Engel
Der Glaube an Engel erfährt in der Gegenwart einen ungeahnten Zuspruch. Engel sind nicht nur ein beliebtes Motiv in der Werbung, regelmäßig sind sie auch in Filmen zu sehen, gern werden kleine Engelfiguren verschenkt, in zahlreichen Kinderbüchern tauchen Engel auf, und für Erwachsene gibt es Engel-Ratgeberliteratur. Attraktiv ist dabei vor allem der Schutzengel. In der Esoterik nehmen Engel einen so bedeutenden Platz ein, dass herkömmliche Esoterikmessen inzwischen Engeltage heißen können. Hier ist der Engel vor allem eine Quelle der Kraft, des persönlichen Schutzes und der ganzheitlichen Heilung. Eine Forsa-Umfrage aus dem Jahr 2005 kam zu dem Ergebnis, dass in Deutschland mehr Menschen an Engel glauben (66 %) als an Gott (64 %). Eine Online-Befragung durch YouGov im Jahr 2016 bestätigte den Trend: Demnach glaubt jeder zweite Deutsche an Engel. 58 % der Frauen und 41 % der Männer glauben an Schutzengel. Diese Popularität der Engel überrascht vor allem in den großen Kirchen, wo Engel in der Verkündigung kaum mehr eine Rolle spielen.
Ursprünge
Engel gehören religionswissenschaftlich gesehen zu Zwischenwesen, die weder menschlich noch göttlich sind, wie auch Dämonen, Geister und ähnliche Gestalten. Sie befinden sich gleichsam zwischen Mensch und Gott und können eine vermittelnde Funktion übernehmen. Nach dem herkömmlichen Verständnis im jüdischen, christlichen und islamischen Monotheismus sind Engel immer auf Gott bezogene, ihm dienende Wesen. Im Alten Testament lassen sich vor allem zwei Gruppen unterscheiden. Eigentliche Engel (abgeleitet vom griechischen angelos, Bote; hebräisch mal’ak) treten meist in unscheinbarer menschlicher Gestalt als Gottes Boten auf. Als zweite Gruppe gottnaher Wesen sind Cherubim und Seraphim zu nennen. Cherubim bewachen den Garten Eden, sie umgeben die Bundeslade und den Thron Gottes. Sie haben Menschengestalt, vier Gesichter und vier Flügel. Seraphim sind mit sechs Flügeln ausgestattet, sie gehören ebenfalls zum Thronrat Gottes und beten Gott an. Von daher haben Engel eine Bedeutung für die kirchliche Liturgie.
Aus der biblischen Tradition bekannt bzw. aus ihr abgeleitet treten Engel in Judentum, Christentum und Islam auch als Deuteengel, Schutzengel, Gerichts-, Straf- oder Todesengel auf. Namentlich bekannt sind einzelne Erzengel. Im Alten und Neuen Testament werden Gabriel und Michael genannt, aus den alttestamentlichen Apokryphen kennen wir außerdem Raphael und Uriel. In verschiedenen jüdischen und christlichen Engellehren (Angelologien) wurden zum Teil Engelhierarchien gebildet. Engel konnten hier weitere Funktionen übernehmen, zum Beispiel als Natur- und Elementarengel, in denen sich Kräfte der Natur personalisierten. Neben der Vierzahl der Erzengel gibt es weitere jüdische Traditionen mit sieben oder sechs Erzengeln, die unterschiedliche Namen tragen können. Im Christentum waren unter anderem die Engellehren von Dionysius Areopagita, Augustinus und Thomas von Aquin einflussreich.
Ebenfalls aus dem Alten Testament abgeleitet ist die Vorstellung eines Engelfalls, der zu einem Engeldualismus führt. Demnach stehen den Engeln, die Gott dienen und dem Menschen wohlwollend oder neutral gesinnt sind, gefallene Engel gegenüber, die den Menschen zum Abfall von Gott und zum Bösen verführen und den Menschen und Gott schaden wollen. Zeitweise konnte sich in der Tradition ein herausragender Engel, zum Beispiel Satan, zum fast gleich starken Gegenspieler Gottes entwickeln.
Sowohl im Judentum als auch in den christlichen Großkirchen wurde der Gefahr „verwildernder“ Engellehren vorgebeugt, indem man die Geschöpflichkeit der Engel betonte, ihre Verehrung verbot und sie als „dienstbare Geister“ (Luther) Gottes Souveränität unterstellt sein ließ.
Engel in der gegenwärtigen Theologie
Bis zur Aufklärung gehörten Engel zum selbstverständlichen Bestand christlicher Glaubenspraxis und Theologie. Im 19. Jahrhundert verloren sie im Zuge eines naturwissenschaftlich-rationalen Weltbildes vor allem in der evangelischen Theologie massiv an Bedeutung. Im 20. Jahrhundert gewann man hier neue Zugänge zur Angelologie. Paul Althaus sah eine wichtige Funktion der Engel darin, den Menschen an seine Begrenztheit zu erinnern sowie daran, sich nicht als „höchste persönliche Kreatur“ anzusehen. Auch sei Gott mit der Anbetung durch die Engel nicht allein auf das Schöpfungslob der Menschen angewiesen. Paul Tillich bot eine moderne Deutung der Engel als „konkret-poetische Symbole der Ideen oder Seinsmächte“. Karl Barth verstand Engel als Zeugen des Wortes Gottes.
Auf katholischer Seite ließ Karl Rahner in der Schwebe, ob Engel existieren. Für ihn sind sie weder wesentlicher Glaubensgegenstand noch überflüssiges Beiwerk. Die jüngste eigenständige Engellehre stammt von dem katholischen Theologen Thomas Ruster. Er deutet Engel im Sinne von Mächten und Gewalten als funktionale Systeme (gute Engel) oder autonomisierte Systeme (gefallene Engel) nach der Systemtheorie des Soziologen Niklas Luhmann. Besondere Popularität haben die Engelbücher des Benediktinerpaters Anselm Grün erlangt. Er greift Engel als Bilder auf, um lebenspraktische Ratschläge zu geben. Grün ist auch in Esoterik-Kreisen angesehen und wird z. B. in der einschlägigen Zeitschrift „Engelmagazin“ (Auflage 80 000) aufgegriffen, aber er weiß sich theologisch von einem esoterischen Engelverständnis abzugrenzen. So kritisiert er die Weise, wie man in der Esoterik glaubt über Engel verfügen zu können. Dem hält er entgegen, dass Engel Boten Gottes seien, über die der Mensch keine Macht habe.
Engel in der Esoterik
Von Ruster liegt eine interessante Interpretation zur Popularität der Engel in der Esoterik vor. Er kann regelrecht von einer „neuen Engelreligion“ sprechen, die der Logik der Waren- und Konsumwelt entsprechend einer maßlos gesteigerten Bedürfnisbefriedigung folge. Was man nicht mit Geld kaufen kann, stellen die Engel als „himmlische Dienstleister“ (vgl. Murken / Namini 2007) auf Wunsch mit ihrem höheren Wissen und ihrer göttlichen Liebe zur Verfügung: Das reicht von einfachen alltagspraktischen Dingen wie Hilfe bei der Parkplatzsuche über Assistenz bei der Partnerwahl, wunderbare Bewahrung vor oder in Unfällen und Lebenshilfe in allen Fragen bis zur Entwicklung des eigenen Bewusstseins und zu spirituellem Wachstum in Liebe, Vertrauen, Leichtigkeit, Hingabe und Zuversicht. Mit der Hilfe der Engel gelange man – so eine Überschrift im „Engelmagazin“ – „Von der Verzweiflung zu Freude und Licht“.
In der Esoterik kommt es zu einer Verschiebung im Vergleich zur Engelvorstellung der monotheistischen Hochreligionen. Zwar kann noch von Gott gesprochen werden, aber tatsächlich führen die Engel ein Eigenleben ohne direkten Gottesbezug. Ähnlich wie frühere gnostisch beeinflusste Engellehren, die Engel nicht als Geschöpfe Gottes verstanden, sondern als Emanationen, die einer göttlichen Quelle entsprungen seien und am göttlichen Wesen Anteil haben, versteht die Esoterik Engel als Ausfaltungen eines unpersönlich vorgestellten Göttlichen, eines guten geistigen oder energetischen Grundprinzips allen Seins. Engel werden in der Esoterik selbst als etwas Göttliches verehrt.
Dabei ist bemerkenswert, dass ein wichtiges Merkmal des Heiligen fehlt, das Rudolf Otto als „tremendum“ bezeichnet. Engel haben heute nichts Furchteinflößendes, Ehrfurchtgebietendes mehr. Im Grunde kann jeder Mensch unbefangen zu seinen Engeln Kontakt aufnehmen, so lehren es vor allem Engelexpertinnen, die in Büchern und Kursen von ihren Engelerfahrungen berichten und zu eigenen Engelerfahrungen anleiten. Nötig seien dazu meist nur eine „Öffnung des Herzens“ und eine geschulte Sensibilität; dann könne man leicht seine Engel spüren oder sogar mit dem inneren Auge sehen. Jeder Mensch, so die Vorstellung, ist immer von Engeln umgeben, die nur darauf warten, vom Menschen angesprochen zu werden, um ihm zu helfen oder Fragen zu beantworten.
In Deutschland bekannt sind vor allem Sabrina Fox, eine ehemalige Fernsehmoderatorin und Künstlerin, die aus Russland stammende Jana Haas sowie die als Talkshowgast bekannt gewordene „Engeldolmetscherin“ Alexa Kriele. Aus dem englischsprachigen Raum sind unter anderem Doreen Virtue und Lorna Byrne mit erfolgreichen Büchern in Deutschland auf dem Markt. Helga Schaub ist eine Ausnahme, insofern sie nicht nur die lichte Seite von Engeln bedenkt, sondern sich bewusst mit den „Mächten der Dunkelheit“ auseinandersetzt und eine weißmagische Befreiung von negativen Energien verspricht.
Neben Büchern, Einzelberatungen und Seminaren werden auf dem Markt auch alternativmedizinisch-therapeutische und magisch-esoterische Angebote gemacht. Dazu gehören zum Beispiel „Engelessenzen“, die man auf die Haut aufträgt, um körperliche und seelische Heilungsprozesse zu unterstützen. Engelkarten sollen ähnlich wie Tarotkarten zur Selbsterkenntnis beitragen oder bei Entscheidungen helfen. Einzelne Anbieter verstehen sich als Medium, die Botschaften von Engeln „channeln“ (von engl. channel, Kanal) und sich damit an Ratsuchende wenden, das Weltgeschehen deuten oder Prophezeiungen bekanntgeben. Als Großveranstaltung gibt es seit 2006 einmal jährlich einen Engelkongress im deutschsprachigen Raum (Hamburg und Salzburg).
Einschätzung
Vor allem der esoterische Engelglaube ist eine Herausforderung für die Kirchen, aus deren Traditionsbestand die Engel in die säkulare Welt ausgewandert sind. In ihm kommt eine Sehnsucht nach Geborgenheit, bedingungsloser Liebe und Annahme sowie nach Heilung und Sinnstiftung zum Ausdruck. Der Religionspsychologe Sebastian Murken erklärt die Attraktivität eines Engel- gegenüber einem Gottesglauben damit, dass Engel persönlicher und individueller seien. Engel können von jedem wahrgenommen werden und erweisen sich im Alltag als wirksam. Die Erfahrung eines allmächtigen, universellen Gottes entspreche dagegen nicht mehr der Alltagserfahrung. Während Gott auch eine dunkle, verborgene und unheimliche Seite hat, ist der Glaube an Schutzengel tröstlich, die nur eine helle, behütende und helfende Seite haben. Der Vorteil von Engeln liegt nach Murken darin, dass sie zum einen ein fester Bestandteil unserer Kultur und Ikonografie sind und zum anderen der individuellen Interpretation Raum lassen.
Die christlichen Kirchen und die Theologie kann der populäre Engelglaube daran erinnern, dass nur ein Teil der geschaffenen Welt dem Menschen unmittelbar zugänglich ist, es darüber hinaus aber einen erfahrbaren „Himmel“ gibt, „Mächte und Gewalten“, die nicht mit Gott selbst zu verwechseln sind (vgl. Ruster 2010). Eine Besinnung auf Engel im christlichen Glaubensleben kann das Augenmerk auf Phänomene unserer natürlichen Wirklichkeit lenken, die über sich hinausweisen. Der Soziologe Peter L. Berger spricht im Blick auf solche Zeichen der Transzendenz von „Spuren der Engel“. Gegen die Tendenz der Instrumentalisierung der säkular verselbständigten Engel für die individuelle Wunscherfüllung ist aus christlicher Perspektive einzuwenden, dass Engel als „dienstbare Geister Gottes“ (Luther) dem Zugriff des Menschen entzogen sind.
Claudia Knepper, August 2021
Quellen
Byrne, Lorna (2009): Engel in meinem Haar. Die wahre Geschichte einer irischen Mystikerin, München.
Fox, Sabrina (2001): Auf der Suche nach Wahrheit, München.
Gregg, Susan (2020): Engel, Heilige und Gottheiten. Wie sie im täglichen Leben zu deinem Glück beitragen können, Köln.
Grün, Anselm (2008): Was soll ich tun?Antworten auf Fragen, die das Leben stellt, Freiburg i. Br.
Haas, Jana (2008): Engel und die neue Zeit. Heilwerden mit den lichten Helfern, Berlin.
Kriele, Alexa (2007): Wie im Himmel so auf Erden. Einführung in die christliche Engelkunde, 4 Bde., Berlin.
Schaub, Helga (2005): Befreiung von Dunkel-Mächten, Güllesheim.
Virtue, Doreen (2007): Botschaft der Engel, Berlin.
Zeitschrift: ENGELmagazin (erscheint seit 2008 sechsmal jährlich).
Sekundärliteratur
Brandl, Marianne / Pöhlmann, Matthias (2010): „Send me an angel!“, in: Katholische Blätter 135, 394 – 399.
Dürr, Oliver (2009): Der Engel Mächte. Systematisch-theologische Untersuchung: Angelologie, Stuttgart.
Ebertz, Michael N. / Faber, Richard (Hg., 2008): Engel unter uns. Soziologische und theologische Miniaturen, Würzburg.
Fugmann, Haringke (2019): Engel – sind auch nicht mehr das, was sie waren. Eine evangelische Engelslehre für Schule und Gemeinde, München.
Hafner, Johann Ev. (2010): Angelologie, Paderborn.
Mann, Ulrich / Seebaß, Horst / Grözinger, Karl Erich u. a. (1982): Art. Engel, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 9, Berlin, 580 – 615.
Murken, Sebastian / Namini, Sussan (2007): Himmlische Dienstleister. Religionspsychologische Überlegungen zur Renaissance der Engel,EZW-Texte 196, Berlin.
Pöhlmann, Matthias (2006): Energien aus höheren Welten? Zum Engel-Boom in der Esoterik, in: Weltanschauung (hg. vom Bischöflichen Seelsorgeamt Augsburg) 3.
Ruster, Thomas (2010): Die neue Engelreligion. Lichtgestalten – dunkle Mächte, Kevelaer.
Winter, Franz (2003): Zwischenwesen. Engel, Dämonen, Geister, in: Figl, Johann (Hg.): Handbuch Religionswissenschaft, Innsbruck u. a., 651 – 662.