Doppelmitgliedschaft und Multireligiosität
Doppelmitgliedschaft bezeichnet ein Phänomen, das in unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Bereichen eine Rolle spielt. Einzelne Mitglieder der evangelischen Landeskirchen engagieren sich gleichzeitig in Freikirchen, verstehen sich als Anthroposophen, gehören einer Freimaurerloge an oder sehen im Schöpfen aus unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Quellen keinen Widerspruch zu ihrer formellen kirchlichen Mitgliedschaft. Im Kontext eines sich verschärfenden religiösen und weltanschaulichen Pluralismus, der einhergeht mit Tendenzen forcierter Säkularität, lassen sich Prozesse der Ausdifferenzierung und Individualisierung auch in der Praxis von Mitgliedschaft beobachten. In größeren religiösen Gemeinschaften gibt es ohnehin unterschiedliche Typen von Mitgliedschaft, von engagiert bis distanziert. Doppelmitgliedschaft kann dann zum Konflikt führen, wenn die individuelle Glaubenspraxis und die Erwartungen der Organisation bzw. Institution nicht übereinstimmen oder wenn beispielsweise eine Religionsgemeinschaft Doppelmitgliedschaft zulässt, während die andere den Austritt ausdrücklich erwartet. Inhaltlich stellt sich bei Doppelmitgliedschaften die Frage nach der Vereinbarkeit von religiösen und weltanschaulichen Praktiken und Bekenntnissen.
Beispiele
Gewollte Formen von doppelter Mitgliedschaft liegen beispielsweise im Verhältnis der evangelischen Kirche und der Herrnhuter Brüdergemeine vor. Mitglieder der Herrnhuter sind häufig zugleich Mitglied einer Landeskirche. Die Heilsarmee, in der Heiligungsfrömmigkeit, ordensähnliche Merkmale und freikirchliche Elemente verbunden sind, verlangt keinen Kirchenaustritt. Doppelmitgliedschaften kann es geben. Vonseiten der Religiösen Gemeinschaft der Freunde (Quäker) wird ein Kirchenaustritt nicht verlangt. Viele Quäker verstehen sich konfessions- und religionsüberschreitend. Zu ihrem heutigen Selbstverständnis gehört die Vorstellung vom „Inneren Licht“, das im Kontext der christlichen Überlieferung verstanden werden kann, aber auch Offenheit für verschiedenste Ausprägungen des Christlichen bedeuten kann, einschließlich der Aufnahme nichtchristlicher religiöser Traditionen. Die Pfingstbewegung in Gestalt des Mülheimer Verbandes kannte viele Jahrzehnte lang Doppelmitgliedschaften. Sie verstand sich selbst als Gemeinschaftsfrömmigkeit. Inzwischen hat sich dies geändert. Sie hat sich weitgehend freikirchliche Organisationsformen gegeben.
Im Verhältnis zwischen evangelischer Kirche und den etablierten Freikirchen gilt der Grundsatz, dass aus Gründen des wechselseitigen Respekts Doppelmitgliedschaften vermieden werden sollten. Zahlreiche unabhängige charismatische Gemeinschaftsbildungen sprechen Jugendliche und junge Erwachsene an. Die wenigsten von ihnen verlangen für ein verbindliches Engagement den Austritt aus der Landeskirche, sodass von zumindest zeitweiligen Doppelmitgliedschaften auszugehen ist. Da die meisten der unabhängigen Freikirchen die Erwachsenen- bzw. Gläubigentaufe praktizieren, breitet sich in ihnen vor allem ein freikirchlicher Kirchentypus aus. In bibelfundamentalistischen Gemeinschaftsbildungen werden Doppelmitgliedschaften abgelehnt, ebenso zwischen evangelischer Kirche und Neuapostolischer Kirche.
Ältere Ausgaben des VELKD-Handbuches „Religiose Gemeinschaften“ definierten Sondergemeinschaften als Gruppen, „in denen Doppelmitgliedschaften innerhalb der evangelischen Landeskirche verbreitet sind; die zwar religiöses Sondergut pflegen, deren Mitglieder aber weiterhin Zugang zu den Sakramenten in der Landeskirche besitzen“ (3. Aufl., 1985, 15). Subsumiert wurden unter diese Gemeinschaften die katholisch-apostolische Kirche, die Lorber-Gesellschaft, die Philadelphia-Bewegung, die Tempelgesellschaft und die Gemeinschaft in Christo Jesu (Lorenzianer), deren Verbreitung sich insbesondere auf das Gebiet der evangelisch-lutherischen Kirche in Sachsen konzentriert. Distanz und Nähe dieser Gemeinschaften zur evangelischen Landeskirche sind freilich unterschiedlich zu bestimmen. Lehrmäßige Unterschiede können gravierend sein wie beispielsweise bei den Lorenzianern oder gering wie bei Angehörigen der katholisch-apostolischen Kirche. Die Anhänger Jakob Lorbers sehen in seinen Schriften Neuoffenbarungen, die eine der Bibel vergleichbare kanonische Autorität besitzen. In zahlreichen Gemeinschaften, die einem esoterisch orientierten „Geistchristentum“ zuzuordnen sind, gibt es Doppelmitgliedschaften, die häufig zur Entfremdung gegenüber einem reformatorisch geprägten Verständnis des Christlichen und seiner Praxis führen. Religiöse Gemeinschaften, die in esoterischen und neognostischen Traditionen stehen (z. B. Orden von Rosenkreuz/Antiquus Mysticus Ordo Rosae Crucis/A. M. O. R. C. und Lectorium Rosicrucianum) weisen grundlegende Differenzen im Verständnis von Gott, Welt und Mensch gegenüber biblischen und reformatorischen Orientierungen auf. Ein Kirchenaustritt wird zumeist nicht gefordert, höhere Initiationen setzen jedoch eine Distanzierung vom kirchlichen Glauben und der historischen Gestalt des Jesus von Nazareth voraus.
Anders sehen Urteilsbildungen zur Frage der Vereinbarkeit von Christentum und Freimaurerei aus. Eine Vereinbarkeit wird vonseiten der evangelischen Kirchen ausgesprochen. Sie bleibt jedoch an das Kriterium gebunden, dass das Ritualerlebnis in der Logenarbeit nicht in Spannung zur Rechtfertigung allein durch Gnade (sola gratia) tritt. Diskussionsprozesse in der römisch-katholischen Kirche führten zu dem Ergebnis, die Möglichkeit einer gleichzeitigen Zugehörigkeit zu bestreiten. Aus katholischer Perspektive wurde die Freimaurerei u. a. deshalb inkompatibel mit kirchlicher Mitgliedschaft, weil in ihr eine aufklärerische Religion gesehen wird, kirchenähnlich, mit zahlreichen religionsähnlichen Ritualen und einem Universalanspruch.
Vor allem im Blick auf ostasiatische Religionen und kompositorische Religionsformen wird heute die Frage nach doppelten Zugehörigkeiten diskutiert. Lassen sich etwa der christliche und der buddhistische Weg gleichzeitig gehen? Widerspricht die Kirchenmitgliedschaft schamanistischen Initiationsritualen? Kann religiöse Verschiedenheit so verarbeitet und versöhnt werden, dass die jeweilige Tradition als Sprachspiel verstanden wird, das sich auf die eine gemeinsame Erfahrung des Göttlichen bezieht? Kann es im Christentum und im Buddhismus eine Gemeinschaft der Meditierenden geben, die sich durch die schweigende Verehrung eines namenlosen Göttlichen vollzieht und darin die Urerfahrung aller religiösen Traditionen erkennt? Existiert ein innerer Kern einer religiösen Tradition getrennt von seiner äußeren Gestalt? Rituale, Bekenntnisse, Dogmen, heilige Texte – haben sie als äußere Aspekte zu gelten, als überholbare Stufe? Eine Typologie multireligiöser Praktiken kann darauf verweisen, dass „Nichtchristliches im christlichen Kontext“, „Christliches im nichtchristlichen Kontext“ oder „Christliches und Nichtchristliches“ im mystisch-esoterischen Kontext vorkommen kann.
Einschätzungen
Pauschale Einschätzungen, etwa die grundsätzliche Bejahung oder Verneinung von Doppelmitgliedschaften, kann es nicht geben. Nach evangelischem Verständnis ist Mitgliedschaft durch drei Elemente bestimmt: die Taufe, das evangelische Bekenntnis, der Aufenthalt in einer Kirchengemeinde. Christinnen und Christen sollten in der Lage sein, Gründe für die Vereinbarkeit bzw. Unvereinbarkeit weltanschaulicher und religiöser Orientierungen anzugeben. Unterscheidungsfähigkeit setzt die Kenntnis des eigenen und des fremden Glaubens voraus. Im Kontext zunehmender kultureller und religiöser Pluralisierung besteht eine doppelte Aufgabe religiöser Bildung darin, Pluralitätsfähigkeit zu stärken, Differenzen zu respektieren und Gemeinsamkeiten wahrzunehmen.
Zu unterscheiden ist die Perspektive der Glaubenslehre einer Religionsgemeinschaft und die Perspektive des individuellen Selbstverständnisses. Nicht jede Aufnahme von Praktiken aus einer anderen religiösen Tradition führt zu einer Vermischung von Religionen. In vorpluralistischen Gesellschaften, in denen Kirchenmitgliedschaft als Normalfall vorausgesetzt werden konnte, wurde Doppelmitgliedschaft auch aus dem Bedürfnis der Zugehörigkeit zur Bürgergemeinde praktiziert und schützte gewissermaßen die nonkonformistische Religionspraxis vor Ausgrenzung.
Aus juristischer Perspektive stellen Organisationen, die als Religion und Kirche gelten wollen, zum Beispiel Scientology, ihre Religionsgemeinschaftseigenschaft durch Doppelmitgliedschaften infrage. Aus dieser Perspektive gilt auch: Niemand kann in inhaltlich unterschiedlich ausgerichteten Religionsgemeinschaften gleichzeitig Mitglied sein. Für ein Mitglied von zwei Religionsgemeinschaften ist eine Berufung auf Religionsfreiheit nicht möglich, wenn ein solches Handeln nur nach den Regeln der einen Religionsgemeinschaft geboten erscheint.
Zu kompositorischen Religionsformen ist zu sagen: Sie verkennen den bindenden Charakter von religiösen Überlieferungen und Praktiken. Zu jeder Religion gehören grundlegende Gewissheiten. Das Beheimatetsein im christlichen Leben ist etwas anderes, als den Weg buddhistischer Erleuchtung zu gehen. Das Modell einer Einheitsmystik wird aufgegriffen, um das Gemeinsame christlicher und beispielsweise buddhistischer Existenz auszusagen. Überzeugend scheint es mir nicht zu sein. Es vernachlässigt lehrhafte und die spirituelle Praxis betreffende Unterschiede und betrachtet religiöse Zugehörigkeiten als zweitrangig. Im religiös-weltanschaulichen Pluralismus müssen Christinnen und Christen auskunftsfähig bleiben im Blick auf ihr spezifisches Verständnis von Gott, Mensch und Welt. Buddhisten und Christen werden sich auf eine Verschmelzung ihrer Identitäten oder auf eine funktionale Arbeitsverteilung nicht festlegen wollen, schon gar nicht nach dem Motto: Für die individuelle Spiritualität und die Auseinandersetzung mit Tod und Sterben ist der Buddhismus, für alles Ethische und Gesellschaftspolitische ist das Christentum zuständig.
Für einen Dialog, der vom Respekt vor dem Anderssein des Anderen bestimmt ist, sind erkennbare Identitäten wichtig. Der „Zwang zur Wahl“ (Peter L. Berger) ist in Gesellschaften, die durch religiöse und weltanschauliche Vielfalt geprägt sind, unausweichlich. Ungeklärte religiöse Zugehörigkeiten fördern interreligiöse Begegnungen nicht, sie belasten sie. Differenzen im Glaubensverständnis und in der religiösen Praxis dürfen weder heruntergespielt werden noch das Ende der Kommunikation und des wechselseitigen Lernens bedeuten.
Reinhard Hempelmann, Februar 2016
Literatur
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Handbuch Religiöse Gemeinschaften. Für den VELKD-Arbeitskreis Religiöse Gemeinschaften im Auftrage des Lutherischen Kirchenamtes hg. von Horst Reller, Gütersloh 31985
Handbuch Weltanschauungen, Religiöse Gemeinschaften, Freikirchen, im Auftrag der Kirchenleitung der VELKD hg. von Matthias Pöhlmann und Christine Jahn, Gütersloh 2015
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Walter Sparn, Was ist dem christlichen Glauben fremd? Kriterien zum Umgang mit dem Synkretismus, in: Materialdienst der EZW 4/2008, 147-151
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