Zwischen ökumenischer Öffnung und Restauration
Die Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten
Die Wahrnehmung der Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten (STA) hat sich in den letzten Jahrzehnten massiv verändert: Wurden die STA bis zum Beginn der 1990er Jahre mehrheitlich noch zu den Sekten oder Sondergemeinschaften gerechnet, so stellte ihr Beitritt als Gastmitglied zur gesamtdeutschen Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) sowie zur Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF) im Jahr 1993 eine Zäsur hinsichtlich dieser Außenwahrnehmung dar.1 „Folgerichtig wandelte sich 1993 die Darstellung der Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten dahingehend, dass sie meist explizit oder implizit als Freikirche beschrieben wurde.“2 Offensichtlich zeigten sich die STA zur ökumenischen Öffnung und zur Relativierung der eigenen Unterscheidungslehren bereit: In einer Informationsschrift der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen wird von einer „Entsektung“3 gesprochen, wobei u. a. die STA „ihre Lehrbesonderheiten und die konfliktträchtigen Ausdrucksformen ihrer Frömmigkeit teils verändert, teils neu interpretiert und entradikalisiert“4 haben. Diese Entwicklungen führten sogar bis dahin, dass der von den STA beschrittene Weg als Beispiel und Vorbild für einen angestrebten Öffnungsprozess der Neuapostolischen Kirche interpretiert wird.5
Innerhalb der STA führten die Reformbestrebungen jedoch auch bald zu heftigem Widerspruch, da einige den Kern adventistischer Identität in Gefahr sahen.6 Diese innere Diskrepanz zwischen dem Streben nach Anerkennung und Öffnung einerseits und den Konservierungs- bzw. Restaurationstendenzen andererseits lässt sich gegenwärtig sowohl im weltweiten als auch insbesondere im deutschen Adventismus beobachten. Nachfolgend sollen einige Wahrnehmungen der gegenwärtigen Entwicklungen innerhalb des Adventismus aus der Perspektive der evangelischen Weltanschauungsarbeit zusammengetragen und eine vorläufige Einschätzung abgegeben werden. Zunächst erscheint hierzu jedoch eine grundlegende Übersicht über Geschichte, Struktur und wesentliche Glaubensinhalte der STA angebracht.
Ein kurzer historischer Abriss
Die Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten geht auf eine Erweckungsbewegung in den USA in der Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Der Baptistenpastor William Miller errechnete aufgrund intensiver Beschäftigung mit den Prophezeiungen aus dem Danielbuch und der Johannesapokalypse die Wiederkunft Christi zunächst für das Jahr 1843 und dann für den 22.10.1844.
Bereits 1843 schlossen sich dabei ca. 50000 bis 100000 Christen aus unterschiedlichen Konfessionen der Adventbewegung Millers an. Auf die erste Enttäuschung aufgrund der ausgebliebenen Parusie 1843 folgte die zweite, noch intensivere Phase der Adventbewegung. Miller errechnete vor dem Hintergrund von Dan 8,14 die Wiederkunft auf den 22.10.1844. Deren Ausbleiben führte zur „Großen Enttäuschung“ innerhalb der Adventbewegung und zum Spott durch die Öffentlichkeit.7 Die Bewegung zerfiel danach in mindestens drei Richtungen. Eine Gruppe um Hiram Edson deutete die ausgebliebene Parusie neu: Christus sei nicht wiedergekommen, sondern sei als himmlischer Hohepriester in das Allerheiligste des himmlischen Heiligtums getreten und habe damit einen endzeitlichen Großen Versöhnungstag ausgelöst. Diese Umdeutung der Berechnungen Millers führte innerhalb dieser Gruppierung zu einer intensiven Beschäftigung mit dem hohepriesterlichen Dienst Christi (die sog. Heiligtumslehre).8 Der Gruppierung um Edson schloss sich der Schiffskapitän Joseph Bates an, der „ein neues Element ein[brachte], indem er die besondere Bedeutung des Sabbats und seine normative Geltung auch für Christen behauptete“9. Die Verbindung von Heiligtumslehre, Parusieerwartung und Sabbat innerhalb dieser Gruppierung kann als Vorstufe der STA bezeichnet werden.
Für die weitere Entwicklung und Entstehung der STA ist jedoch Ellen Gould White (geb. Harmon) die entscheidende Persönlichkeit. Sie schloss sich als junge Methodistin der Millerbewegung an und hatte ab Dezember 1844 zahlreiche Visionen, in denen sie angeblich Botschaften von Gott empfing. Diese bestätigten die Adventbewegung als gottgewollt und festigten später die kleine Bewegung der sabbatarischen Adventisten in ihrer Struktur. Ellen White wird bis heute als Prophetin bzw. „Botin des Herrn“10 innerhalb der STA gesehen, deren umfangreiches Schrifttum die Bewegung fortan maßgeblich beeinflusste.11 Obwohl kirchliche Strukturen zunächst sehr kritisch gesehen wurden, entstand aus der Bewegung um Ellen White 1863 die „Seventh-day Adventist Church“ mit der Generalkonferenz (Kirchenleitung) in Battle Creek (Michigan). Auf diesen Namen hatte man sich geeinigt, zumal er die entscheidenden Merkmale der Gruppierung enthielt: die Feier des Siebenten-Tags-Sabbats und die Erwartung des Zweiten Advents Christi. Die STA breiteten sich durch Missionsbestrebungen über die USA und gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch in Europa aus.12
Weltweit gibt es heute über 18 Millionen STA, mit einem zahlenmäßigen Schwerpunkt in Südamerika und Afrika. In Deutschland sind es etwa 35000.13 Die strukturelle Organisation ist dem Methodismus sehr ähnlich: An der Spitze steht die Generalkonferenz (Weltsynode und Weltkirchenleitung), die 13 Divisionen (Halb-/Kontinentalkirchenleitungen) in allen Erdteilen unterhält.14 Die deutschen STA sind der Inter-Europäischen Division mit Sitz in Bern zugeordnet. „Die Gemeinden eines Landesteiles oder einer Provinz bilden eine ‚Vereinigung‘, mehrere Vereinigungen einen ‚Verband‘“.15 In Deutschland sind dies derzeit zwei Verbände (Norddeutscher und Süddeutscher Verband) sowie sieben Vereinigungen (u. a. in Baden-Württemberg).16
Die Glaubensinhalte
Die STA lehnten ein festgelegtes Glaubensbekenntnis lange Zeit als dogmatisierend ab, und so wurden erst nach einem längeren Prozess auf der Generalkonferenz (Weltsynode) 1980 die „Fundamental Beliefs“ als für alle Adventisten verbindliche Glaubensinhalte festgelegt.17 Diese zunächst 27 (heute 28) Glaubenspunkte bilden das systematisch-theologische Fundament adventistischer Theologie und stimmen in vielen Punkten mit den altkirchlichen Bekenntnissen (und damit der großen Mehrheit des weltweiten Christentums) überein: Sie enthalten z. B. die Trinitätslehre sowie eine durchweg reformatorische Anthropologie. Einige Glaubenspunkte stimmen mit denen mancher konservativ-evangelikaler Gruppierungen überein (z. B. der Biblizismus, ein dem Baptismus entlehntes Taufverständnis sowie ein ausgeprägter Kreationismus).
Auffällig sind jedoch die Unterscheidungslehren, die die STA von anderen Kirchen abgrenzen. Diese sind: (1) Die STA betonen die Vorstellung eines universell-kosmischen „Großen Kampfes“, in dem Christus, die Engel und das Volk Gottes gegen Satan und sein Heer kämpfen.18 (2) Die spezielle Ekklesiologie anerkennt einerseits christlichen Glauben außerhalb der STA, sieht die STA jedoch als wahre Endzeitgemeinde („Gemeinde der Übrigen“). (3) In der „Dreifachen Engelsbotschaft“ (Offb 14) sehen die STA ihren besonderen Verkündigungsauftrag als „Gemeinde der Übrigen“. Wesentliche Inhalte dieser Botschaft sind: die Verkündigung des Evangeliums angesichts des nahenden Gerichts (erster Engel; Offb 14,6f), der Auszug der wahrhaft Gläubigen aus Babylon, d. h. aus der falschen Anbetung Gottes (zweiter Engel; Offb 14,8) sowie die endzeitliche Sabbatobservanz entgegen dem Malzeichen des Tieres, das als erzwungene antichristliche Sonntagfeier gedeutet wird (dritter Engel; Offb 14,9-12).19 Hierbei wird das Papsttum angesichts der „religiösen Märchen“20 (also der falschen Lehre wie z. B. Marienverehrung und Sonntagsfeier) als antichristlich bezeichnet. (4) Zur oben beschriebenen Deutung des hohepriesterlichen Dienstes Christi im himmlischen Heiligtum gehört auch der Beginn des eschatologischen Großen Versöhnungstages 1844, der mit einer Art Gericht vor der Parusie verbunden ist. (5) Außerdem verstehen die STA Ellen White als Prophetin, deren prophetische Gabe als „Zeugnis Jesu“ eines der Kennzeichen der endzeitlichen „Gemeinde der Übrigen“ ist (vgl. Offb 12,17; Offb 19,10). (6) Vom allergrößten Teil des Christentums unterscheidet die STA die Betonung der buchstäblichen Gültigkeit des biblischen Sabbatgebotes auch für Christen und die entsprechende Sabbatobservanz vom Sonnenuntergang am Freitag bis zum Sonnenuntergang am Samstag.21 (7) Die STA betonen einen an der Bibel orientierten Lebensstil im Sinne der Heiligung, wobei die Gebote und Verbote des Alten Testaments eine besondere Rolle spielen. Auf Visionen Ellen Whites geht dabei auch die besondere Wertschätzung eines gesunden Lebensstils zurück. So soll auf den Verzehr von in der Bibel als „unrein“ bezeichnetem Fleisch (z. B. Schweinefleisch) sowie auf Tabak und Alkohol verzichtet werden. Viele Adventisten sind auch Vegetarier und verzichten auf andere Genussmittel (z. B. Kaffee).22 In der Zwischenzeit gibt es ein weltweites adventistisches Gesundheitswerk mit Reformkostläden, Seniorenheimen und Krankenhäusern. Darüber hinaus sind die STA sehr an ganzheitlicher Bildung interessiert und betreiben weltweit Schulen und Universitäten (auch zur eigenen Pastorenausbildung). Außerdem unterhält die Freikirche eine weltweite Katastrophen- und Entwicklungshilfe (ADRA).23
Weltweite Tendenzen
Seit den 1960er Jahren öffnete sich die Generalkonferenz (Weltkirchenleitung) der STA dem Dialog mit dem Ökumenischen Rat der Kirchen. In diesem Zusammenhang wurde die Tendenz erkennbar, adventistische Glaubensinhalte gegenüber anderen Christen nicht mehr nur apologetisch zu verteidigen, sondern die STA-Interpretationen auch adressatengerecht verständlich machen zu wollen. Gleichzeitig war ein progressiver Trend an einigen adventistischen Universitäten zu beobachten, der die adventistischen Unterscheidungslehren (s. o.) relativieren und dem protestantischen Mainstream annähern wollte.24
In der Folge kam es zu Veränderungen in der Beziehung zu anderen Kirchen: Zunächst wurde 1980 durch die Generalkonferenz ein „Rat für zwischenkirchliche Beziehungen“ eingerichtet.25 Es folgten zahlreiche dialogische Konsultationen mit anderen Kirchen auf Weltebene, u. a. zwischen 1994 und 1998 mit dem Lutherischen Weltbund.26 Dies kann als Wandel vom innenorientierten sectarianism zur church oder denomination gedeutet werden.27 Die Beziehungen zu anderen Kirchen sind jedoch auf den Dialog zum gegenseitigen Verständnis beschränkt und sollen keinesfalls dem Ziel etwaiger Kooperationen oder Zusammenschlüsse dienen.28
Die Öffnung hin zum Dialog mit anderen Kirchen einerseits und die innere theologische Pluralisierung andererseits führten zu verschiedenen Strömungen innerhalb der STA-Kirche, die sich im „Mutterland“ des Adventismus, den USA, am deutlichsten abzeichnen.29 Seit der Wahl von Ted Wilson zum Generalkonferenz-Präsidenten ist insgesamt eine deutliche Profilschärfung erkennbar: Ted Wilson legt im Gegensatz zu seinem Vorgänger (Jan Paulsen) großen Wert auf die Unterscheidungslehren, z. B. auf die Rolle der Sabbatfrage in der Endzeit oder die Schriften Ellen Whites.30 Der Dialog mit anderen Kirchen spielt hier so gut wie keine Rolle.
Der Öffnungsprozess in Deutschland
In Deutschland änderte sich (wie einleitend beschrieben) die Wahrnehmung der STA ab 1993 erheblich: Nachdem die STA der gesamtdeutschen ACK sowie der Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF) als Gastmitglied beigetreten waren, wurden sie immer weniger als sektiererische Sondergemeinschaft, sondern als Freikirche wahrgenommen. „Auch in einer Reihe von Bundesländern haben Adventisten den Gaststatus bei regionalen ACKs inne. Auf Ortsebene arbeiten verschiedene Adventgemeinden als Mitglied, Gast oder Beobachter in lokalen ACKs mit … Da Adventisten der Basis der Evangelischen Allianz zustimmen können, nimmt eine Reihe von Adventgemeinden auch an der Allianz-Gebetswoche teil.“31 Diese Öffnung wurde und wird von einigen Adventisten als Verrat an der eigenen Identität interpretiert und stellt die STA in Deutschland vor eine Zerreißprobe.32 Gleichzeitig erstarkten hierdurch zeitweise auch extrem konservative adventistische Splittergruppen, von denen sich die Leitung der STA jedoch stets distanzierte.33
Neben den Öffnungsprozessen hinsichtlich der vormals belasteten Beziehungen zu anderen Kirchen lässt sich in Deutschland auch eine theologische Öffnung beobachten: Die Unterscheidungslehren werden im monatlich erscheinenden „Adventisten heute“ (Mitgliederzeitschrift der deutschen STA) nicht mehr so stark abgrenzend oder exklusivistisch dargestellt wie noch vor ca. 10 bis 15 Jahren.34 Auch die Arbeit des Adventistischen Pressedienstes (APD) sowie die des deutschen Referates für zwischenkirchliche Beziehungen zeigt sich stark am interkonfessionellen Dialog interessiert. Ebenso möchte die staatlich anerkannte adventistische Theologische Hochschule Friedensau „einen Beitrag für Kirche und Gesellschaft in den Feldern Bildung und Wissenschaft … leisten“ und sieht sich „als freikirchlich-adventistische Institution … reformatorischer Tradition und innovativem Denken verbunden“,35 wobei z. B. auch die historisch-kritische Methode in moderater Form befürwortet wird.36 Konsequent in der Öffnung auf theologischer Ebene erschien da der vom Beirat der Freikirche der STA in Deutschland (FiD) 2009 verfasste und zur Diskussion gestellte Textentwurf „Quo Vadis, Adventgemeinde?“37, der sich mit ausführlicher Argumentation für eine relativierende Aktualisierung der Unterscheidungslehren sowie für eine Hierarchisierung der Glaubenspunkte ausgehend von der Christologie ausspricht. Jedoch beschlossen die Delegierten der FiD 2010 mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit, das Papier „Quo Vadis, Adventgemeinde?“ nicht weiter zu bedenken und nicht als offizielle Stellungnahme zu ratifizieren.38
Restaurationsbestrebungen in Baden-Württemberg
Die oben benannte Zerreißprobe zeigt sich außer an örtlich begrenzten Konflikten zwischen progressiven und konservativen Kräften gegenwärtig institutionell besonders am Kurs der Baden-Württembergischen Vereinigung (BWV) der STA. Diese scheint den beschriebenen Öffnungsprozess gänzlich abzulehnen. Die Kirchenleitung in Baden-Württemberg versuchte 2014 sogar, aus dem Süddeutschen Verband der STA auszutreten und eine eigene Union of Churches zu gründen, die direkt der Generalkonferenz bzw. Division unterstellt wäre. Dadurch angestrebt wurde „eine bessere Erfüllung unseres Missionsauftrages (Verkündigung der ‚Dreifachen Engelsbotschaft‘) und die Einheit mit der weltweiten Gemeinde“39. In der scharfen Stellungnahme des Norddeutschen Verbandes hierzu wird erkennbar, dass Gegenstand der Auseinandersetzung vor allem die von der BWV abgelehnte theologische und ökumenische Öffnung ist.40
Die BWV gibt überdies das monatlich erscheinende Magazin „BWgung“ heraus. Die Inhalte des Magazins stehen der oben dargestellten Beobachtung einer „Entsektung“ der STA entgegen: So wird beispielsweise die traditionelle adventistische Auslegung von Offb 13, wonach im Papsttum der Antichrist zu sehen sei, explizit bestätigt und gar das von vielen als sympathisch wahrgenommene Auftreten von Papst Franziskus als Beleg für diese Interpretation verwendet: „Passt nicht … das neue und so überaus sympathische Gesicht des Papsttums haargenau in die prophetische Vorhersage? ‚Und seine tödliche Wunde wurde heil. Und die ganze Erde wunderte sich über das Tier…‘ … Hier [in Offb 13] geht es auch um einen Zuwachs an Bewunderung und Respekt. Genau das erreicht Papst Franziskus im Moment … alles spricht dafür, dass die adventistische Auslegung von Offb 13 weiterhin richtig ist. Durch den neuen Papst ist sie … sogar noch ein Stück glaubwürdiger geworden.“41 Darüber hinaus werden in vielen Artikeln42 die Unterscheidungslehren massiv und exklusivistisch dargestellt, eine Abwendung hiervon im Anschluss an Ellen White gar als Abfall von der „biblisch-adventistischen Wahrheit“43 verstanden.
Auch die 2015 auf dem J.O.S.U.A.-Campmeeting auf dem Briefpapier der BWV verfasste und auf der offiziellen Homepage der BWV veröffentlichte „Esslinger Erklärung zum ewigen Evangelium“44 betont die Bedeutsamkeit der Unterscheidungslehren in exklusivistischer Weise, wobei die „Dreifache Engelsbotschaft aus Offenbarung 14 … die vordringliche Botschaft für unsere Zeit“45 sei. Bemerkenswert ist, dass hierbei offensichtlich auch der Schulterschluss mit sehr konservativen Missionswerken und Initiativen gesucht werden soll.46
Josia-Missionsschule und Youth in Mission Congress
Die „Josia-Missionsschule“ ist als eine Art Bibelschule eine Einrichtung der BWV. „Sie existiert, um Jugendliche und Gemeindeglieder in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu fördern und für die Mission auszubilden und zuzurüsten.“47 Auffällig ist hierbei, dass die (volljährigen) Schüler zu Missionseinsätzen verpflichtet sind und dass hinsichtlich Bewegung, Ernährung (ausschließlich vegetarisch), Kleidung, Sexualität, Sabbatgestaltung sowie Musik-, Medien- und Internetkonsum strenge Regeln gelten.48 Die Inhalte des Unterrichts legen offensichtlich einen besonderen Schwerpunkt auf die Betonung der Unterscheidungslehren.49
Seit 2006 veranstaltet die BWV jährlich um das Osterwochenende den „Youth in Mission Congress“. Dieser fand bisher in Mannheim statt, ab 2016 ist er in Offenburg. Der Kongress hat jährlich über 1000 Teilnehmer (Jugendliche und junge Erwachsene). Bemerkenswert ist auch hier im Statement50 u. a. die entschiedene Betonung der göttlichen Berufung der STA als Endzeitgemeinde und der Orientierung in der Lebensgestaltung an der Bibel und den Schriften Ellen Whites. Vom oben beschriebenen Öffnungsprozess ist auch in den Audio- und Videodateien (Predigten und Vorträge) auf der Homepage nichts zu entdecken.51
Einschätzung
Die dargestellten Restaurationsbestrebungen innerhalb der STA in Baden-Württemberg sind nur Teil einer in der weltanschaulichen Literatur bisher noch kaum berücksichtigten Entwicklung.52 Sie sollten aber m. E. in eine Einschätzung aus evangelisch-landeskirchlicher Sicht unbedingt einfließen. Der beschriebene Öffnungsprozess der STA in Deutschland rechtfertigt es auf der einen Seite, von einer „Entsektung“53 zu sprechen. Andererseits ist diese Einschätzung zu differenzieren: Besonders in Baden-Württemberg vertreten die STA auf theologischer Ebene ihre teilweise exklusivistischen Sonderlehren sehr profiliert sowie einen starken Wortfundamentalismus.54 Der Kontakt zu anderen Christen wird kaum gesucht, oder andere Kirchen werden gar als antichristlich diffamiert. Dabei folgen die baden-württembergischen STA dem Kurs der Weltkirchenleitung, wonach Gespräche mit anderen Kirchen „nur dem gegenseitigen Sich-kennen-Lernen“55 dienen. Darüber hinaus ist zu beobachten, dass innerhalb der BWV auch nach innen (d. h. gegenüber den Mitgliedern) sehr einengende Vorschriften hinsichtlich der Lebensgestaltung (Sabbatheiligung, Ernährung etc.) gemacht und diese (z. B. in der Josia-Missionsschule) auch eingefordert werden. Das stark dualistische Weltbild führt zu einem entsprechend angstbesetzten Gottesbild, das der psychischen Gesundheit der Mitglieder kaum zuträglich sein dürfte.
Zusammenfassend kann damit aus meiner Sicht gesagt werden: Die STA sind keinesfalls generell uneingeschränkt als „normale“ Freikirche einzuschätzen. Dies wiederum bedeutet, dass jeweils die Situation und theologische oder ökumenische Orientierung der STA vor Ort bzw. deren öffentliches Auftreten betrachtet werden sollte und somit keine pauschale Bewertung der STA, weder als Freikirche noch als sektiererische Sondergemeinschaft, möglich ist. Für die konkrete kirchliche Arbeit spielen die Bedeutung der Unterscheidungslehren und die ökumenische Orientierung der konkreten Adventgemeinde vor Ort eine bedeutende Rolle. Für die Weltanschauungsarbeit ist gerade bei einer im Wandel und im inneren Konflikt begriffenen Gruppierung wie den STA entscheidend, den Dialog mit den STA vor Ort und auf Kirchenleitungsebene zu suchen und auch lokale oder regionale Entwicklungen wachsam zu beobachten, um weiterhin eine möglichst differenzierte und sachgerechte Einschätzung anbieten zu können.
Für die ökumenischen Bemühungen ist wichtig: Wo Adventgemeinden, ganze Verbände/Vereinigungen oder auch nur einzelne Adventisten (wie vielfach geschehen) die Bereitschaft zum Dialog und zur Relativierung des eigenen Exklusivitätsanspruches signalisieren, da sollte ihnen kein Stein in den Weg gelegt werden. Denn gerade in der ökumenischen Begegnung lassen sich neben den vielen protestantischen Gemeinsamkeiten auch für andere Christen Schätze in den adventistischen Sonderlehren erkennen: Die Heiligtumslehre kann beispielsweise Anregung sein, sich mit der eigenen evangelisch-landeskirchlichen eschatologischen Erwartung zu beschäftigen und diese zu formulieren. Ein solches Voneinander-Lernen ist aber nur dort möglich, wo tatsächlich ein Gespräch auf Augenhöhe stattfindet, dem Gegenüber das Christsein nicht abgesprochen oder es infrage gestellt wird und eigene Ansprüche als „Gemeinde der Übrigen“ in den Hintergrund treten.
Die weitere Entwicklung der Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten in Deutschland bleibt also aus der Perspektive der evangelischen Weltanschauungsarbeit komplex und interessant.
André Bohnet
Anmerkungen
1 Vgl. Czukta, Gemeinschaft – Sekte – Freikirche?, 63f, sowie Höschele, Gaststatus, 184ff.
2 Czukta, Gemeinschaft – Sekte – Freikirche?, 64.
3 Hempelmann, Was ist eine Sekte?
4 Ebd.
5 Vgl. Fleischmann-Bisten, Von der Sondergemeinschaft zur Freikirche, 111-126.
6 Vgl. Thiede, Johannes-Apokalypse, 24.
7 Vgl. Obst, Apostel und Propheten, 356ff.
8 Vgl. Krech/Kleiminger (Hg.), Handbuch, 175ff.
9 Ebd., 176f.
10 Vgl. z. B. www.adventisten.de/ueber-uns/unser-glaube/unsere-glaubenspunkte/18-die-gabe-der-weissagung (alle Internetseiten abgerufen am 6.8.2015).
11 Vgl. Obst, Apostel und Propheten, 364ff.
12 Vgl. Krech/Kleiminger (Hg.), Handbuch, 177ff.
13 Vgl. www.adventisten.de/ueber-uns/zahlen-und-fakten.
14 Vgl. www.adventist.org/world-church
15 Krech/Kleiminger (Hg.), Handbuch, 188.
16 Vgl. www.adventisten.de/ueber-uns/links.
17 Vgl. www.adventist.org/en/information/official-statements.
18 Vgl. www.adventisten.de/ueber-uns/unser-glaube/unsere-glaubenspunkte/8-der-grosse-kampf.
19 Vgl. Makowski, Offenbarung, 126ff.
20 Ebd., 110.
21 Vgl. Pöhler, Christsein heute, 30ff.
22 Vgl. Obst, Apostel und Propheten, 391f.
23 Vgl. Pöhler, Christsein heute, 102ff.
24 So Vance, Seventh-day Adventism in Crisis, 91f.
25 So Krech/Kleiminger (Hg.), Handbuch, 185.
26 Vgl. Höschele, Eschatology and Theological Dialogue, 38ff (Überblick über die Konsultationen).
27 So Vance, Seventh-day Adventism in Crisis, 92ff.
28 Vgl. die offizielle Working Policy der Generalkonferenz: www.adventist.org/en/ information/official-statements/documents/ article/go/0/relationships-with-other-christian-churches-and-religious-organizations.
29 „… American Adventism in the final quarter of the twentieth century has become more pluralistic in political outlook just as it has in theological interpretation …” (Morgan, Adventism, 180ff).
30 Als beispielhaft sei hier eine Rede Wilsons aus dem Jahr 2014 genannt: www.adventistreview.org/affirming-creation/‘god‘s-authoritative-voice‘.
31 So die Selbstdarstellung der STA auf www.adventisten.de/de/ueber-uns/beziehungen-zu-anderen-kirchen/geschichtliche-entwicklung.
32 Vgl. Thiede, ACK-Mitgliedschaft, 56f.
33 Vgl. Pegelow, Alle Kirchentage wieder, 270f; Ruch, Sekten auf dem Kirchentag, 309.
34 Beispielhaft sei hier der Artikel von Paulsen (Identität, 8ff) aus dem Jahr 2010 in „Adventisten heute“ genannt, der als adventistische Identitätsmerkmale nicht mehr die Unterscheidungslehren, sondern Christuszentriertheit, Bibelorientierung, Ganzheitlichkeit etc. nennt. Demgegenüber kritisiert Fincke (Der Antichrist, 147ff) im EZW-Materialdienst noch die „Dämonisierung der katholischen Kirche“ in einem Artikel der Vorgänger-Zeitschrift „AdventEcho“ aus dem Jahr 2003.
35 So das Leitbild der Hochschule: www.thh-friedensau.de/ueber-uns/leitbild.
36 Vgl. dazu einen Artikel des Friedensauer Professors für Systematische Theologie Rolf Pöhler: Gesprächsgottesdienst, 95. Vgl. außerdem einen Online-Artikel des Friedensauer Professors für Neues Testament Bernhard Oestreich: www.oestreich.onlinehome.de/hrmntk79.htm.
37 www.adventisten.de/uploads/media/FiD_Beirat_-_Quo_Vadis_Adventgemeinde_2010-06-19.pdf.
38 Vgl. www.adventisten.de/uploads/media/FiD-Stellungnahme_zum_Text_Quo_vadis.pdf.
39 Zit. in der Stellungnahme des Norddeutschen Verbandes: www.advent-verlag.de/cms/cms/upload/adventistenheute/AH-2015-06/NDV_Stellungnahme_zu_Vorwuerfen_der_%20BWV.pdf.
40 Vgl. ebd.
41 Padderatz, Gesicht des Papsttums, 13f.
42 Vgl. beispielsweise Pfandl, Einheit der Gemeinde, 14.
43 Gehring, Omega-Krise, 20.
45 Ebd.
46 So heißt es im Punkt IX. der „Esslinger Erklärung zum ewigen Evangelium“: „Angesichts der immer deutlicher sich abzeichnenden Erfüllung der Prophezeiungen aus Offenbarung 13 und 14 rufen wir alle Geschwister, Prediger, Administratoren, Missionswerke etc. auf, sich unter dem Banner der Dreifachen Engelsbotschaft zu versammeln und zu vereinen. Diese Botschaft hat die Kraft, alte Gräben und persönliche Konflikte zu beseitigen. Wir glauben, dass wir an einer historisch wichtigen Wegmarke stehen. Es kommt jetzt darauf an, die richtigen Entscheidungen zu fällen“ (ebd.).
47 www.josia-missionsschule.de/images/pdf/bewerbungsunterlagen/Studentenhandbuch.pdf.
48 Vgl. ebd.
49 Vgl. www.josia-missionsschule.de/ausbildung/unterricht.html.
50 Vgl. http://yimc.de/de/movement/statement.
51 Vgl. http://yimc.de/de/media.
52 Auch die Neuauflage des Handbuchs der VELKD (Jahn/Pöhlmann [Hg.], 159-178) berücksichtigt die Restaurationsbestrebungen innerhalb der Freikirche der STA kaum.
53 Hempelmann, Was ist eine Sekte?
54 Vgl. zum Begriff des christlichen (Wort-)Fundamentalismus: Hempelmann, Sehnsucht nach Gewissheit, 422ff.
55 Schmid/Schmid (Hg.), Kirchen, Sekten, Religionen, 165.
Literatur
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Fincke, Andreas: Der Antichrist in der ACK, in: MD 4/2004, 147-149
Fleischmann-Bisten, Walter: Von der Sondergemeinschaft zur Freikirche. Der Weg der Siebenten-Tags-Adventisten als Vorbild für die Neuapostolische Kirche, in: Kai Funkschmidt (Hg.), Bewahrung und Erneuerung. Ökumenische Analysen zum neuen Kathechismus der Neuapostolischen Kirche, EZW-Texte 228, Berlin 2013, 111-126
Gehring, René: Die Omega-Krise. Ellen White und die kommende Zerreißprobe für die Adventgemeinde, in: BWgung 1/2014, 17-21
Hempelmann, Reinhard: Was ist eine Sekte? EZW-Kompakt-Infos, Berlin 2013
Hempelmann, Reinhard: Sehnsucht nach Gewissheit – neue christliche Religiosität, in: ders. u. a. (Hg.), Panorama der neuen Religiosität, Gütersloh 22005, 411-510
Höschele, Stefan: Eschatology and Theological Dialogue: Insights from Adventist Interchurch Conversations, in: One in Christ 47/1 (2013), 29-51
Höschele, Stefan: Gaststatus als Modell von Ökumenizität? Siebenten-Tags-Adventisten und die Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in Deutschland – Hintergründe, Entwicklungen und Einsichten, in: Freikirchenforschung 18 (2009), 188-204
Jahn, Christine/Pöhlmann, Matthias (Hg.): Handbuch Weltanschauungen, Religiöse Gemeinschaften, Freikirchen, Gütersloh 2015
Krech, Hans/Kleiminger, Matthias (Hg.): Handbuch Religiöse Gemeinschaften und Weltanschauungen, Gütersloh 62006
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Obst, Helmut: Apostel und Propheten der Neuzeit. Gründer christlicher Religionsgemeinschaften des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 2000
Padderatz, Gerhard: Das neue und sympathische Gesicht des Papsttums. Müssen wir unsere Auslegung von Offb. 13 ändern?, in: BWgung 2/2014, 12-14
Paulsen, Jan: Unsere adventistische Identität. Wer sind wir? Wie möchten wir sein?, in: Adventisten heute 10/2010, 8-10
Pegelow, Jörg: Alle Kirchentage wieder, in: MD 7/2010, 270-271
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