Ganzheitlichkeit aus psychologischer Sicht
Ganzheitlichkeit ist ein zentrales Motiv esoterischer Weltanschauung. Besonders häufig begegnet es im Bereich der Alternativmedizin, die auch als „Ganzheitsmedizin“, „integrative“, „holistische“ oder „komplementäre Medizin“ bezeichnet wird. Wissenschaftlich wird diese Sehnsucht nach Verbindung mit dem „großen Ganzen“ zur Beantwortung existenzieller Aporien und der Überwindung von Sinnlosigkeit als „spirituelles Grundbedürfnis“ beschrieben, das angesichts von Tod und Sterblichkeit auch in säkularisierten Gesellschaften nachzuweisen ist (Büssing, 2021). Die ganzheitliche Perspektive nimmt die Person als Körper-Seele-Geist-Einheit in den Blick.
Das stark strapazierte Konzept der Ganzheitlichkeit wird bis heute als Erklärungsmodell in den vielfältigen Heilungsangeboten der sogenannten Gebrauchs-Esoterik verwendet. Dieser vieldeutige und missverständliche Containerbegriff umfasst die unterschiedlichsten religiös-weltanschaulichen Traditionen, Ideen, Organisationen und Praktiken. Ohne nähere Erläuterungen bleibt der Begriff ein Etikett ohne Aussagekraft. Manche Religionswissenschaftler:innen beklagen, dass ein ernsthaftes Gespräch mit „der Esoterik“ durch polemische, von eurozentrischer Kultur und kirchlicher Deutungsmacht beförderte Abgrenzungen erheblich erschwert wird (Hanegraaff, 2023). Es wird vor schnellen Urteilen gewarnt und zu mehr Differenzierung aufgefordert. Der folgende Beitrag folgt dieser Aufforderung, indem er nicht den vagen Überbegriff Esoterik, sondern den damit verbundenen Topos der Ganzheitlichkeit ins Zentrum seiner Betrachtungen rückt. Für das Verständnis von Esoterik ist dieser Topos von grundlegender Bedeutung. Darüber hinaus wird hier vor allem die Perspektive der Psychologie eingenommen. Woher stammt die Idee der Ganzheitlichkeit, was sind Möglichkeiten und Grenzen der Einbeziehung ganzheitlicher Methoden in die Krankenversorgung, und welche Rolle kommt dabei der Seelsorge zu?
Ganzheitlichkeit in der Psychologie und Systemtheorie
Um sich dem Diktat medizinisch-technischer Optimierungsmodelle zu entziehen, hat sich in den letzten Jahrzehnten ein Markt komplementärer und ganzheitlicher Gesundheitsangebote etabliert, der nicht nur körperliche Gesundheit, sondern seelische Ganzheit ins Auge fasst und auch wissenschaftlich überprüfen will (Dollmann, 2022). Den Ausgangspunkt für die Hinwendung zu spirituellen, okkulten und esoterischen Praktiken mit dem Ziel einer verbesserten Körper-Seele-Geist-Ganzheit bildeten dabei Initiativen, die sich gegen das rationalistische Zweckdenken wendeten und den rasanten technisch-wissenschaftlichen Fortschrittsglauben im 19. Jahrhundert kritisch hinterfragten. In Medizin und Psychotherapie öffnete man sich Gesundheitsmodellen aus Asien. Man wendete sich vor allem hinduistisch oder buddhistisch geprägten Versenkungsmethoden zu, vor allem dem Yoga und dem Zen. Von hier aus kann eine Rezeptionslinie über die New-Age-Bewegung und die humanistisch-transpersonale Psychologie bis ins 21. Jahrhundert gezogen werden: Friedensbewegung, ökologisches Denken und ganzheitliche Medizin wurden zu populären Themen in den Medien.
Ursprünglich wurde die wissenschaftliche Psychologie aus dem Geist der Physik geboren, auch wenn sie theologische Wurzeln hat. Sie kam Mitte des 19. Jahrhunderts gleichsam ohne Seele und ohne Geist zur Welt. Entschlossen hatte sie sich von der Philosophie und der Theologie gelöst und den Begriff „Seele“ bereitwillig zurückgelassen, der mit Vorstellungen von Ganzheitlichkeit verbunden war. Mit empirischen Messmethoden wurden Denkvorgänge, Wahrnehmungserlebnisse und Sinnesreize als „psychische Tatsachen“ erforscht. Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte sich als Gegenbewegung zu diesem „atomistischen Experimentalismus“ die Gestalt- und Ganzheitspsychologie (Reuter, 2014). Eines deren Grundprinzipien lautet: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“. Und sie lieferte zugleich einen anschaulichen Beleg: Dem Reiz einer Melodie komme ich nicht auf den Grund, wenn ich die Tonfolge in ihre Einzeltöne zerlege. Erst in ihrer Abfolge und im systemischen Zusammenklang können letztere ihre Wirkung entfalten. Das systemische Denken wurde vom Physiker, Systemtheoretiker und New-Age-Vordenker Fridjof Capra (geb. 1939 in Wien) in Verbindung mit östlicher Mythologie und dem Konstruktivismus zu einem ganzheitlichen, neuen Weltbild weiterentwickelt, das Capra selbst als Grundlage für einen zukunftsweisenden nachhaltigen Lebens- und Wirtschaftsstil erachtete. Mit seinem systemischen Ganzheitsmodell suchte er das mechanistische Denken zu erweitern, um die Trennung von Ich und Welt überwinden und die ökologischen, sozialen und kulturellen Krisen der Gegenwart bewältigen zu können. Wenngleich Capra aus wissenschaftstheoretischer Sicht vorgehalten wurde, er verkenne die Verschiedenheit von physikalischem und mystischem Holismus, haben seine Bücher das Ganzheitsdenken befördert.
Das Konzept der Ganzheitlichkeit enthält das Versprechen, einen Mangelzustand auszugleichen. Die Studie der Wissenschaftshistorikerin Anne Harrington (2002) zeichnet die Suche nach Ganzheit in der Geschichte biologisch-psychologischer Ganzheitslehren umfassend nach. Holistische Ideen hätten sich im Zeitraum vom Kaiserreich bis zur New-Age-Bewegung in verschiedenen Varianten herausgebildet, einige davon auch zunehmend radikalisiert. Nach dem Ersten Weltkrieg habe eine „Infizierung der deutschen Ganzheitslehre mit den Rassegedanken und ihre teilweise Absorption in die Politik und Mythologie des Nationalsozialismus“ stattgefunden (Harrington, 2002, 22). Die Studie zeigt die historischen Wurzeln einer Vorstellung auf, deren gesellschaftliche Auswirkungen heute in der gefährlichen Vermischung von Verschwörungserzählungen, Rechtsextremismus und Esoterik zu einer Bedrohung für die Demokratie geworden sind (Lamberty & Nocun, 2022). Der im Spannungsfeld von Wissenschaft und einer Rettungsmythologie entstehende Begriff der „Ganzheit“ ist nach Harringtons Analyse von Anfang an ideologisch aufgeladen. Ganzheitsmedizin befindet sich bis heute vielfach auf der Schnittstelle zwischen Religion und Wissenschaft (Koch, 2014).
Der esoterische Arzt Rüdiger Dahlke (2007), der sich insbesondere durch die Herausgabe eines Sammelbandes zur Ganzheitsmedizin („Das Große Buch der ganzheitlichen Therapien“) einen Namen gemacht hat, betreibt heute eine Online-Plattform „zum ganzheitlichen Weg der Heilung“ (www Dahlke4You.com). In seinem Handbuch werden komplementäre Verfahren wie die Akupunktur, Aura-Therapie, Ayurveda, Cranio-Sacral-Therapie, Festhaltetherapie, Geistheilung, Homöopathie, Kinesiologie, Reiki, Reinkarnationstherapie, schamanisches Heilen, Steinheilkunde und andere alternative Verfahren als wirksame Behandlungsmethoden empfohlen. Auf seiner Online-Plattform werden entsprechende Weiterbildungen angeboten. Nach einer repräsentativen Studie in Österreich haben 56 Prozent der Befragten konkrete Erfahrungen mit mindestens einer ganzheitlichen Praxis gemacht, 27 Prozent mit drei oder mehr Praktiken (Höllinger &Tripold 2012). Das Feld dieser Pilotstudie wurde bewusst weit abgesteckt und reichte von Yoga und Meditation über Homöopathie, Familienaufstellung und Akupunktur bis hin zu Reiki, Astrologie und Schamanismus. Zum „holistischen Milieu“ zählen laut dieser religionssoziologischen Studie Menschen, die sich umfassend alternativ-therapeutisch beraten lassen und sich in der Krise der Krankheit mit existenziellen und religiösen Fragen beschäftigen.
In einem aktuellen Fachbuch über Rituale in der Psychotherapie werden vier Hauptströmungen für spirituell-ganzheitliche Heilmethoden vorgestellt, die herkömmliche psychotherapeutische Ansätze ergänzen sollen: schamanische, buddhistische, Quantenheilungs- und hawaiianische Heilrituale (Brentrup & Kupitz 2015). Das Fachbuchversäumt es jedoch, die Zusammenhänge zwischen wissenschaftlichen und religiös-weltanschaulichen Ansätzen aufzuzeigen und zu reflektieren, so dass es zu einer willkürlichen Vermischung kommt. Darüber hinaus fehlen christliche Heilungs- und Therapieansätze, obwohl in Europa durchaus solche Ansätze existieren und bis heute entwickelt werden. Pionierarbeit hat in Deutschland die Berliner Landeskirche geleistet, indem sie die Zusammenarbeit zwischen Medizin und Seelsorge förderte und unterstützte. Im Jahr 1925 rief Carl Gunther Schweitzer (1889–1965), damals Direktor im Zentralausschuss für Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche und zugleich Leiter der „Apologetischen Centrale“ in Berlin-Spandau, die Arbeitsgemeinschaft „Arzt und Seelsorger“ ins Leben. Bis 1932, als die Arbeitsgemeinschaft Opfer des Nationalsozialismus wurde, fanden gut besuchte Begegnungstagungen statt. 25 Hefte einer gleichnamigen Schriftenreihe belegen die regen Aktivitäten an Vorträgen, Diskussionsveranstaltungen und Tagungen dieser Initiative. Nach dem 2. Weltkrieg gründete Wilhelm Bitter (1893–1974) die „Stuttgarter Gemeinschaft Arzt und Seelsorger“ mit ähnlicher Zielsetzung, die bis 1961 vielbeachtete Tagungen durchführte und eine eigene Buchreihe vorlegte. Seit einiger Zeit gibt es in Berlin wieder eine Arbeitsgemeinschaft von Ärzt:innen, Religionswissenschaftler:innen und Geistlichen verschiedener Religionen, die an dieser Schnittstelle arbeiten und am 29.11.2024 ihr 15. religionswissenschaftlich-psychiatrisches Colloquium durchführen (Mönter, 2007; Mönter, Heinz & Utsch, 2020).
Die Weltgesundheitsorganisation WHO nimmt in ihrer Definition von Gesundheit schon 1946 eine ganzheitliche Sichtweise ein und beschreibt sie als Zustand vollständigen körperlichen, geistigen („mental“) und sozialen Wohlergehens, nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen. Eine Arbeitsgruppe ergänzt 1998 als notwendigen vierten Faktor die spirituelle Dimension (Peng-Keller, Wininger & Rauch, 2022). Aufmerksamer für die spirituelle Dimension und den ganzheitlichen Umgang mit der Einheit von „Körper-Seele-Geist“ ist seit jeher die Medizin. Im Fachbereich der Palliativmedizin gehört der professionelle Umgang mit den spirituellen Bedürfnissen der Patient:innen neben ihrer somatisch-psychologisch-pflegerischen Versorgung heute zur ärztlichen Pflicht und ist Teil der Weiterbildung (Masel, 2023). Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen in der Palliativmedizin wird derzeit fachlich diskutiert, das traditionelle, biopsychosoziale Gesundheitsmodell um die spirituelle Dimension zu erweitern (Magin, 2022). In der Zusammenschau der vier Dimensionen soll ein ganzheitliches Gesundheitsmodell entstehen, das sich bereits in der weltweiten medizinischen Versorgungskrise der Covid-19-Pandemie bewährt habe (Galbadage et al., 2020). Ganzheitlich verstandene Gesundheit, auch im Deutschen immer häufiger als „Holistic Health“ bezeichnet, will die traditionellen Rivalitäten zwischen Körper, Seele und Geist überwinden und den Menschen in seiner personalen Ganzheit in den Blick nehmen (Van Denend et al., 2022).
Zusammenfassend können im Verhältnis zwischen Medizin und Religion historisch grob drei Phasen unterschieden werden:
1. Die Phase der Zusammenschau
Glaube und Heilung, Spiritualität und Medizin waren bis ins 17. Jahrhundert untrennbar miteinander verknüpft. Im Altertum waren Heiler:innen Angehörige der Priesterklasse, und im Mittelalter wurden psychotherapeutische Behandlungen von der Geistlichkeit ausgeübt. Mönche und Nonnen gründeten die ersten Hospitäler, Diakonissen prägten über Jahrhunderte das Leitbild für Diakonie und Pflege. Früher wurden religiöse Übungen und Rituale wie Opfer, Anbetung oder Beichte gezielt zu physischen und psychischen Heilzwecken eingesetzt (Spitzer, 2022). Diesbezügliche Methoden und Haltungen werden heute sowohl im Rahmen der Alternativmedizin als auch in der traditionellen europäischen Medizin wiederentdeckt. Verfolgt man den Begriff Therapie auf seine älteste bezeugte Bedeutung zurück, tritt sein religiöser Kern deutlich hervor: Das Griechische „therapeuein“ bedeutet zunächst die Götter verehren, der Gottheit dienen, und dann auch: besorgen, warten, pflegen, ärztlich behandeln und eben auch heilen, (wieder-)herstellen.
2. Die Phase der Separierung
Mit der Aufklärung, der umgreifenden Technisierung des Alltags und den professionellen Spezialisierungen brachen religiöses Heil und säkulare Heilung auseinander. Therapie und Theologie wurden zu Rivalinnen. Doch warum ist die Existenz neuer esoterischer und spiritueller Suchbewegungen nach mehr Ganzheit in den Sozial- und Humanwissenschaften bis in die 1980er Jahre hinein, von wenigen Ausnahmen abgesehen, kaum wahrgenommen und thematisiert worden? Erst mit deutlicher Verspätung begannen sich Religionswissenschaftler:innen, Soziolog:innen und Psycholog:innen intensiver damit auseinanderzusetzen (Baatz 2017, Walach 2021). Als Motiv wurden die Abgrenzungsbemühungen zur Theologie genannt, wobei Religion und Spiritualität in Medizin und Psychologie verdrängt worden seien (Kaiser, 2007). Die auffällige Ignoranz und fehlende wissenschaftliche Beschäftigung mit der spirituellen Dimension führte jedoch zugleich zu einer Spiritualisierung psychotherapeutischer Angebote mit teilweise hochproblematischen Folgen (Tändler, 2016; Lamberty & Nocun, 2022). Erst im Jahr 2005 wurde die Fachgesellschaft „European Society for the Study of Western Esotericism“ (Link) gegründet, die alle zwei Jahre Kongresse ausrichtet, an denen auch in Deutschland Forschende beteiligt sind. In einem interdisziplinären DFG-Forschungsprojekt einer bayrischen Universität werden derzeit die Deutungs-, Rationalisierungs- und Legitimationsstrategien esoterischer Praktiken in globaler Perspektive untersucht. Ein Teilprojekt (Link) untersucht etwa den esoterischen Kontext des Familienstellens nach Hellinger.
3. Die Phase der Re-Integration
Neuere Forschungsergebnisse der Psychoneuroimmunologie weisen auf erstaunliche Zusammenhänge zwischen der inneren Haltung einer Person und biologischen Prozessen hin (Schubert 2014). In diesem neuen Forschungszweig mehren sich Hinweise darauf, dass Glaubenshaltungen einen direkten Einfluss auf genetische An- und Abschaltmechanismen und damit auf die Entstehungen von Krankheiten nehmen (Esch, 2017). Aus ganzheitlicher Perspektive erscheint der „Glaubensfaktor“ eine bisher vernachlässigte Größe, der genauer zu untersuchen ist.
Die ganzheitliche Berücksichtigung der Körper-Seele-Geist-Einheit mit dem ergänzenden „Glaubensfaktor“ (Benson, 1997) hat nicht erst die Mind-Body-Medizin in den letzten drei Jahrzehnten befördert. In ihrer Studie über die spirituelle Dimension von Gesundheit konnte Peng-Keller (2022) zeigen, dass ein „spiritual turn“ schon im späten 19. Jahrhundert durch die lebens- und medizinreformerischen Bewegungen begonnen hat, indem sie das Geistige in die Krankenbehandlung einbezogen. Dabei wurde die spirituelle Dimension zweifach thematisiert: einerseits als einheitsstiftende Kraft, inmitten von Krankheit und Verlust neu zu sich selbst zu finden; andererseits als ganzheitliche Perspektive, die das Leben zur Transzendenz hin öffnet, wobei diese religiös oder nicht-religiös gedeutet werden kann.
Ein ganzheitliches Vorgehen bezieht psychosomatische und spirituelle Bedürfnisse des Menschen gleichermaßen mit ein (Dollmann 2022). Diesen Zusammenhang kennt auch die deutsche Sprache, denn Heil und Heilung hängen begriffsgeschichtlich zusammen. Auch die etymologische Nähe der Begriffe „whole“ (= „ganz sein“) und „holy“ (= „heilig“) illustriert die Zusammengehörigkeit von körperlicher Heilung und seelischem Heil im Sinne des Ganzheitsdenkens. Früher wurden diese Aspekte durch ein umfassendes Welt-Verständnis zusammengebunden. Heilung hing mit Heiligung zusammen, also mit der richtigen Lebensführung. Die Naturreligionen legen bis heute Zeugnis vom Zusammenhang zwischen dem persönlichen Wohlbefinden und der Verehrung einer höheren Macht ab. In einer von Globalisierung und Migration geprägten Gesellschaft hat die kulturelle und religiöse Vielfalt enorm zugenommen. Damit verbundene spirituelle Überzeugungen und Praktiken, die sich vor allem hinsichtlich der Gesundheitsideale, der Krankheitserklärungen und der vorausgesetzten Jenseitsmodelle unterscheiden, wirken sich auch auf die individuelle Krankheitsverarbeitung aus. Wie kann eine ganzheitlich Re-Integration der spirituellen Dimension in die Gesundheitswissenschaften gelingen?
Möglichkeiten und Grenzen der Einbeziehung ganzheitlicher Methoden
Ganzheitliche Heilverfahren sind die Vorläufer der heutigen Medizin und Psychotherapie. Alle Kulturen verfügen über einen reichen Erfahrungsschatz an religiöser Heilkunde – in den Naturreligionen, in buddhistischen Versenkungsmethoden und in der chinesischen Medizin, im Christentum und in der Naturheilkunde. Spätestens seitdem der Kardiologe Herbert Benson (1935–2022) im Jahr 1988 die erste Mind-Body-Klinik in den USA gründete, werden auch hierzulande ganzheitlich-integrative Konzepte einer Mind-Body-Medizin entwickelt (Dobos & Paul, 2019). Dort werden allerdings Begriffe wie Alternativmedizin vermieden, um sich von der Esoterik abzugrenzen.
Der bekannte Alternativmedizin-Kritiker Edzard Ernst (2021) hat in einer neuen Übersicht die zwanzig bedenklichsten und die zwanzig „besten“ Methoden vorgestellt. Systematisch wurden die gängigen Verfahren daraufhin untersucht, auf welchen Ideen sie basieren, ob und welche Heilsversprechen gemacht werden und wie plausibel sie aus wissenschaftlicher Sicht sind. Es wird abgewogen, wie groß die Risiken des Verfahrens im Vergleich zu seinem Nutzen sind, und ob die versprochenen Wirkungen auch empirisch belegt werden können. In seiner nach diesen Kriterien erstellten Übersicht werden u. a. Kinesiologie, Germanische Heilkunde, Homöopathie und Geistheilung kritisch bewertet, Autogenes Training, Pilates, Tai-Chi und Yoga hingegen als hilfreich.
Ein weiteres wichtiges Kriterium zur Einschätzung eines ganzheitlichen Verfahrens, das bei Ernst (2021) nur am Rande vorkommt, ist die Transparenz und Passung der weltanschaulichen Voraussetzungen: Wie passt das in der Methode transportierte Weltbild zu meinem eigenen? Ganzheitliche Therapien berufen sich auf die unterschiedlichsten Quellen und vermischen wissenschaftliche Erkenntnisse mit esoterischen oder asiatischen Weisheiten. Sie beruhen meistens auf der Behauptung, durch eine bestimmte Haltung oder Einstellung könne eine Störung oder Krankheit beseitigt werden. Dies zeigt das Beispiel des Manifestierens besonders eindrücklich. Die Annahme, Körper und Seele seien von Natur aus gesund, aber die Umwelt bzw. die Erziehung habe Schäden verursacht, ist als Erklärungsmodell in vielen ganzheitlichen Therapiemodellen vorausgesetzt. Bestimmte mentale Techniken oder weltanschauliche Heilriten sollen den Anwender:innen Einstellungen und Haltungen vermitteln bzw. ihre Körper so beeinflussen, dass sich vorhandene „Blockaden“ auflösen und seelische wie körperliche Selbstheilungskräfte aktiviert werden.
Ganzheitliche Heilverfahren gründen auf einer bestimmten Weltanschauung. Kommt ein derartiges Verfahren zur Anwendung, so werden auch dessen kulturelle Werte, Ideale und ethische Prämissen mit übermittelt. Zugespitzt könnte man sagen: In der Weltanschauung ist das Wirkprinzip eines ganzheitlichen Heilverfahrens verborgen. In der Regel widersprechen die vormodernen Weltbilder der Ganzheitsmedizin dem wissenschaftlichen Weltbild der Moderne. Heilpraktiker:innen entnehmen ihnen vertrauensvoll ein Wissen, das gesunde Lebensführung vermittelt und (Selbst)-Heilungsprozesse in Gang setzen soll. Für die Interessent:innen wäre es hilfreich, von ihnen auch über die weltanschaulichen Voraussetzungen informiert zu werden, um das jeweilige Verfahren besser einschätzen zu können. Erst auf Basis solcher Information lässt sich schließlich entscheiden, ob die Methode zum eigenen Weltbild passt. Bevor also in einer Reinkarnationstherapie als einer „ganzheitlichen“ Methode die Welt der Verstorbenen mit einbezogen wird, sollten Interessent:innen prüfen können, ob ein solches Weltbild zum jeweils eigenen passt.
Deshalb erinnert eine Stellungnahme eines ärztlichen Fachverbandes zum Umgang mit Religion und Spiritualität im Behandlungszimmer an die Berufsethik, die dazu verpflichtet, nur innerhalb des professionellen Methodenspektrums tätig zu sein (Utsch et al., 2017). Das schließt religiöse oder spirituelle Interventionen eindeutig aus. Der Fachverband sieht darin keinen Mangel, sondern eine sinnvolle und notwendige Selbstbeschränkung. Was sichergestellt werden muss, ist die angemessene Berücksichtigung der Spiritualität der Patient:innen in der Therapie. Die Behandelnden sollten auf eine respektvolle Weise religiös neutral bleiben, aber aufgeschlossen sein für einen möglichen Transzendenzbezug ihrer Patient:innen. Psychiatrische und psychotherapeutische Behandlungen einerseits und Seelsorge und spirituelle Begleitung andererseits sollten unterschieden werden und getrennt bleiben. Eine Zusammenarbeit mit Seelsorger:innen kann aber im Interesse der Patient:innen in vielen Fällen sinnvoll sein.
Konsequenzen
Das Ideal der „Ganzheit“ setzt einen Mangel voraus, der ausgeglichen werden muss, um das Ziel der „Fülle“ zu erreichen. Dabei ist das Bemühen um immer mehr Ganzheit heute ins Gegenteil umgeschlagen. Mittlerweile warnen Experten vor einem „Selbstoptimierungsstress“ und analysieren die Grenzen des medizinisch-psychologisch Machbaren und ihre ethischen Implikationen (Dalski et al., 2022; Fenner 2019). Hier kommt die Seelsorge ins Spiel, die von der Gebrochenheit des Menschen ausgeht, das Fragmentarische seiner Existenz ernst nimmt und religiösen Trost, Gelassenheit und Hoffnung vermitteln kann. Die menschliche Vulnerabilität ist eine Kernkategorie theologischer Anthropologie (Springhart, 2021). Als psychosomatische Einheit ist der Mensch aus biblischer Sicht kein spirituelles Wesen, das in einer fleischlichen Hülle existiert, sondern als Christ ganzer Mensch (Janowski, 2016; Vollenweider, 2017). Eine ganzheitliche Krankenbehandlung zeichnet sich dadurch aus, dass medizinische und sozialwissenschaftliche Experten sich auf ihre fachlichen Kompetenzen beschränken und spirituellen Deutungen der Seelsorge überlassen. Professionelle Ganzheitlichkeit ist vor diesem Hintergrund nur interdisziplinär zu verwirklichen. In manchen klinischen Fallbesprechungen wird das schon praktiziert, wo ein professionelles Behandlungsteam aus Medizin und Pflege, Psychologie und Seelsorge gemeinsam die nächsten Schritte berät.
Michael Utsch, Februar 2024
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