäubles viel beachteter und von Christian Wulff 2010 nochmals sekundierter Feststellung, der Islam sei zweifelssohne Teil Deutschlands, wieder gewachsene Vertrauen in die deutsche Politik und Zivilgesellschaft wurde damit nachhaltig erschüttert.

Die am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt von Harry Harun Behr, Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Islam, und der wissenschaftlichen Projektleiterin Meltem Kulaçatan durchgeführte Studie war vom Jugendverband des DİTİB-Moscheeverbands (BDMJ) selbst initiiert worden. Sie sollte dem Zweck dienen, dessen Angebote organisatorisch, pädagogisch und in der religiösen Ausrichtung besser an die Bedürfnisse der jugendlichen Zielgruppen anzupassen. Die über 500 befragten ehrenamtlich im BDMJ engagierten Jugendlichen zwischen 14 und 27 Jahren gehören ihrer eigenen Auskunft nach der bürgerlich orientierten Mittelschicht an, möchten nicht als migrantisch und muslimisch definiert werden und zeigen sich allesamt positiv gegenüber den staatlichen Regelsystemen eingestellt. Selbstverständlich wollen sie alle hier leben, arbeiten und Kinder großziehen. Was sie aber noch zusätzlich miteinander verbindet: Sie alle geben an, prägende Diskriminierungserfahrungen insbesondere im schulischen und beruflichen Alltag gemacht zu haben. Nur knapp über ein Viertel fühlt sich „als Deutsche/r anerkannt“, fast 90 Prozent hingegen stehen einer Mischehe mit einem Nichtmuslim bzw. einer Nichtmuslimin ablehnend gegenüber, und nur wenige können sich vorstellen, in Deutschland beerdigt zu werden. Die Türkei ist „Sehnsuchtsort“, „Heimat“, ein Ort, mit dem die Befragten „Gefühle wie Geborgenheit, Sicherheit, Wertschätzung, Anerkennung und Seelenruhe“ verbinden.

Behr erklärt den zwiespältigen Befund mit der Differenz zweier unterschiedlicher Perspektiven auf die menschliche Existenz – „Beim einen geht es ums Jenseits, beim anderen ums Diesseits“ (Behr 2022, 42) –, lässt aber nachvollziehbarerweise offen, was diese Zuordnung von ewigem Heil und irdischem Wohlergehen für das gesellschaftliche Miteinander bedeutet. Dabei steht die Türkei dem Befund der Studie zufolge nicht nur für religiöse Zugehörigkeit, den Islam und das jenseitige Schicksal. Sie wird für viele türkeistämmige Deutsche der zweiten und dritten Generation, die sich hier als „fremd gelesen“ oder auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt (Stichwort Kopftuch) als benachteiligt erfahren, als „eine Art Exit-Option“ begriffen: „Ob sich die Jugendlichen Deutschland zuwenden oder sich von diesem Land abwenden“, so Behr, „ist nicht endgültig entschieden. Ich habe diesbezüglich das Bild eines Balls im Kopf, der ständig hin- und herrollt.“ Was das Rollen des Balles in Richtung Deutschland erschwert, ist eine „gewisse Romantisierung der türkischen Außen- und Sicherheitspolitik bezüglich ihres Anspruchs auf eine globale Repräsentation des Islam“, ein Anspruch wohlgemerkt, den die türkische Religionsbehörde Diyanet, als deren Dependance der deutsche DİTİB-Moscheeverband fungiert, nach Kräften befördert.

Das Urteil der Studie über den DİTİB-Verband fällt gleichwohl wohlwollend aus. Durch die von ihm geförderte religiöse Grundbildung trage er zur Stabilisierung der Persönlichkeit bei und zeige sich somit fähig, über intellektuell und spirituell gebildete und interessierte junge Menschen Integration zu gestalten. Der Befund der Studie, dass die Jugendlichen des DİTİB-Moscheeverbandes keine extremistischen Tendenzen zeigen, lässt Behr anerkennend von einer „religiösen Matrix für lebensweltliche Orientierung“ sprechen, „die radikalen Muslimen oft fehlt“. Die befragten Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer scheuten sich nicht, Kritik an ihrem eigenen Verband zu üben: Moniert wurde dabei insbesondere die nahezu ausschließlich männlich besetzte Führungsriege der DİTİB, die Jugendlichen wenig Entscheidungsspielraum lasse. Vier Jahrzehnte nach der Einrichtung der deutschen Diyanet-Dependance wird sich diese, dies sieht auch Behr so, öffnen und modernisieren müssen. Angesichts des nach dem Putsch-Versuch 2016 in der Türkei zunehmenden Einflusses der türkischen Religionsbehörde auf den Bundesverband sind die Hoffnungen darauf allerdings begrenzt. Nach dem Dafürhalten von Murat Kayman, bis vor etwa fünf Jahren als Justitiar im DİTİB-Verband aktiv, dürfte dessen Organisationsrahmen die Arbeit des Bundesjugendverbandes „eher ersticken“ (Brandt 2022) als befördern.

Muslimische Jugendliche werden daher, unabhängig von ihrer Verbandszugehörigkeit, weiterhin durch eine große „Zukunftsverunsicherung“ (Behr / Kulaçatan 2021) gekennzeichnet bleiben. Diese ist Behr zufolge insofern „besorgniserregend“, weil „Diskriminierung bei jungen Menschen, egal welchen Hintergrund sie haben, eine gefährliche Dynamik auslösen kann“:

„Es gibt diese Formel in der Forschung, die besagt, dass Diskriminierungserfahrungen im Kindes- und Jugendalter in eine sogenannte Radikalisierungskaskade führen können. Das bedeutet, dass diese negativen Erlebnisse in eine Neigung zu extremistischen Haltungen münden können, bis hin zur Radikalisierung. Der nächste Schritt wäre die Mobilisierung“ (Behr 2022, 43).

In der Sozialwissenschaft und Ethnologie ist man sich weitgehend einig darin, dass die Erfahrung bzw. Wahrnehmung von Benachteiligung und Ausgrenzung aufgrund sozialer Gruppenzugehörigkeiten bei den Betroffenen Ohnmachtsgefühle und Resignation entstehen lassen kann, die das Zugehörigkeitsgefühl zu eben jener von der Mehrheitsgesellschaft ausgegrenzten ethnischen und / oder religiösen Gruppe noch verstärken. Mariam Puvogel und Sindyan Qasem zufolge schaffe der durch soziale Marginalisierung entstehende Unmut für viele Jugendliche „ein Klima, in dem die absoluten Antworten islamistischer Akteur*innen interessant werden könnten“ (Puvogel / Qasem 2021, 100). Eine Radikalisierung vorbeugende Präventionsarbeit könne nur dann nachhaltig sein, wenn sie einerseits „die gesamtgesellschaftliche Anerkennung von als muslimisch gelesenen oder sich identifizierenden Jugendlichen fördert“ und andererseits eben dieselben Jugendlichen dazu ermächtigt, über sogenannte counter bzw. alternative narratives „die Deutungshoheit über ihre tatsächliche oder zugeschriebene Religiosität“ (ebd., 100) zurückzugewinnen und dabei zugleich „‚Deutsch-Sein‘ als eine ganz selbstverständlich auch von nicht-weißen Menschen ausfüllbare Identitätskonstruktion“ zu erfahren, „ohne den unmittelbaren Rekurs auf religiöse Identitäten“ (ebd., 102). Der damit für die islamischen Verbände, die Zivilgesellschaft und die Politik verbundene Handlungsbedarf ist zweifellos groß. Mit einem Aufschub wäre, das betonen auch viele andere Studien, niemandem geholfen.

Rüdiger Braun

Quellen

Behr, Harry Harun (2022), in: Opas, die alles entscheiden, Interview von Katrin Elger mit Harry Harun Behr, in: Der Spiegel Nr. 23 (4.6.2022), 42f.

Behr, Harry Harun / Kulaçatan, Meltem (Hg., 2021): DİTİB Jugendstudie. Lebensweltliche Einstellungen junger Muslim:innen in Deutschland, Frankfurt a. M.

Brandt, Michael (2022): DITIB Jugendstudie 2021: Junge Muslime fordern Wandel, 3.6.2022, www.ndr.de/kultur/sendungen/freitagsforum/DITIB-Jugendstudie-2021-Junge-Muslime-fordern-Wandel,freitagsforum976.html (Abruf: 2.9.2022).

Puvogel, Mariam / Qasem, Sindyan (2021): Antimuslimischer Rassismus als Gegenstand der pädagogischen Islamismusprävention – eine kritische Reflexion der eigenen Praxis, in: Fereidooni, Karim / Hößl, Stefan E. (Hg.): Rassismuskritische Bildungsarbeit. Reflexionen zu Theorie und Praxis, Frankfurt a. M.

ZfTI – Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung (2018): Identifikation und politische Partizipation türkeistämmiger Zugewanderter in Nordrhein-Westfalen und in Deutschland, Essen.

ZfTI – Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung (2021): 20 Jahre Mehrthemenbefragung. Integration und Partizipation türkeistämmiger Zugewanderter in Nordrhein-Westfalen 1999 bis 2019, Essen.