Gralsbewegung

Entstehung und Geschichte

Der sächsische Kaufmann, Schriftsteller und Weltreisende Oskar Ernst Bernhardt (1875 – 1941) war im Ersten Weltkrieg auf der Isle of Man interniert und wurde sich dort einer göttlichen Sendung bewusst. Ab ca. 1920 begann er, seine Erkenntnisse über das Wesen der Schöpfung und seine eigene Rolle im Weltenplan in naturphilosophischen Vorträgen gnostischer Prägung zu verkündigen. Diese Vorträge publizierte er ab 1923 in loser Folge, bevor sie 1926 in Buchform gesammelt unter dem Titel „Im Lichte der Wahrheit – Neue Gralsbotschaft von Abdruschin“ erschienen. Das Werk, das bis heute seinen Vortragscharakter behalten hat, wurde vom Autor in späteren Jahren kontinuierlich erweitert und überarbeitet (die heute gültige dreibändige Fassung erschien 1948). Studium und Verbreitung der Gralsbotschaft ist heute das zentrale Anliegen der Gralsbewegung.

Schon früh sammelten sich Anhänger um Bernhardt. Als dieser 1928 auf das Anwesen Vomperberg in Tirol zog, entstand eine kleine Siedlungsgemeinschaft. Die Bewegung wurde 1938 von den Nazis verboten und die Gralssiedlung aufgelöst.

Das Leben Bernhardts ist nur in groben Umrissen bekannt, u. a. weil er selbst zwar einen hohen geistlichen Anspruch über seine weltgeschichtliche Rolle als Künder der Botschaft vertrat, zugleich aber seine Person von Verehrung und Führerrolle freihalten wollte. Der Vortrag „Der Fremdling“ (GB 32) gibt einen Eindruck seines Selbstverständnisses als eines aus himmlischen Sphären ins „feindliche Gebiet“ Hinabgeschrittenen. Während „sonnig seine Erdenjugend sein durfte“, war die Gesamtexistenz doch eine „bittere Erdenausbildung“, denn „alles Irdische mußte dem Gottgesandten ganz naturgemäß nur feindlich gegenüberstehen [H.i.O.]“. Feindselig ist dabei die Kirche als Verfälscherin der Christusbotschaft ebenso wie die totale Herrschaft der Vernunft, welche die Menschen ihm gegenüber unempfänglich mache. Die Erfahrung der Fremdheit in einer feindlichen Welt ist ein Grundmotiv der Gralsbotschaft.

Die Neugründung der Siedlung auf dem Vomperberg und der eigentliche Beginn der institutionalisierten Gralsbewegung erfolgten 1948 durch Bernhardts Witwe Maria. Bis 1999 befanden sich hier die weltliche Leitung und das geistige Zentrum. Seit 1999 ist die Bewegung gespalten. Bis dahin war die Leitung innerhalb der Familie weitergegeben worden. Oskar Ernst Bernhardt folgten seine Frau Maria (gest. 1957), der Sohn Alexander (gest. 1968) und die Tochter Irmingard. Mit deren Tod endete 1990 die Blutlinie in der Leitung, und es folgte der in die Familie eingeheiratete Siegfried Bernhardt, Besitzer des Anwesens Vomperberg. Im Jahr 1999 kam es zu Unstimmigkeiten. Seitdem hat die Internationale Gralsbewegung mit ihren angeschlossenen Institutionen ihren Sitz nicht mehr auf dem Anwesen ihres Gründers, sondern im benachbarten Örtchen Schwaz und in Stuttgart. Siegfried Bernhardt seinerseits gründete das sogenannte „Gralswerk“, das nur noch jenen Anhängern Zutritt zur Gralssiedlung gewährt, die seinen Leitungsanspruch anerkennen.

Die Gralsbotschaft

Die Gralsbewegung gehört zur klassischen „Systemesoterik“ und zeigt viele Parallelen zu anderen Bewegungen dieses Bereichs.


Gestalt und Sprache

Die drei Bände „Im Lichte der Wahrheit – Gralsbotschaft“ sind nicht inhaltlich geordnet, sondern die Inhaltsübersicht nennt nur eine „Reihenfolge der Vorträge“. Die Themen dieser 168 Vorträge reichen von klassischer Esoterik (Spiritismus – Astrologie – Heilmagnetismus) über biblische Themen (Steige herab vom Kreuze! – Auferstehung des irdischen Körpers Christi – Die Taufe – Erbsünde – Das Vaterunser) bis hin zu Fragen der Ernährung (Okkulte Schulung, Fleischkost oder Pflanzenkost). Häufiges Thema sind Geschlechtlichkeit und Sexualität (Ist geschlechtliche Enthaltsamkeit geistig fördernd? – Die Sexualkraft in ihrer Bedeutung zum geistigen Aufstiege – Geschlecht – Weib und Mann – Die Aufgabe der Menschenweiblichkeit). Die Sprache ist altertümelnd-erhaben und lässt ihre geistesgeschichtliche Herkunft aus einer frühmodernen Mystiksehnsucht erkennen, die für das Aufkommen der neuzeitlichen Gralsfrömmigkeit kennzeichnend ist (Templerorden- und Mittelalterfaszination der Romantik). Die Suche nach dem Gral als spirituelle Reise begegnet auch in anderen esoterischen Bewegungen (Rosenkreuzer, Kriya-Yoga, diverse moderne Templerorden). So wie sich sein Zeitgenosse Rudolf Steiner an Goethe orientierte, zog Abd-ru-shin seine Inspiration aus Wolfram von Eschenbachs ca. 1220 entstandener Versdichtung Parzival. Sprachlich und inhaltlich ähnelt vieles anderen zeitgenössischen Strömungen wie der Theosophie, der Christengemeinschaft und vor allem der Anthroposophie. Am prägendsten sind die Elemente aus der Parzivaldichtung. Vermutlich wird man die Anziehungskraft neugnostisch-esoterischer Gruppen wie der Gralsbewegung ebenso sehr in ihrer religionsästhetischen Gestalt wie in ihren Lehren suchen müssen.


Kosmologie

Der Kosmos der Gralsbotschaft ist eine Emanation von Strahlungen des „Wesenlos-Göttlichen“ (Urschöpfung). Diese Strahlungen durcheilen bzw. erschaffen verschiedene absteigende und sich zunehmend verdichtende Ebenen der Wirklichkeit. An der Grenze zwischen dem Göttlich-Wesenlosen und unserer Schöpfung („Nachschöpfung“) befindet sich die Gralsburg mit ihrem König Parzival und dem heiligen Gral. Dieser ist der Machtkern des geschaffenen Universums, durch dessen jährliches Überfließen die göttliche Lebensenergie die Schöpfung durchflutet und in Gang hält. Die gestuften Niederschläge der Schöpfung jenseits der Gralsburg enden schließlich ganz unten in der Region des „Stofflichen“, unterteilt in Feinstoffliches und Grobstoffliches.

In den verschiedenen Regionen bzw. Emanationen treten Verkörperungen des „Menschensohns“ auf, Imanuel, Parzival oder Abd-ru-shin genannt.

Grundlage dieser Kosmologie ist das erste Grundgesetz des Seins: Das „Gesetz der Schwere“. Demnach sinkt das Dichtere und Gröbere nach unten, entfernt sich so zunehmend von Gott.


Anthropologie

Das Menschenleben ist eine Reise der Reifung und Bewusstwerdung seines Selbst. Zu diesem Zweck nimmt das Selbst die Gestalt eines irdischen Körpers an. Aufgabe des Menschen ist es, diese Bewusstwerdung zu vollziehen und sich in Einklang mit den Prinzipien der Schöpfungsordnung zu setzen. Erfolgversprechend ist das menschliche Streben wegen des zweiten und dritten Grundgesetzes: das „Gesetz der Gleichart“, dem zufolge reines Streben im Grobstofflichen Reinheit im Geistigen anzieht und bewirkt, sowie das „Gesetz der Wechselwirkung“ (Karma), dem zufolge der Mensch erntet, was er sät (inkl. Wiedergeburten). Die christliche Idee stellvertretenden Leidens widerspreche der Schöpfungsordnung.

Gott verkündete dem Menschen diese Lehre erstmals in Jesus Christus, dem „Gottessohn“, dessen Sendung aber scheiterte und dessen Botschaft verfälscht überliefert wurde. Dem Gottessohn folgte daher in der jetzigen Endzeit der „Menschensohn“ Abd-ru-shin. Er, nicht Christus, ist der „ewige Mittler“. Der Prozess menschlicher Entwicklung und Selbstvervollkommnung ist mit dem Tod nicht abgeschlossen.

Die Gralsbotschaft enthält eine starke Abwertung des Verstandes bzw. der Vernunft („Gehirnkrüppel“) und postuliert die Überlegenheit des Geistes und der Intuition. „Es herrscht also bisher auf dieser Erde das unnatürliche Gehirn, dessen Wirken zuletzt selbstverständlich auch den unaufhaltsamen Zusammenbruch in allem bringen muß.“ Die Absolutsetzung des Verstandes ist der Sündenfall des Menschen. Erst in der neuen Zeit wird „jeder Einfluß, jede Macht dieser Verstandesmenschen“ aufhören (GB 19 „Es war einmal …!“).

Verbreitung und Praxis

Nach eigenen Angaben zählen zur Gralsbewegung weltweit ca. 40 000, in Deutschland in 25 Gralskreisen über 3000 Versiegelte („Kreuzträger“). Ausbreitung finde derzeit vor allem in Afrika statt. Der erweiterte Kreis der Unterstützer und Interessenten sei größer. Das Hauptwerk „Im Lichte der Wahrheit. Gralsbotschaft“ habe inzwischen eine Gesamtauflage von über einer Million in 17 Sprachen und sei in 90 Ländern erhältlich.

Man trifft sich sonn- und feiertags zu Andachten, in denen, von Instrumentalmusik gerahmt, die Gralsbotschaft und Gebete Abd-ru-shins verlesen werden. Die Andachtsräume („Lichtstätten“) sind von nüchterner Ästhetik und minimalistischer Symbolik (Kelch, sieben Lichter, Gralskreuz auf einem Altar). Es geht dabei explizit nicht um ein Gemeinschaftserlebnis, denn letztlich ist jeder Mensch in seinem Streben auf sich gestellt. Die Andachten stehen nur Kreuzträgern und „ernsthaft Interessierten“ offen. Außerdem finden in den Gralskreisen öffentliche Vorträge, Lesungen, Gesprächsabende, Konzerte und Ausstellungen statt. Inhaltlich macht man oft esoteriktypisch Anleihen bei anderen religiösen Bewegungen. So kann etwa beim Thema „Heilung“ auf Lourdes, Bruno Gröning und Reiki als Belege verwiesen werden. Gleiches gilt für den Versuch, die eigene Lehre als übereinstimmend mit der Wissenschaft zu präsentieren, indem man sie in naturwissenschaftliche Begriffe packt: „Das Sichtbare in der grobstofflichen Welt ist nur die Verfestigung … dessen, was auf der feineren Ebene geschieht. Energie materialisiert sich (auf einem bestimmten Frequenzspektrum) durch Bewußtsein und Information … Die eigentliche Quintessenz der Heilung ist das Bewußtwerden!“ (Huemer/Yesilgöz)

Dreimal jährlich gibt es zentrale Gralsfeiern: am 30. Mai das Fest der Heiligen Taube (Überfließen des Grals als Lebenszufuhr der Schöpfung); am 7. September das Fest der Reinen Lilie (Geburtstag der Tochter Irmingard 1930 und Ausrufung des „göttlichen Trigons“, bestehend aus Abd-ru-shin, seiner Frau Maria [der „fleischgewordenen Liebe Gottes“] und besagter Irmingard); am 29. Dezember das „Fest des Strahlenden Sterns“ (Tag der göttlichen Sendung Abd-ru-shins). Außerdem gelten u. a. Karfreitag und Abd-ru-shins Geburts- und Todestag (18.4. und 6.12.) als Gedenktage. Bei den Gralsfeiern finden die Versiegelungen statt, deren Symbolik entfernt an die christliche Taufe erinnert. Der zu Versiegelnde legt ein Gelöbnis ab und erhält mit Wasser ein Kreuzzeichen auf die Stirn. Er wird damit zum Kreuzträger (Silberkreuzer). Später kann die Berufung zum „Goldkreuzer“ und zum „Jünger“ folgen. Zur Gralsfeier gehört auch eine Mahlfeier, die dem christlichen Abendmahl ähnelt (Brot und Wein). Die Lebensführung strebt nach sittlicher und leiblicher Reinheit.

Einschätzung aus christlicher Sicht

Obwohl die Gralsbotschaft den Charakter einer Offenbarung trägt, sieht die Bewegung sich nicht als Religion, sondern als Schöpfungserkenntnis, die allen Religionen übergeordnet ist. „Das nachstehende Wort bringt nicht eine neue Religion, sondern es soll die Fackel sein für alle ernsthaften Hörer oder Leser, um damit den rechten Weg zu finden, der sie zur ersehnten Höhe führt“ (GB „Zum Geleite!“). Jeder kann Kreuzträger werden „gleichviel, welcher Religion er angehört“ (GB 9 „Der Erlöser“). So können sich die Anhänger auch als Christen sehen (und Kirchenmitglied sein), was durch die vielen Bezugnahmen auf christliche Tradition und Sprache erleichtert wird. Allerdings offenbart ein Blick auf die tatsächlichen Lehrinhalte, dass die Gralsbotschaft an praktisch keiner Stelle mit den christlichen Begriffen das meint, was die ökumenische Christenheit darunter versteht: Während Jesus Christus als Weisheitslehrer kam und scheiterte, wurde seine Heilsrolle durch Abd-ru-shin in vollkommener Weise erfüllt. Obwohl Abd-ru-shins Lehre über seiner Person stehen soll, sah er sich doch als den besseren Christus und betrachtete seine Familie und sich als heilsmittelnd („göttliches Trigon“). So wie Abd-ru-shin Jesus überlegen war, ist die Gralsbotschaft der Bibel überlegen. Es ist offensichtlich, dass all dies christlichen Vorstellungen diametral widerspricht.

Wenn dennoch Kreuzträger häufig betonen, der Unterschied zum christlichen Glauben sei gar nicht so groß, so kann dies daran liegen, dass christliche Elemente in die persönliche Frömmigkeit hineingenommen werden (Bezug zu einem personal als Gegenüber erlebten Gott im Gebet z. B.), obwohl sie im Grunde nicht zur Gralslehre passen. Dabei ist aus christlicher Sicht das aktive Glaubensleben einer Tatreligion und das Bemühen der Anhänger um ein ethisch verantwortungsvolles Leben zu würdigen und nicht durch den Vorwurf der „Selbsterlösung“ leichtfertig zu entwerten, zumal die zugrunde liegende Ethik der christlichen nicht erkennbar widerspricht.

Kai Funkschmidt, Februar 2015


Literatur

Quellen

Abd-ru-shin (Oskar Ernst Bernhardt), Im Lichte der Wahrheit. Gralsbotschaft, Vomperberg/Tirol 1981 (Erstveröff. 1926) (GB)

GralsWelt. Zeitschrift für ganzheitliches Denken und fördernde Lebenswege, hg. von der Gralsstiftung, Ditzingen 1996ff (Vorläufer: Gralswelt 1950 – 1988)

Huemer, Werner/Yesilgöz, Mehmet, Auf den Spuren der Lebensenergie, in: GralsWelt 83 (Juli/August 2014), 42-49

Stiftung Gralsbotschaft (Hg.), Antworten auf ungelöste Fragen des Lebens, Stuttgart 2002

Stiftung Gralsbotschaft (Hg.), Abd-ru-shin. Ich lebte das, was ich schrieb, Festschrift zum 125. Jahrestag der Geburt von Abd-ru-shin, Stuttgart 2000


Sekundärliteratur

Biener, Hansjörg, Die Gralsbewegung, in: Hempelmann, Reinhard u. a. (Hg.), Panorama der neuen Religiosität. Sinnsuche und Heilsversprechen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Gütersloh 22005, 560-565

Knepper, Claudia, 70. Todestag von Oskar Ernst Bernhardt, in: MD 12/2011, 468-471

Krech, Hans/Kleiminger, Matthias (Hg.), Handbuch religiöse Gemeinschaften und Weltanschauungen, hg. im Auftrag der Kirchenleitung der VELKD, Gütersloh 62006: Gralsbewegung (GrB), 638-653

Lewis, James R., Art. „Grail Movement of America“, in: ders. (Hg.), The Encyclopedia of Cults, Sects and New Religions, Amherst 1998, 253f

Hutten, Kurt, Seher, Grübler, Enthusiasten. Das Buch der traditionellen Sekten und Sonderbewegungen, Stuttgart 121982, 531-549

O’Callaghan, Sean: Art. „Grail Spirituality“, in: Christopher Partridge (Hg.), Encyclopedia of New Religions. New Religious Movements, Sects and Alternative Spiritualities, Oxford 2004, 313f

Obst, Helmut, Die „Christologie“ der Gralsbewegung. Oskar Ernst Bernhardt – Abd-ru-shin – Imanuel der Menschensohn, in: Reinhard Hempelmann/Ulrich Dehn (Hg.), Dialog und Unterscheidung. Religionen und neue religiöse Bewegungen im Gespräch, FS Reinhart Hummel, EZW-Texte 151, Berlin 2000, 271-279

Verscht-Biener, Karin/Reimer, Hans-Diether, Die „Gralsbewegung“, EZW-Orientierungen und Berichte 18, Stuttgart 1991


Internet

www.gralsbotschaft.org (Text der Gralsbotschaft)

www.internationale-gralsbewegung.org (Gralsbewegung International, Schwaz/Tirol)

www.gralswelt.org (Zeitschrift der Internationalen Gralsbewegung)

www.youtube.com/user/gralswelttv (Gralswelt TV)

www.gralswerk.org (abgespaltene Gralsbewegung von Siegfried Bernhardt, mehrsprachig)