Glossolalie / Zungenrede
Glossolalie (Zungenrede, Sprachengebet) ist ein universales, religionsüberschreitendes Phänomen, bei dem Laute und Silbenfolgen geäußert werden, die keiner Sprache angehören und für einen Außenstehenden von einer Fremdsprache nicht unterscheidbar sind. Im christlichen Kontext ist Glossolalie eine charakteristische Ausdrucksform der Frömmigkeit des enthusiastischen Christentums, das im 20. und 21. Jahrhundert durch seine wirkungsvolle Ausbreitung in pentekostal-charismatischen Bewegungen (zunächst Pfingstbewegung, seit ca. 1960 als charismatische Erneuerung in nahezu allen historischen Kirchen und Freikirchen) weltweite Bedeutung erlangte.
Die Praxis der Glossolalie geschieht gemäß dem pentekostal-charismatischen Selbstverständnis im Zusammenhang eines spezifischen Verständnisses von Erfülltwerden mit dem Heiligen Geist (vgl. Apg 2,4) und der Wiederentdeckung der sogenannten außergewöhnlichen Charismen (neben Glossolalie auch Heilung und Prophetie, vgl. 1. Kor 12-14). Sie dient der individuellen Erbauung, wird jedoch im Kontext von Gemeindeaufbau und Mission gesehen. Während Glossolalie für zahlreiche Ausdrucksformen des pentekostalen Christentums eine gottgewollte Norm christlichen Lebens darstellt (nicht heilsnotwendig, aber „dienstnotwendig“), spielt sie in anderen Kirchen nur insofern eine Rolle, als charismatische Erneuerungsgruppen sie als Gebets- und Glaubenspraxis aufgreifen. Klassische Pfingstkirchen verstehen Glossolalie als wahrnehmbares Erkennungsmerkmal („initial physical sign“ oder „initial evidence“) der erfolgten Geistestaufe. Durch sie geschieht der Eintritt in die Welt der vom Geist Erfüllten. Die pietistisch-erweckliche Wiedergeburtserfahrung wird dabei vorausgesetzt. Charismatische Bewegungen haben in verschiedenen ihrer Ausprägungen vielfältigere Wege der Initiation geschaffen und die Konzentration und Fixierung der Geisterfüllung auf die Glossolalie gelockert. Gleichwohl wird ihr auch hier ein zentraler Stellenwert zuerkannt. Mit Recht hat Arnold Bittlinger darauf hingewiesen, dass es ohne Glossolalie keine Charismatische Erneuerung in den Kirchen gäbe.
Zur Praxis
Glossolalie wird als persönliche Gebetssprache praktiziert, aber auch als Sprachengebet und vor allem -gesang (vgl. 1. Kor 14,15) im Gottesdienst. Sie ist unsemantisches, nicht verstehbares Sprechen oder Singen, wobei sich das Sprachgeschehen verselbständigt und Laute geäußert werden, die der Sprechende als durch seine Sprechorgane unwillkürlich hervorgebracht empfindet. Neben ihrem spontanen Auftreten wird sie ersehnt, gelernt (Kinn und Zunge lockern, Silbenfolgen oder fremdsprachliche Laute artikulieren) und im Kontakt zu Gruppen gesucht und gefunden, die sie oft als Manifestation übernatürlicher göttlicher Kraft und Beweis der Nähe und Gegenwart Gottes ansehen.
Der faszinierende Charakter von Glossolalie, bei der melodisch und rhythmisch gestaltete Silbenfolgen artikuliert werden, bezieht sich häufig auf die mit ekstatischem Ergriffensein verbundene Anfangszeit ihrer Praxis, tritt dann jedoch zurück, so dass die Glossolalie durchaus rituelle und liturgische Züge annehmen kann und vielfach überaus kontrolliert ausgeübt wird. Gleichwohl empfindet sich der Sprechende und Singende im Erlebnis der Glossolalie als Werkzeug des göttlichen Geistes. Er sieht sich durchströmt von göttlicher Kraft und deutet die Glossolalie häufig in biblizistischer Berufung auf das Neue Testament als individuelle Pfingsterfahrung und Zeichen der Rückkehr in die Radikalität und endzeitliche Ausgerichtetheit (Millenarismus) urchristlichen Lebens.
Zugleich interpretieren Pfingstler und Charismatiker die Zungenrede im Rahmen ihres jeweiligen konfessionellen Selbstverständnisses. Sie verstehen sie u.a. als Spracherweiterung im Blick auf den Lobpreis Gottes, als Vertiefung ihrer Glaubenserfahrung, Entfesselung des begrenzten Sprachvermögens (so auch Rudolf Bohren), als Ausdruck einer durch Freude geprägten Gottesbeziehung, als Versagen normaler Sprachfähigkeit bei intensiver religiöser Ergriffenheit.
Außenperspektiven
Distanzierte Betrachtungsweisen (Linguistik, Religionswissenschaft, Religionspsychologie) zeigen, dass Glossolalie weder als pathologisches (so einzelne Kritiker) noch als übernatürliches (so zahlreiche pentekostal-charismatisch geprägte Christen) Phänomen zu werten ist. Sie ist vielmehr eine mögliche Ausdrucksform religiöser Erfahrung. Je nachdem, in welchen Bezugsrahmen sie hineingestellt wird, lässt sie sich unterschiedlich begreifen, was schon aus ihrer je verschiedenen Interpretation in der Charismatischen Erneuerung und der klassischen Pfingstbewegung hervorgeht. Sozialwissenschaftliche Studien haben das Verständnis von Glossolalie in vielfacher Weise befruchtet. Sie machen auf die mögliche psychohygienische Funktion der Glossolalie aufmerksam oder entdecken in ihr eine Form nichtverbaler Kommunikation. Aus lerntheoretischer Perspektive kann Zungenrede als gelerntes Verhalten definiert werden, das jemand durch den Eintritt in eine Gemeinschaft erwirbt. Es wird durch Vorbilder und Bezugspersonen erworben, denen Glaubwürdigkeit und Autorität zuerkannt wird, und hat die Symbolfunktion der Gruppenzusammengehörigkeit.
Die Auswirkungen glossolalen Verhaltens sind psychologisch gesehen neutral. Es kann verbindend und zerrüttend wirken, aufbauend und ausgrenzend (vgl. dazu v. a. Gerd Theißen). Glossolales Verhalten hängt freilich nicht nur von sozialen Anregungen und Verstärkersystemen ab. Psychodynamische Betrachtungsweisen verstehen es als durch innere Prozesse hervorgerufen und deuten es entsprechend als „Sprache des Unbewussten“. Zungenrede wäre demnach bewusstseinsfähige (Gebets-)Sprache des Unbewussten, in der sich Verdrängtes äußert und durch reduzierte Selbstkontrolle ans Licht tritt. Sie kann auch als Rückkehr zu kindlichen Sprachformen gedeutet werden. So wie in bestimmten Phasen der Sprachentwicklung des Kindes die semantische Dimension noch fehlt und die Sprache allein expressiven und appellativen Charakter hat, stellt die Glossolalie gewissermaßen eine Rückkehr zur „Kindersprache” dar, die als Erweiterung von psychischer Kompetenz gewertet werden kann – theologisch gesprochen als Erschließung von Schöpfungswirklichkeit –, sie kann freilich auch regressiven Charakter haben.
Aus der Perspektive der kognitiven Psychologie lässt sich schließlich die Notwendigkeit und Wichtigkeit der Deutung unterstreichen. Der fehlende semantische Gehalt der Glossolalie hat bereits Paulus dazu veranlasst, die Gabe der Übersetzung bzw. Deutung der Zungenrede zuzuordnen. (Vgl. 1. Kor 14,15). Insofern hängt es von der Deutung ab, „ob man in den glossolalen Gruppen psychisch abhängige Menschen sieht, Vertreter einer alternativen Kultur oder die Erwählten der Endzeit. Entsprechend solchen Deutungen wird das Fremd- und Selbstbild der Glossolalen getönt sein” (Gerd Theißen, 325f).
Einschätzung
Die pointierte Hervorhebung der Glossolalie in pentekostal-charismatischen Bewegungen geht auf das die Moderne bestimmende Bedürfnis nach der Sichtbarkeit religiöser Erfahrung ein, auf die Vergewisserungssehnsucht der Menschen, ebenso auf die Suche nach leibhaftigen Erfahrungen und die Enttabuisierung der Glaubensemotion (Heribert Mühlen). Insofern stellt die Betonung der Zungenrede auch ein Protestphänomen dar, nicht nur gegen ihre weitgehende kirchliche Ausklammerung, sondern auch gegen ein Glaubensverständnis, das – bedacht auf Modernitätsverträglichkeit – die Dimension des Wunderbaren ausschließt. Der Protest profitiert von den Defiziten der modernen Kultur und den kirchlichen und theologischen Arrangements mit ihnen. Die Erfahrungslosigkeit und Erfahrungsarmut des Alltags in westlichen Gesellschaften und der weitgehende Ausfall einer gelebten christlichen Frömmigkeit unterstützen die Empfänglichkeit für ersehnte Manifestationen geheimnisvoller und als übernatürlich verstandener Kraft. Es ist deshalb nicht von ungefähr, wenn Akademiker und von den Zwängen der Leistungsgesellschaft bestimmte Unternehmer, Ingenieure und Geschäftsleute das Beten in nichtrationaler Sprache für sich entdecken und ihr auf Berechenbarkeit konzentriertes Wirklichkeitsverständnis korrigieren.
In der westlichen Welt steht die Praxis von Zungenrede in Verbindung mit der religiösen Alternativkultur. Anders ist dies in der so genannten Zweidrittelwelt. Wenn in vorliterarischer und mündlicher Tradition lebende Menschen lernen, sich in nichtrationaler Gebetssprache zu artikulieren, hat dies eine durchaus andere Bedeutung als in dem zuvor genannten Zusammenhang. Das Zungenreden „macht das Beten für Menschen möglich, die mit Sätzen Schwierigkeiten haben” (Walter J. Hollenweger). Glossolalie ist eine Fähigkeit, die nicht an Bildungsvoraussetzungen gebunden ist, sie kommt unabhängig von sozialer Zugehörigkeit vor und kann insofern eine „demokratisierende” Wirkung haben. So haben pentekostale Bewegungen in zahlreichen Kontexten durchaus die Funktion, „namen- und sprachlose Menschen ausdrucksfähig zu machen, sie vom Schrecken des Sprachverlustes zu heilen” (Walter J. Hollenweger).
Die Zungenrede zeigt sich eingefügt in die für pentekostal-charismatische Bewegungen charakteristische missionarische Dynamik und globale Kommunikationsfähigkeit, die erfolgreich auf unterschiedliche kulturelle Kontexte eingeht und offensichtlich eine nicht zu unterschätzende soziale Bedeutung hat: Stärkung des Selbstvertrauens, Erschließung der eigenen Emotionalität, Interesse an Bildung und sozialer Neugestaltung.
Zungenrede wurde und wird von zahlreichen Menschen als etwas Wunderbares erlebt und erfährt eine hohe Wertschätzung. Im Blick auf eine theologische Beurteilung von Glossolalie ist freilich festzuhalten: Bereits im Neuen Testament ist sie für das individuelle und gemeinschaftliche christliche Leben ein Randthema, kein Zentralthema. Als Charisma spielt sie nirgends die Sonderrolle, die ihr in der Rezeption biblischer Texte von Seiten pentekostal-charismatischer Bewegungen zugewiesen wird. In dem Maße, in dem Zungenrede als wahrnehmbares Zeichen eines geisterfüllten Lebens hervorgehoben wird, ist man genötigt, ein christliches Leben ohne Zungenrede als defizitär anzusehen. Eine Abstufung der christlichen Erfahrung und eine Konzentration des Geistwirkens auf außergewöhnliche Gaben und Erfahrungen stellen jedoch eine Eingrenzung im Blick auf die zu unterstreichende und biblisch bezeugte Vielfalt des Geistwirkens dar. Die paulinische Relativierung der enthusiastischen Gebetssprache stellt insofern ein Paradigma von bleibender Gültigkeit dar.
Die Konzentration der christlichen Erfahrung auf das Außergewöhnliche und Sensationelle übersieht die Vieldeutigkeit und Ambivalenz religiöser Erfahrung und den religionstranszendierenden Charakter der Zungenrede. Diese ist kein Ausweis für geistgewirkte Glaubenspraxis, vielmehr bedarf sie des Kriteriums des Christusbekenntnisses und der Gottes- und Nächstenliebe, um als Charisma gelten zu können. Sie bedeutet nicht das Hinausgehen aus der geschichtlichen Existenz und eröffnet keinen Weg, der die Verborgenheit des christlichen Lebens aufhebt. Enthusiastische Erfahrungen stellen im christlichen Selbstverständnis keinen hervorgehobenen Ort der heilvollen Nähe Gottes dar. Sie bleiben auf die dem Glaubenden verheißene Gegenwart Gottes in Wort und Sakrament bezogen. Die christliche Tradition bestreitet nicht die Möglichkeit der Geisterfahrung in enthusiastischen Erfahrungen. Sie dürfen aus den Möglichkeiten göttlichen Wirkens nicht ausgeschlossen werden und sind beispielsweise als Ausdrucksform privater Religiosität zu würdigen. Wo pentekostal-charismatische Gruppen und Gemeinden der Zungenrede im Gesamtverständnis ihres Glaubens einen untergeordneten Stellenwert geben, eröffnet sich die Möglichkeit einer über die eigene Frömmigkeitsform hinausgehenden ökumenischen Offenheit und Gemeinschaft.
Reinhard Hempelmann, März 2010
Literatur
Bittlinger, Arnold, ... und sie beten in anderen Sprachen. Charismatische Erneuerung und Glossolalie (Charisma und Kirche, Heft 2), Hochheim 41979
Föller, Oskar, Charisma und Unterscheidung. Systematische und pastorale Aspekte der Einordnung und Beurteilung enthusiastisch-charismatischer Frömmigkeit im katholischen und evangelischen Bereich, Wuppertal / Zürich 21995
Hempelmann, Reinhard, Licht und Schatten des Erweckungschristentums. Ausprägungen und Herausforderungen pfingstlich-charismatischer Frömmigkeit, Stuttgart 1998
Hollenweger, Walter J., Charismatisch-pfingstliches Christentum. Herkunft, Situation, ökumenische Chancen, Göttingen 1997
Hutten, Kurt, Hintergründe und Bedeutung der modernen Zungenbewegung, in: Kelsey, Morton T., Zungenreden, Konstanz 1970, 7-19
Theißen, Gerd, Psychologische Aspekte paulinischer Theologie (Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, Bd. 131), Göttingen 1993
Zimmerling, Peter, Die charismatischen Bewegungen, Göttingen 2009