Ideologie / Ideologiekritik

Ideologien (griech. Wissenschaft der Anschauungen) sind identitätsstiftende Ideensysteme, die Wert- und Handlungsorientierungen prägen. Der Begriff ist bis heute mehrdeutig und vielschichtig. Er wird deskriptiv und negativ-wertend gebraucht. Nebeneinander stehen seine sozialkritische und seine erkenntniskritische Verwendung. Die Unbestimmtheit des Begriffs wird auch in seiner Geschichte deutlich. Die im deutschen Sprachgebrauch vorherrschende negativ-wertende Bedeutung sagt aus, dass Ideologien zur Verabsolutierung des Partiellen neigen, dass sie Vorurteile und Ressentiments durch einseitige Wahrnehmungsmuster fördern, dass sie illusionäre und realitätsferne Weltdeutungen propagieren.

Ideologiekritik und Emanzipation

In früheren Jahrzehnten, insbesondere in den 1960er bis 1970er Jahren, standen die Begriffe Ideologie und Ideologiekritik im Zentrum politischer wie auch sozial- und kulturwissenschaftlicher Diskurse. Sie avancierten zu Zentralbegriffen für die Wahrnehmung ökonomischer und politischer Veränderungsprozesse, für die Anliegen von Aufklärung und Befreiung, ebenso für erkenntniskritische Fragen. Die Förderung von Kritikfähigkeit und die Stärkung eines kritischen Bewusstseins waren mit emanzipatorischen Absichten verbunden, und dies im wissenschaftlichen, gesellschaftspolitischen und kirchlichen Kontext.

Zwar spielt das assoziationsreiche Begriffsduo Ideologie und Ideologiekritik heute nicht mehr die Rolle wie noch vor 50 Jahren, es ist jedoch im Sprachgebrauch von Politik, Gesellschaft, Wissenschaft durchaus präsent geblieben. In Verfassungsschutzberichten werden die Ideensysteme des Rechtsextremismus, Linksextremismus und Islamismus als Ideologien thematisiert, so auch im Verfassungsschutzbericht des Bundes 2017. Der umfangreiche Endbericht der Enquetekommission des Deutschen Bundestages „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ (1998) bezeichnet das untersuchte Gegenstandsfeld an einer Reihe von Stellen mit der Begrifflichkeit „neue religiöse und ideologische Gemeinschaften“.

Sowohl die beschreibende als auch die negativ wertende Verwendung des Ideologiebegriffs weist auf Prozesse der Emanzipation neuzeitlichen Denkens aus kirchlicher Umklammerung hin. Mit Ideologien können leitende Überzeugungen, Meinungen und Werte bezeichnet werden (system of beliefs). Ein Überzeugungssystem kann zu einer geschlossenen Ideologie werden, die wie eine Weltanschauung an die Stelle einer Religion tritt. Es kann also eine Nähe zwischen Ideologien und Weltanschauungen geben. Ebenso müssen sich Religionen und neue religiöse Bewegungen die Frage nach ihrer ideologischen Verhaftung und Ideologieanfälligkeit gefallen lassen.

Zur Geschichte

Es ist fraglos möglich, vorneuzeitliche Ideologien ausfindig zu machen. Bereits die Antike liefert Beispiele für Ideensysteme, die Herrschaftsformen legitimieren. In der Christentumsgeschichte werden Deutungen des Christlichen wirksam, die religiöse Ideen zur Stabilisierung weltlicher Herrschaft einsetzen (Kreuzzugsideen, Inquisition, Diskriminierung von Häretikern, Hexenverfolgung).

Ende des 18. Jahrhunderts wird der Ideologiebegriff durch den französischen Aufklärer A. L. C. Destutt de Tracy (1754 – 1835) und seine Schule eingeführt und geprägt. Die Wissenschaft von den Ideen beruht demnach auf sinnlichen Wahrnehmungen. Als Napoleon I. (1769 – 1821), der dieser Schule zunächst angehörte, sich gegen sie und ihren Einfluss auf Politik und Erziehung wandte, bekam das Wort eine negative Bedeutung und Stoßrichtung. Ideologen wurden zu praxisfernen Theoretikern, zu wirklichkeitsfremden Intellektuellen. Der Ideologiebegriff fand eine kritisch-kämpferische Verwendung.

Eine weitere Politisierung des Begriffs geschah im Zusammenhang der ideologiekritischen Analysen von Karl Marx (1818 – 1883), die im Dienst seiner Kritik am Kapitalismus stehen. Ideologie ist falsches Bewusstsein, hervorgerufen durch die kapitalistische Ökonomie. Es wird dann aufgehoben, wenn die klassenlose Gesellschaft erreicht ist. Marx unterscheidet sich dabei von Ludwig Feuerbach (1804 – 1872). Die Religionskritik Feuerbachs wird als Gesellschaftsanalyse weitergeführt. Es sind gesellschaftliche Ursachen, die die Selbstentfremdung des Menschen verursachen, ist doch der Mensch „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“.

Erkenntnistheoretische Perspektiven des Ideologiebegriffs werden in der Wissenssoziologie von Karl Mannheim (1893 – 1947) thematisiert. Mannheim geht es um die soziale Bedingtheit und Perspektivität des Denkens. Menschliches Denken geschieht in bestimmten Perspektiven, insofern kann von einer „seinsverbundenen – oder standortverbundenen – Aspektstruktur“ (Mannheim) gesprochen werden.

In der „Frankfurter Schule“ (Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Jürgen Habermas) wird das Verständnis von Ideologie in Bezugnahme auf Sigmund Freud (1856 – 1939) und auf die Vorurteilsforschung weiterentwickelt. Im Blick auf den Objektivitätsanspruch von Wissenschaft wird darauf hingewiesen, dass auch Wissenschaft nicht wertfrei sei und in Interessenzusammenhängen stehe. Auch Politik und Technik müssen ideologiekritisch betrachtet werden. Die instrumentelle Vernunft mit ihrer Verdinglichungssucht offenbart die „Dialektik der Aufklärung“ und erfordert Selbstbesinnung.

Kein Ende der Ideologien

Deskriptive Begriffsverwendungen legen offen, wie weit der Begriff im politischen Kontext gefasst sein kann, wenn bestimmende politische Ideen, Überzeugungssysteme, Weltauffassungen damit bezeichnet werden. Ideologien werden in einem Atemzug mit politischen Theorien thematisiert: Liberalismus, Konservatismus, Maoismus, Neomarxismus, Demokratischer Sozialismus, Kritischer Rationalismus, Faschismus, Kritische Theorie (vgl. Neumann [Hg.]). Unterschiedliche Ideologien liegen im Streit miteinander. Der Vorwurf des Ideologieverdachts kann von links gegenüber rechts, von rechts gegenüber links, von konservativ gegenüber liberal und umgekehrt erhoben werden.

Eine pointiert negative Begriffsverwendung setzt voraus, dass Ideologien verkürzende, scheinwissenschaftliche, falsche Wirklichkeitsdeutungen darstellen, deren destruktive Folgen vor allem in der Geschichte des 20. Jahrhunderts deutlich wurden. Ideologie ist demnach ein „System von Ideen und Werturteilen, das Teilwahrheiten verabsolutiert, durch Vereinfachung eine Totalerklärung der Welt liefert und als Rechtfertigung des Handelns fungiert“ (Dierse, 177f). Es kann offen bleiben, ob das zu hinterfragende problematische Verständnis von Wirklichkeit sich intensiver theoretischer Reflexion verdankt oder eher eine unreflektierte Haltung und Mentalität darstellt.

Das 20. Jahrhundert war wesentlich bestimmt von säkularen Ideologien, die im Nationalsozialismus, Kommunismus und Faschismus eine lange Spur von Gewalt und Destruktivität hinterließen. Sie sind nicht allein als politische Bewegungen zu begreifen. Man kann und muss sie verstehen als sakralisierte Politik. Nationalsozialismus, Kommunismus und Faschismus enthalten säkulare Heilsbotschaften, die Verheißung eines neuen Menschen und die Aussicht auf universales Glück. Säkulare Ideologien haben ihre eigenen Rituale und Liturgien. Hinzu kommen „sakralisierende Elemente aus Musik, Kunst, Sport und der Aufbau einer Erinnerungskultur“ (Küenzlen, 70).

Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes meinten viele, die wechselseitige Ideologieverdächtigung könnte an ihr Ende gekommen sein. Es wurde vom Ende des ideologischen Zeitalters gesprochen. Die Ideologieanfälligkeit von Mensch und Gesellschaft ist jedoch nicht zu Ende. Es folgte weder das Ende der Geschichte (Francis Fukuyama) noch die Durchsetzung der universalen Menschenrechte. Die Welt ist vielmehr „multipolar“ geworden. Die westliche Kultur hat zahlreiche Relativierungen hinnehmen müssen. Der islamistisch begründete Terrorismus zeigt, dass es kein Ende der Explosion von Gewalt und Krieg gibt, durch die ganze Volksgruppen ausgemerzt werden sollen. Nationalistische Bewegungen in Europa gefährden das europäische Projekt. Ein Ende der Ideologien ist nicht in Sicht, obgleich es nicht falsch ist, darauf hinzuweisen, dass ihre Versprechen durch den Lauf der Geschichte widerlegt und ihre Bindungskräfte begrenzt sind.

Die weltanschauliche Gegenwartskultur ist durch die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher ideologischer Orientierungen herausgefordert: Der Islamismus sucht durch die Wiederaufrichtung eines wahren Islam eine neue Gesellschaft aufzubauen. Rechte Extremisten widersprechen der fundamentalen Gleichheit der Menschen und forcieren ein Freund-Feind-Denken. Der Linksextremismus lehnt staatliche Institutionen als freiheitsfeindlich und unterdrückerisch ab. Der politische Kampf gegen die moderne offene und freiheitliche Gesellschaft hat unterschiedliche Gesichter. Er darf – wie immer er sich artikuliert – nicht verharmlost werden. Er fordert alle gesellschaftlichen Gruppen heraus, auch die christlichen Kirchen, sich mit politischem und religiösem Extremismus auseinanderzusetzen.

Ideologiekritik als Aufgabe von Kirche und Theologie

Immer schon musste sich das Christentum mit dem Vorwurf auseinandersetzen, es habe ideologischen Charakter. Konkret wird dieser Vorwurf dann erhoben, wenn etwa christlicher Glaube als „Opium des Volkes“, als „Gotteswahn“ (Richard Dawkins) oder auch als Produkt einer bestimmten gesellschaftlichen Verfasstheit begriffen wird. Ein neuer wissenschaftsgläubiger Atheismus hält der Religion vor, Illusionspflege zu betreiben. Mit einer solchen These, dass Religion auf einem Selbstmissverständnis der Menschen beruhe, müssen sich Kirche und Theologie selbstverständlich argumentativ auseinandersetzen. Angesichts der Geschichte des 20. Jahrhunderts stellt sich für den Atheismus das Ideologieproblem jedoch nicht weniger als für die Religionen. Die selbstkritische Auseinandersetzung mit der eigenen Gewaltgeschichte ist für nichtreligiöse wie für religiöse Weltdeutungen gleichermaßen die Voraussetzung dafür, die eigene Ideologieanfälligkeit wahrzunehmen und die Friedens- und Toleranzfähigkeit zu stärken.

Anknüpfungspunkte für die ideologiekritische Aufgabe von Kirche und Theologie sind die Götzenkritik des Ersten Gebotes, die prophetische Sozial- und Kultkritik, die fundamentale Unterscheidung zwischen Gott und Welt. Die Barmer Theologische Erklärung mit ihren sechs Bekenntnis- und Verwerfungssätzen war ein geistiges Widerstandszentrum gegen die Gleichschaltung der Kirche mit der nationalsozialistischen Ideologie. Nach These 5 darf der Staat nicht blinde Unterwerfung verlangen und „die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden“. Vielmehr ist es sein Auftrag, „in der noch nicht erlösten Welt ... unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen“.

Die Auseinandersetzung von Kirche und Theologie mit Ideologien gewinnt ihre Kriterien aus einem christlichen Welt- und Daseinsverständnis. „Wir sollen Menschen und nicht Gott sein“, heißt es beim Reformator Martin Luther (1483 – 1546). Damit wird ein elementares Unterscheidungskriterium artikuliert, das zentrale Orientierungsperspektiven enthält.

  • Die biblische Tradition und der sich von ihr her verstehende Gottesglaube wissen von der Ideologieanfälligkeit des Menschen und dem möglichen ideologischen Missbrauch der Religion. Zum kirchlichen Handeln gehört die Förderung einer Kultur der Aufklärung, eine ideologiekritische Aufgabe.
  • Menschenverachtende Ideologien lassen sich im Kern auf Grenzüberschreitungen des Menschen zurückführen. Wie wahrnehmungsfähig sind Ideensysteme für die Grenzen und die Gebrochenheit des Menschen? Am Umgang mit den Grenzen des Menschen scheiden sich die Geister.
  • Ideologisches Denken geschieht in „durchschaubaren Vorurteilszusammenhängen“, die kritisch aufzudecken sind.
  • Christlicher Glaube sieht in allen Menschen das Ebenbild Gottes. Er widerspricht einer Ideologie der Ungleichheit und betont die Universalität der Menschenrechte.
  • Ideologien wohnt eine Tendenz zur Sakralisierung des Politischen, zur Vergöttlichung des Weltlichen inne, die dem christlichen Glauben entgegensteht. Sie beruhen auf Täuschungen und enden in Enttäuschungen.

Die Förderung des kritischen Bewusstseins gegenüber Ideologien ist eine wichtige Aufgabe für Theologie und Kirche. Das „Gespräch mit der Zeit“, die „Auseinandersetzung mit den Geistesmächten“ macht die Wahrnehmung von Ideologien und aufklärendes Handeln zu einer stets neu gestellten Aufgabe. Wahrnehmungs- und Dialogfähigkeit sind gefragt, aber auch Unterscheidungsfähigkeit und der Mut zu Abgrenzungen. Ideologiekritik ist zudem nötig, weil die Kirche ihr eigenes Fehlverhalten und ihre eigenen Verstrickungen erinnern muss. Paul Tillich machte mit Recht darauf aufmerksam, dass jede Gruppe, die den Ideologiebegriff abgrenzend aufgreift, „sich selbst vor die Frage stellen [muss], inwieweit in ihr Ideologiebildung vorliegt“ (zit. bei Lenk, 206). Theologische Ideologiekritik ist immer auch Selbstkritik. Sie setzt eine Wahrheitsperspektive voraus. Diese kann nicht aufgegeben werden, obgleich menschliche Wahrheitserkenntnis von der göttlichen Offenbarung zu unterscheiden ist. Im Blick auf Situationen, die die Selbstunterscheidung von Kirche und Theologie von menschenverachtenden Ideologien notwendig machen, ist zu bedenken, dass Konsens- und Wahrheitsfindung nach evangelischem Verständnis eine prozessuale und kommunikative Struktur aufweisen muss. Jedes Denken bleibt auf seine geschichtliche Kontextualität und Perspektivität bezogen.

Die These der Verabschiedung aller großen ideologischen Narrationen lässt sich angesichts der bedrängenden Renaissance rechter, linker und religiös begründeter Ideologien nicht aufrecht erhalten. Trotz Aufklärung, trotz Religionskritik, trotz Entzauberung und Entmythologisierung bleiben Ideologien wirksam. Ihre Namen mögen sich ändern. Heute heißen sie Nation und Volk, sie heißen freilich auch Selbstoptimierung, Macht und Markt, ökonomische Saturiertheit. Im Blick auf den Einzelnen haben der Eklektizismus und der Individualismus ideologischer Orientierungen fraglos zugenommen. Die Anfälligkeit für Ideologien ist geblieben und dies im politischen, religiösen und wissenschaftlichen Kontext. Ideologiekritik aus der Perspektive des christlichen Wirklichkeitsverständnisses ist eine zentrale und bleibende Aufgabe religiöser Bildung. Sie ist zugleich bestimmend für das kirchliche Handlungsfeld Weltanschauungsfragen.

Reinhard Hempelmann, September 2018


Literatur

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