Enthusiasmus

Das Wort reicht in seiner Verwendung über den religiösen Kontext hinaus. In der griechisch-römischen Antike bezeichnet es das exponierte Verhältnis eines Menschen zu Gott und hat eine ähnliche Bedeutung wie die Begriffe Ekstase, Inspiration, Manie, Besessenheit. In der Christentumsgeschichte werden als Enthusiasmus diejenigen individuellen und sozialen Formen christlicher Frömmigkeit bezeichnet, die pointiert das unmittelbare Moment der Erfahrung göttlicher Nähe (Visionen, Prophetien, Heilungserfahrungen, Glossolalie, Ekstase etc.) in Praxis und Verständnis von Glaube und Kirche hervorheben und für die die Berufung auf den Heiligen Geist ein charakteristisches Merkmal ist. Sie berühren sich mit mystisch-spiritualistischen Strömungen und können mit einer Relativierung äußerer Vermittlungsgestalten des Geistwirkens (Bibel, Verkündigung, Sakramente) in eins gehen. Der Enthusiast ist der von Gott erfüllte und ergriffene Mensch (en-theos – der von Gott Erfüllte), der Gottes Nähe in außeralltäglichen Ergriffenheitserfahrungen erlebt.

Während das Wort „Enthusiasmus“ heute als religionswissenschaftlicher Beschreibungsbegriff verwendet wird, ist „Schwärmertum“ ein kritisch wertender Abgrenzungsbegriff. Aus der Perspektive einer christologisch konzentrierten Pneumatologie relativierte reformatorisch geprägte Theologie unmittelbare Gottesoffenbarungen und Geistesleitungen, ohne sie allerdings vollends auszuschließen. Sie betonte die „äußerlichen Zeichen“, an die die Verheißung göttlicher Nähe gebunden ist. Charakteristische Merkmale des Schwärmertums sah Martin Luther in einer Vermischung von Gesetz und Evangelium (Legalismus), der Trennung des Geistwirkens von Wort und Sakrament und damit der Preisgabe der Rechtfertigung allein durch den Glauben.

Ausprägungen

Asketisch-spiritualistische Strömungen begleiten die Christenheit seit ihren Anfängen. Klassische Gestalten des Enthusiasmus in der Geschichte der Kirche waren u. a.: im 2. Jahrhundert der Montanismus, in dem sich rigoristische Askese und Kirchenzucht mit der Erwartung eines Tausendjährigen Reiches verbanden, im 12. bis 14. Jahrhundert die Bewegung des Joachim von Fiore mit der Ankündigung des Zeitalters des Heiligen Geistes, im 16. Jahrhundert der „linke Flügel der Reformation“, im 17. und 18. Jahrhundert der radikale Pietismus, im 19. Jahrhundert die Heiligungsbewegung mit ihrem Streben nach christlicher Vollkommenheit, im 20. Jahrhundert pfingstliche Bewegungen, für die das Aufbrechen der Geistesgewissheit in außergewöhnlichen Charismen (Zungenrede, Prophetie, Heilung) kennzeichnend ist.

Merkmale für zahlreiche Bewegungen des christlichen Enthusiasmus sind die Orientierung am Ideal der Urgemeinde bzw. der Anspruch, die biblische Welt mit ihren Zeichen und Wundern zu aktualisieren, das Anliegen der erfahrungsbezogenen Verinnerlichung des Glaubens, das Drängen auf ein reicheres Geisteswirken und die Verifikation göttlichen Wirkens in außeralltäglichen Geistmanifestationen. Ein weiteres gemeinsames Merkmal ist die pointierte endzeitliche Orientierung. Die Taufe im Heiligen Geist wird etwa im Kontext der Pfingstbewegung nicht nur als individuelle Erfahrung, sondern auch als Strategie göttlichen Handelns in endzeitlicher Erweckungsperspektive angesehen.

Zusammenhänge

Enthusiastische Strömungen stehen häufig im Zusammenhang mit der Bewältigung von Krisen des institutionell verfassten Christentums, dem sie in biblizistischer Berufung auf das Neue Testament die Radikalität und endzeitliche Ausgerichtetheit (Millenarismus) urchristlichen Lebens entgegensetzen. Die Komplexität des Phänomens Enthusiasmus sowie der Sachverhalt, dass enthusiastische Strömungen das Christentum seit seinen Anfängen begleiten und gegenwärtig in verschiedenen ekklesialen Kontexten wirksam sind (am augenfälligsten in Gestalt pfingstlicher und charismatischer Bewegungen, in deren Glaubenspraxis allerdings nicht der Geist, sondern Jesus die zentrale Größe ist), nötigen zu differenzierender Wahrnehmung und Beurteilung, die auch die kulturelle Bedingtheit enthusiastischer Erfahrungen berücksichtigt. Theologische Deutungen stellen die enthusiastische Erfahrung der Gnade und die mit ihr verbundenen Gemeinschaftsbildungen in den Zusammenhang der christlichen Initiation (Taufe, Firmung), in ekklesiologischer Hinsicht in den Kontext des Themas „Charisma und Institution“ (z. B. Karl Rahner, Heribert Mühlen). Walter J. Hollenweger unterstreicht den die Schranken von Kultur und Rasse überwindenden Charakter enthusiastischer Erfahrungen und sieht darin ein wichtiges Element der interkulturellen Kommunikationsfähigkeit und missionarischen Dynamik pfingstlicher Bewegungen, das in ihrer Selbstdeutung allerdings keine hinreichende Berücksichtigung findet.

Einschätzung

Gesteigerte Formen von Enthusiasmus, die die seinsmäßige Verknüpfung von Gottes- und Menschengeist betonen, unmittelbare göttliche Offenbarungen in Abkehr vom Schriftprinzip für sich beanspruchen und die ekstatische Erfahrung zu einem zentralen Ort der Erwartung göttlicher Nähe erklären, provozieren die Frage nach Kriterien des göttlichen Geistwirkens. Kritische Auseinandersetzungen mit enthusiastischen Glaubensformen in der Christentumsgeschichte (u. a. bei Paulus und Luther) haben Kriterien und Themen (Wort und Geist) zur Sprache gebracht, die für die Frage nach dem Ort der Antreffbarkeit Gottes in der Welt und der menschlichen Erfahrung von orientierender Bedeutung sind. Sie verweisen auf die Vorläufigkeit (Eschatologie) und Gebrochenheit (Sünde) des individuellen und gemeinschaftlichen christlichen Lebens, die Ambivalenz und Vieldeutigkeit enthusiastischer Erfahrungen und die Verborgenheit Gottes in der Welt.

Paulus weist darauf hin, dass die Erfahrung des Ergriffenwerdens, des Außer-sich-Seins auch außerhalb des von Christus Ergriffenseins vorkommt. Trinitätstheologische Perspektiven tragen zur angemessenen Reflexion des Themas Enthusiasmus bei, insofern sie zur Wahrnehmung der Vielfalt und Bestimmtheit göttlichen Geistwirkens anleiten.

Reinhard Hempelmann, Juni 2009


Literatur

Föller, Oskar, Charisma und Unterscheidung, Wuppertal 21995

Heitmann, Claus / Mühlen, Heribert (Hg.), Erfahrung und Theologie des Heiligen Geistes, Hamburg / München 1974

Hempelmann, Reinhard u. a. (Hg.), Panorama der neuen Religiosität, Gütersloh 22005

Hollenweger, Walter J., Charismatisch-pfingstliches Christentum, Göttingen 1997

Knox, Ronald A., Christliches Schwärmertum, Köln / Olten 1949