Heidentum
„Heiden an sich“ gibt es nicht, „ein Heide ist nur etwas, wofür man einen anders gearteten Menschen hält, damit man ihn entweder bekehren oder zur Hölle verdammen kann“. So erklärte der deutsche Sinologe und ehemalige China-Missionar Richard Wilhelm (1873 – 1935) im Jahr 1925 das Wesen und die Schwäche des „Heiden“-Begriffs (Wilhelm, 22). Zwei zentrale Momente sind damit angesprochen: „Heide“ ist ein Beziehungsbegriff, und er ist im Bedeutungskern, nicht nur in der faktischen Anwendung negativ-abwertend.
Als Heiden werden aus christlicher Sicht die religiös Anderen bezeichnet. Es handelt sich um einen identitätssichernden Begriff zur Unterscheidung des Angehörigen der eigenen Gruppe einerseits und des Fremden, Außenstehenden andererseits, und zwar anhand religiöser Kriterien. Auch andere Religionen mit universalem Wahrheitsanspruch kennen ähnliche Unterscheidungen und Begriffe: Arabisch kuffār (Ungläubige) und dschāhilīya (Unwissen) im Islam, hebräisch gojim (Völker) im Judentum, in der Septuaginta als ethnê und in der Vulgata als gentes bzw. gentiles wiedergegeben.
Der Begriff „Heidentum“ verlor nach 1945 im Zuge der Selbständigwerdung junger Kirchen, der Entkolonialisierung und der gesellschaftlichen, politischen und der damit einhergehenden theologischen Veränderungen im Verhältnis christlicher Kirchen zu anderen Religionen rapide an Akzeptanz. Er ist heute wegen seiner pejorativen Bedeutung ungebräuchlich und lebt nur in religions- und missionsgeschichtlicher Terminologie fort.
Die Etymologie ist unklar. Im Neuen Testament wird besonders in den Paulusbriefen zwischen Juden- und Heidenchristen unterschieden, womit aber der kulturell-religiöse Hintergrund gemeint und die theologische Frage des Umgangs mit dem jüdischen Gesetz aufgeworfen ist. Hier wird mit „Heide“ in der Regel der „Hellene“ übersetzt, und zwar nicht als nationale oder ethnische, sondern als wertfreie, ja, im Gegenüber zu barbaroi (Röm 1,14) positive kulturelle Herkunftsbezeichnung. Daneben besteht das aus dem Alten Testament übernommene Gegenüber des „Wir“ der nunmehr christlichen Gemeinde und der Völker (ethnê) fort. Was im AT schon anklang, nämlich der Aufruf an diese ethnê, den wahren Gott anzuerkennen, wird von Paulus zum Programm erhoben und schließlich für die Kirche bis hin zur gezielten Heidenmission bestimmend.
Die engere Begriffsgeschichte beginnt mit dem Eingang des lateinischen Wortes paganus in den christlichen Sprachgebrauch (vgl. engl. pagan und frz. païen). Es bezeichnet ursprünglich den Landbewohner, aus Sicht des Stadtbewohners, also den, der der römischen Zivilisation fern- und kulturell niedriger steht. Es wird später von römischen Soldaten zur abfälligen Bezeichnung des Zivilisten benutzt. Möglicherweise von hier übernimmt es im 4. Jahrhundert die aufstrebende Kirche, die damit den miles christianus, der in der Taufe den Fahneneid (= sacramentum) auf Christus abgelegt hat, vom Nichtchristen unterscheidet. Nach anderer Interpretation wurden die pagani zu Heiden im religiösen Sinne, weil die Landbevölkerung weniger christianisiert gewesen sei als die Städte.
Ob das aus germanischem Stamm kommende „Heide“ (engl. heathen), erst ab dem 8. Jahrhundert nachgewiesen, eine Übersetzung von paganus oder unabhängig vom Lateinischen entstanden ist, wird unterschiedlich beantwortet. Im letzteren Falle wäre die Entwicklung von der Bedeutung „wild“, „außerhalb lebend“ (Heidebewohner) zu „nichtchristlich“ vergleichbar der des lateinischen paganus verlaufen. Einzelne Wissenschaftler wollten sogar eine germanische Selbstbezeichnung im Sinne von „zum eigenen Herd gehörig“ darin erkennen, doch gibt es abgesehen von einzelnen Provokateuren der Romantik (Lord Byron u. a.) vor dem 20. Jahrhundert keine Belege dafür, dass Menschen sich selbst Heiden nannten. Die moderne Selbstbezeichnung (Neu-)„Heiden“ bewahrt die Abgrenzungsfunktion des Begriffs, nun aber in umgekehrter Richtung. Diese naturreligiöse Bewegung ist hier nicht Gegenstand (vgl. dazu MD 1/2010, 29-33).
Verhältnisbestimmungen
Schon im Alten Testament stehen die Völker außerhalb des Heils, sind aber aufgefordert, den Gott Israels anzuerkennen. Ihnen gelten prophetische Gerichtsworte (Fremdvölkersprüche), ihnen wird aber auch die Teilhabe an der heilvollen Zukunft Israels als endzeitliche Erfüllung verheißen (Gen 12). Die Evangelien zeichnen Jesus als Messias Israels und deuten die Universalität der Sendung vor allem als Ergebnis seiner Zurückweisung durch die Juden (Mk 3,9; Lk 13,22ff) bzw. kündigen sie als endzeitliche Erfüllung an (Mt 8,11). Diese Ambivalenz von Abgrenzung und Aufruf zum wahren Bekenntnis im Gegenüber zur eschatologischen Verheißung ihrer Hineinnahme in das Heil prägt auch die paulinische Theologie im Umgang mit dem Anderen (Röm 3,2.29f; 15,8).
Mit dem Aufstieg zur Staatskirche wurde diese Ambivalenz auch politisch wirksam. Als Heidentum wurde und wird bis heute in religionsgeschichtlicher Terminologie der griechisch-römische polytheistische Staatskult bezeichnet. Trotz der pejorativen Beiklänge des Begriffs war das Verhältnis zwischen Kirche und Heidentum in der Antike zunächst keinesfalls primär konflikthaft. Früher herrschte in der Forschung eine dichotomische Sicht vor, derzufolge im 4. und 5. Jahrhundert das antike Heidentum als tolerant-polytheistische Religion in einem letzten großen Ringen mit einem von Absolutheitsansprüchen gekennzeichneten Staatschristentum unterging, symbolisiert etwa in dem Streit um den wiederholten Auf- und Abbau eines Altars für die Göttin Victoria in der römischen Staatskurie in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts, bis Theodosius das Christentum 381 zur Staatsreligion machte.
Heute muss man sich aufgrund der Quellenlage von diesem „romantic myth“ (Cameron, 3) verabschieden und eher von einem fließenden, alltäglich-unauffälligen Übergang des römischen Reichs vom römischen Staatskult zum römischen Christentum ausgehen. „Roman paganism died a natural death, and was already mortally ill before Theodosius embarked on his final campaign“ (Cameron, 131). Äußerlich vollzog sich dieser Wechsel weitgehend gewaltlos, als im 4. Jahrhundert die staatliche Förderung des Heidentums endete. Es fehlte ihm an einer individuellen Kult- und Frömmigkeitspraxis und damit an einem den Christen entsprechenden spezifisch religiösen Selbstverständnis.
Für prominente pagan-römische Apologeten jener Zeit stand also weniger ein religiöses Bekenntnis im Zentrum als vielmehr ein bewahrendes Interesse an römisch-griechischer Kultur, Dichtung und Kunst, ähnlich modernen Rekursen auf das „christliche Abendland“, die auch nicht auf ein religiöses Bekenntnis, sondern auf ein bestimmtes Geschichtsbild (Individualismus, Freiheit, Demokratie usw.) zielen. Dem entsprach in der Antike ein ähnlich motiviertes Interesse auch der gebildeten christlichen Römer, die sich noch jahrhundertelang ebenso wie die Nichtchristen der Traditionswahrung alter römischer Größe einschließlich der Überlieferung heidnischer Dichter verpflichtet sahen. Heidnische und christliche Römer wussten sich also ungeachtet religiöser Unterschiede einem gemeinsamen kulturellen Erbe verpflichtet (das Cameron in dieser Funktion mit der säkularen Kultur des modernen Westens vergleicht).
Gleichzeitig begannen aber einzelne christliche Theologen eine aggressive Bekämpfung genau dieses heidnisch-kulturellen Erbes in der Kirche. Mit Firmicus Maternus, dem Mailänder Bischof Ambrosius und mit Augustin von Hippo beginnt eine Tradition kirchlicher Forderungen nach staatlicher Unterdrückung des Heidentums, die schließlich das ganze Mittelalter hindurch wirksam blieb. Sie ging bis hin zu unterschiedlichen Theorien von „Heidenkriegen“, deren Zweck von der Vorbereitung zur Christianisierung durch Unterwerfung eines Gebiets bis hin zum direkten Zwang („Taufe oder Tod“), also bis zum Missionskrieg reichen konnte (Typologie vgl. Gensichen, 593f). Allerdings blieben diese gewalttätigen Züge der Glaubensausbreitung auch innerhalb der Kirche immer umstritten.
In späteren Jahrhunderten wurde der Heidenbegriff ausschließlich zur polemischen Abgrenzung genutzt und konnte mangels Berührungspunkten mit realen Andersgläubigen auf alle angewandt werden, die nicht der eigenen Orthodoxie entsprachen, teilweise auch auf Muslime, Juden, Ketzer oder wechselseitig zwischen Katholiken und Protestanten.
Eine Renaissance erlebte der Begriff in der neuzeitlichen Missionsbewegung, nunmehr meist als Bezeichnung für Angehörige polytheistischer Religionen im Unterschied zu Juden und Muslimen gebraucht (so etwa bei Gustav Warneck). Unverändert galten „Heiden“ als religiös defizient. Allerdings zögerten Missionare insbesondere in Asien oft, die Andersgläubigen einfach als „Heiden“ zu bezeichnen. Zwar setzte sich rhetorisch und theologisch die mittelalterliche Herabwürdigung des Anderen, des Fremden als Götzendiener fort. Immer wieder jedoch revidierten die Praktiker ihr mitgebrachtes Urteil angesichts der ihnen gegenübertretenden buddhistischen und hinduistischen Hochkulturen mit ihrer elaborierten Geisteswelt, also unter dem Eindruck der tatsächlichen Begegnung mit jenen Heiden, auf die sie in der Ausbildung vorbereitet worden waren. Schon der erste protestantische Überseemissionar, Bartholomäus Ziegenbalg (1682 – 1719), Pionier der Dänisch-Halleschen Mission in Indien, schrieb, dass die Heiden dort „keineswegs Wilde, sondern zivilisierte Leute“ seien, „die ein sehr stilles, ehrbares und tugendsames Leben“ führen, „darinnen sie es aus ihren natürlichen Kräften den Christen zehnfältig zuvorthun […und] für ihre Götter eine große Ehrerbietigkeit haben“ (Lehmann, 44f). Typischerweise wurden solche positiven Passagen aus den brieflichen Heimatberichten der Missionare häufig beim Abdruck in den Zeitschriften für die hiesigen Missionsfreunde weggelassen. Das Heidenbild der zeitgenössisch publizierten Missionsquellen ist daher wohl insgesamt negativer gefärbt, als die reale Begegnung vor Ort sich darstellte.
Einschätzung
Der Begriff „Heide“ als Fremdbezeichnung für Menschen ist zweifellos zu Recht ausgestorben. Dies geschah nur teilweise unter dem Einfluss einer religiös pluralistischen Wirklichkeit – die gab es schon in der Antike. Wichtiger waren die Privatisierung der Religion und die Säkularisierung inner- und außerhalb der Kirche, wodurch die heidnischen Götter nicht mehr nur entmachtet, sondern entwirklicht, also im weltlichen Sinne ungefährlich waren. Hinzu kam eine neue Beurteilung von Kolonial- und Missionsgeschichte im 20. Jahrhundert. Allerdings gerieten Ersatzbegriffe wie das scheinbar neutral-deskriptive „Nichtchristen“ bald ihrerseits in die Kritik, weil auch sie von einem Defizit des Gegenübers ausgehen. Allenfalls theologisch bleibt die Rede vom „Heiden“ im existentialisierten Sinne gültig, insofern sie die conditio humana meint, das Gefangensein des von Gott zur Freiheit gerufenen Menschen in Geschöpflichkeit und religiöser Selbstermächtigung (Röm 1,18 – 2,12). So hatte schon Luther gelegentlich das Wort gebraucht, und in diesem Sinne wäre mit Karl Barth alle Religion, auch die christliche, als menschliche Anstrengung Heidentum. Auch von dieser existentialen Deutung her verbietet sich aber die kollektive Bezeichnung bestimmter Religionen und Gruppen als „Heidentum“.
Noch weiter geht gegenwärtig die pluralistische Deutung, die einerseits zu einem Relativismus Zuflucht nimmt, der jeden Sammelbegriff vermeiden und religiöse Einzelphänomene nur je für sich betrachten will, die andererseits aber auch glaubt, diese vielfältigen religiösen Erscheinungen wiederum – ähnlich wie der Heidenbegriff – gemeinsam beurteilen zu können. Nur will sie das Urteil diesmal mit positivem Vorzeichen fällen, also die Religionen als prinzipiell gleichwertige Annäherungen an Gottes Geheimnis betrachten und damit, nicht zuletzt im Dienste friedlichen Zusammenlebens, christliche Hybris vermeiden. Sie nimmt damit einen quasi-göttlichen Standpunkt über den konkreten Religionen ein.
Diese pluralistische Versuchung erwächst unter westlichen Kirchen aus einer religiösen und kulturellen Gewissheitskrise infolge der Aufklärung und der Katastrophen des 20. Jahrhunderts. So wie die Existenz von „Heiden“ jahrhundertelang zu einem konfliktbereiten missionarischen Dringlichkeitsbewusstsein führte, so zeitigt diese neue Religionstheologie eine Scheu vor Abgrenzung und Konflikt. Das ist im sozialen Sinne des friedlichen Zusammenlebens notwendig. Weil aber auch soteriologisch die Unterscheidung von Innen und Außen aufgegeben wird, führt dies konsequent zur teilweisen Absage an die Verkündigung des Evangeliums als solche (Mission oder Dialog). Exemplarisch stehen dafür die Diskussionen um die Ablehnung der Mission unter Juden (Rheinischer Synodalbeschluss 1980) und Muslimen (Handreichung der Evangelischen Kirche im Rheinland 2016). Weithin gilt als communis opinio: „[A]us innertheologischen Erwägungen ist an die Stelle der Rede vom Heidentum … der Gedanke der interreligiösen Toleranz und des interreligiösen Dialoges getreten. So werden die nichtchristlichen Religionen als Partner bei der Bewältigung der großen Menschheitsprobleme gesehen“ (Löhr, 1521). Hier wird den theologischen Vorfahren das Stigma der Intoleranz und Dialogverweigerung angeheftet. Der Irrtum besteht in der Vermischung von Ebenen. Toleranz ist keine religiöse, sondern eine politische Tugend, da bei rechter Unterscheidung der Regimente eine Religion keine Macht über eine andere haben darf, ihr also auch keine Toleranz gewähren kann. Fraglich ist auch, ob das Evangelium angemessen erfasst ist, wenn es vor allem ein Instrument zur „Lösung der Menschheitsprobleme“ sein soll. Biblisch zumindest ist das Evangelium nicht konfliktfrei zu verkündigen (Mt 10,16.34; Lk 14,26).
Abusus non tollit usum – der Missbrauch ist kein Argument gegen den Gebrauch. Der Begriff Heidentum ist wegen seiner triumphalistischen Überlegenheitsimplikationen aufzugeben. Doch mit dem Begriff droht ein Pfeiler christlichen Selbstverständnisses zu verschwinden. Biblische und kirchliche Tradition zeigen durchweg einen Glauben, der etwas vermittelte, was heute verpönt ist: christliches Sendungs- und Erwählungsbewusstsein. „Ihr seid das auserwählte Geschlecht, die königliche Priesterschaft, das heilige Volk, Gottes Volk, das Volk des Eigentums, dass ihr verkündigen sollt die Wohltaten des, der euch berufen hat“ (1. Petr 2,9). Erwählungsbewusstsein steht innerhalb einer dominanten Volkskirchlichkeit immer in der Gefahr, die eigene Nähe zur Macht zu vergessen. Hieran zu erinnern, ist das Verdienst pluralistischer Religionstheologien. Aber das Sendungsbewusstsein selbst ist damit nicht obsolet, weil es dabei nicht um Selbsterhöhung, sondern um die Hineinnahme in Gottes Sendung geht (missio Dei). Glaube muss selbstbewusst gelebt werden, nicht in Minderwertigkeitsgefühlen. Demütig, aber durchaus provokant: „Eure Rede sei allezeit freundlich und mit Salz gewürzt“ (Kol 4,6). Wenn dies gelingt, dann behält die theologische Rede vom Heidentum trotz Verzichts auf den Begriff ihr Recht – der Welt ein Anstoß und der Kirche eine Zumutung.
Kai Funkschmidt, März 2017
Literatur
Brown, Peter: Paganism: What We Owe the Christians, New York Review of Books 7.4.2011, 68-72
Cameron, Alan: The Last Pagans of Rome, Oxford 2011
Davies, Owen: Paganism, Oxford 2011
Freytag, Walter: Das Rätsel der Religionen und die biblische Antwort, Wuppertal 1956
Gaskill, Malcom: Witchcraft, Oxford 2010
Gensichen, Hans-Werner: Art. „Heidentum I. Biblisch/Kirchen-missionsgeschichtlich“, in: TRE 14, Berlin/New York 1985, 590-601
Hutton, Ronald: Pagan Britain, New Haven/London 2014
Lehmann, Arno (Hg.): Alte Briefe aus Indien. Unveröffentlichte Briefe von Bartholomäus Ziegenbalg 1706-19, Berlin 1957
Löhr, Gebhard: Art. „Heidentum“, in: RGG4, Bd. 3, Tübingen 2000, 1521f
Maxwell-Stuart, Peter George: The British Witch, Stroud 2016
Mensching, Gustav: Toleranz und Wahrheit in der Religion, Weimar/Jena 1996
Tworuschka, Udo: Die Weltreligionen und wie sie sich gegenseitig sehen, Darmstadt 2008
Warneck, Gustav: Evangelische Missionslehre. Ein missionstheoretischer Versuch. Erste Abteilung: Die Begründung der Sendung, Gotha 1892
Wilhelm, Richard: Die Seele Chinas, Berlin 1925