Psychoboom

Das 20. Jahrhundert wird von manchen Historikern als „Jahrhundert der Psychologie“ charakterisiert (Gebhardt 2002). In nur wenigen Jahrzehnten gelang der Wissenschaft vom menschlichen Erleben und Verhalten der Sprung von einem akademischen und gesellschaftlichen Nischendasein zu einer viel beachteten Leitwissenschaft. Die Zahl der Psychologiestudierenden verzehnfachte sich zwischen 1960 und 1980. Heute zählt Psychologie zu den beliebtesten Studienfächern in Deutschland. Psychologische Deutungen sind überall gefragt – nicht nur in der Krankenbehandlung, sondern in der Wirtschaft, der Personalführung, dem Sport und natürlich zur individuellen Persönlichkeitsentwicklung, Stressbewältigung und Verbesserung der zwischenmenschlichen Beziehungen. Psychologisches Wissen verspricht Aufklärung, Verständnis und Hilfe für sich selbst im Umgang mit negativen Gefühlen. Die Psychologie liefert Methoden für einen besseren Kontakt zu anderen, beschreibt Wege zum Wohlbefinden und ist damit für viele säkulare Menschen zur „Religion unserer Zeit“ geworden (Bergmann 2015, 9). Nach dem Niedergang der großen universellen Heilslehren christlicher Prägung, von Sozialismus und Kommunismus wurde für viele die Psychologie zum individuellen Glücksbringer und Garanten für ein gelingendes Leben. Ein wichtiger Baustein für ihre gesellschaftliche Breitenwirkung war der sog. Psychoboom, der in den 1970er Jahren einsetzte.

50 Jahre „Psychoboom“

Das Klima gesellschaftlicher Umwälzungen im Zusammenhang mit der 68er-Bewegung bot einen geeigneten Nährboden für weltanschaulich überhöhte und ideologisch aufgeladene Psychomethoden. Die Zunahme von alternativer Gesundheitsvorsorge, Selbsterfahrungskursen und Therapiemethoden wird klassisch als „Psychoboom“ bezeichnet (Bach/Molter 1976). Im Geiste der Protestbewegung der 68er-Generation wurde versucht, mit vielfältigen psychologischen Ansätzen gesellschaftliche Utopien zu realisieren. Wichtige Impulse kamen durch Kulturtransfers aus Amerika und Asien, von kalifornischen Hippies und indischen Gurus. Auf dem Markt der Lebenshilfe hat sich durch das Aufgreifen dieser Importe neben Methoden mit streng wissenschaftlichen Kriterien ein weitaus größeres Feld mit Angeboten „ganzheitlich“ orientierter Therapie und Selbsterfahrung etabliert. Nach Schätzungen wird heute im Umfeld dieses alternativen Psychomarktes dreimal so viel Geld umgesetzt wie in kassenfinanzierten Psychotherapien. In der Therapieszene wird häufig vermischt, was früher strikt getrennt wurde: Wissenschaftliche Erkenntnisse mischen sich mit spiritistischen Vorstellungen, symbolische Bilder werden als handfeste astrologische Modelle vorgestellt und vieles mehr. Grundsätzlich werden empirisches Wissen und esoterisches Wissen als gleichberechtigte Zugänge zur Wirklichkeit verstanden und eingesetzt.

Soziologen bezeichnen dieses Feld alternativer Bildung und Gesundheitsvorsorge als „holistisches Milieu“ (Höllinger/Tripold 2012). Damit beschreiben sie die wachsende Nachfrage von Menschen, die umfassend alternativ-therapeutisch und spirituell beraten, behandelt und geheilt werden wollen. Nach einer repräsentativen Befragung in Österreich haben 56 % der Befragten mindestens eine Erfahrung mit einer ganzheitlichen Praxis, 27 % mit drei oder mehr Praktiken. Das Feld dieser Pilotstudie über das „holistische Milieu“ wurde bewusst weit abgesteckt und reichte von Yoga und Meditation über Homöopathie, Familienaufstellung und Akupunktur bis hin zu Reiki, Astrologie und Schamanismus. In einem aktuellen Fachbuch über Rituale in der Psychotherapie werden vier Hauptströmungen für spirituelle Heilmethoden vorgestellt, die mittlerweile herkömmliche psychotherapeutische Ansätze ergänzen (Brentrup/Kupitz 2015): schamanische, buddhistische, Quantenheilungs- und hawaiianische Heilrituale.

Das Interesse an alternativer, spiritueller Lebenshilfe ist ungebrochen groß: Ein Drittel des Buchhandelsumsatzes in der Kategorie „Ratgeber“ fällt in den Bereich „Gesundheit – Spiritualität – Lebenshilfe“ (Conrad/Kipke 2015, 102). Buddhistische Mönche, westliche Satsang-Meister, Expertinnen und Experten feinstofflicher Energien und hellsichtige Medien leiten zwischen zwei Buchdeckeln mit konkreten Tipps zur Alltagsbewältigung an. Nüchterne Zahlen der „Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften“ (Allbus 2012) bestätigen den Trend zum Irrationalen. Mehr als die Hälfte der Befragten ist aufgeschlossen gegenüber Anthroposophie und Theosophie, jeder vierte offen gegenüber Wunder- und Geistheilern, und 40 % äußern Sympathie für Astrologie oder New Age. Auch Religionswissenschaftler beobachten auf dem florierenden Markt spiritueller Gesundheitsangebote eine weit verbreitete Suche nach Sinn und existenzieller Orientierung (Klinkhammer/Tolksdorf 2015).

Mit seinem Fokus auf der individuellen Persönlichkeitsentfaltung trug der Psychoboom maßgeblich dazu bei, dass psychologische Methoden über die Behandlung psychischer Erkrankungen hinaus vielfältig zum Einsatz kamen. In bestimmten Milieus wurde es üblich, sich ein Coaching oder eine spirituelle Beratung zur Selbstoptimierung, zur Selbsterfahrung, zur Verbesserung der Beziehungsfähigkeit oder zur Bewusstseinserweiterung zu leisten (Tändler 2016). Anders als die klassische Psychoanalyse, die bestehende Machtsysteme hinterfragte, übernehmen Methoden des Psychobooms kaum noch gesellschaftskritische Funktionen. In seiner historischen Analyse hat Tändler (2016) herausgearbeitet, wie etwa Coaching-Angebote zu einem neoliberalen Anpassungsprogramm verkümmert sind: Ursprünglich angetrieben von humanistischen Ideen der individuellen Selbstentfaltung, bedienen heute viele Trainings nur noch das marktförmige Optimierungspostulat und dienen eher dem System als dem Einzelnen.

Darüber hinaus ist bemerkenswert, dass alternative Psychomethoden wie die Gruppendynamik – eine sich nach dem Zweiten Weltkrieg schnell ausbreitende Methode, die durch die hervorgehobene Position des Gruppenleiters leicht ideologisch vereinnahmt werden kann – auch im kirchlichen Kontext teilweise auf großen Widerhall stieß (Tändler 2016). Traditionelle seelsorgliche und neue spirituelle Methoden mischten sich und führten zu einer „fluiden“ Religion, in der die Grenzen zwischen traditioneller Frömmigkeit und moderner Spiritualität zunehmend verwischten.

Während im kirchlichen Kontext Methoden des Psychobooms aufgegriffen wurden, führte die Entwicklung der professionellen Psychotherapie in Deutschland zu einer Aufspaltung in zwei parallele Systeme einer wissenschaftlich-offiziellen und einer weltanschaulich-spirituellen Lebenshilfe (Utsch 2014).

Zur Entwicklung der Psychotherapie

Nachdem sich die Psychotherapie zu Beginn des letzten Jahrhunderts als eine ärztliche Fachrichtung mit psychoanalytischem Schwerpunkt herausgebildet hatte, öffnete sich das Feld erst nach dem Zweiten Weltkrieg für nichtärztliche Professionen, was nicht zuletzt den Versorgungsbedürfnissen der kriegsversehrten Soldaten geschuldet war. Dennoch dauerte es bis zum Jahr 1967, bis die Krankenkassen in Deutschland durch die erste „Psychotherapie-Richtlinie“ psychoanalytische und tiefenpsychologische Verfahren in ihren Leistungskatalog aufnahmen. 1964 hatte das Bundessozialgericht in einem richtungsweisenden „Neurosen-Urteil“ klargestellt: „Neurotische Hemmungen, die der Versicherte – auch bei zumutbarer Willensanspannung – aus eigener Kraft nicht überwinden kann, sind eine Krankheit“ (www.sgipt.org/berpol/gesptvg0.htm). Eine wichtige Grundlage für diese Entscheidung waren zwei Langzeitstudien an über 1000 psychisch Erkrankten mit neurotischen Diagnosen. 84 % der Behandelten erwiesen sich nach fünf Jahren ihrer psychoanalytischen Behandlung im Vergleich zu unbehandelten Patienten als geheilt bzw. deutlich gebessert.

Eindeutige Forschungsergebnisse haben also die weltanschaulich umstrittene Psychoanalyse zur offiziellen Krankenbehandlung zugelassen, obwohl die Kritik an bestimmten Vorgehensweisen wie der „säkularen Beichte“ (Liebscher 2011) oder an quasireligiösen Machtstrukturen psychoanalytischer Ausbildungsinstitute (Pollak 2014) nicht verstummt. Und an der desolaten Versorgungslage änderte sich so schnell nichts: 1969 konnten ganze 190 psychotherapeutische Kassenärzte in Westdeutschland ihre Hilfe anbieten. Heute stehen der Bevölkerung bundesweit 22000 zugelassene Kassenpsychotherapeuten und 10000 Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie zur Verfügung – ganz abgesehen von den Heilpraktikern und den zahllosen Angeboten privatfinanzierter Lebenshilfe.

Durch die anhaltend wachsende Nachfrage nach psychologischer Beratung und Behandlung und das zunehmende gesellschaftliche Interesse an psychologischen Zusammenhängen wurden auch in Deutschland alternative Ansätze der humanistischen Psychologie wie Gesprächspsychotherapie (Rogers), Gestalttherapie (Perls) oder Psychodrama (Berne) populär. Die Krankenkassen waren aufgrund des Versorgungsdrucks gezwungen, auch Psychologen zu berücksichtigen. Diese waren häufig in Verhaltenstherapie und/oder einem humanistischen Verfahren ausgebildet und wurden bald über das „Kostenerstattungsverfahren“ mit einbezogen. Viele klinisch tätigen Diplompsychologen bevorzugten die wissenschaftlich gut abgesicherte Verhaltenstherapie gegenüber dem ärztlichen Behandlungsmonopol sowie dem vielfach als autoritär und elitär empfundenen Dogmatismus und Personenkult der psychoanalytischen Schulen. Durch die Kostenerstattung entwickelte sich quasi eine „Schattenwirtschaft“ neben der offiziellen Richtlinien-Psychotherapie. Nach langjährigen „Lagerstreitigkeiten“ zwischen Analytikern und Verhaltenstherapeuten gelang es dann 1999, ein Psychotherapeutengesetz zu verabschieden, das allerdings die Methoden des Psychobooms nicht zur offiziellen Krankenversorgung zuließ.

Deutscher Sonderweg bei der Behandlung psychischer Krankheiten

Krankheitswertige psychische Störungen haben in den Industrienationen weltweit zugenommen. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt Depressionen als eine der größten gesundheitlichen Gefahren im 21. Jahrhundert ein. Nach dem Arztreport der Barmer Krankenkasse nahm die Zahl der psychischen Erkrankungen bei den 18- bis 25-jährigen Deutschen zwischen 2005 und 2016 um 38 % zu. Damit war 2016 etwa ein Fünftel dieser Altersgruppe von einer psychischen Erkrankung betroffen. Besondere Sorge bereitet der Krankenkasse der Anstieg entsprechender Diagnosen unter Studenten, die früher weniger anfällig als ihre Altersgenossen waren.

Seit 1999 sind durch das Psychotherapeutengesetz die Berufsbezeichnung „Psychologe“ und Psychotherapeut“ gesetzlich geschützt. Als Kassenleistung werden psychoanalytische und verhaltenstherapeutische Behandlungen übernommen. In keinem anderen Land wird die Krankenversorgung seelisch Erkrankter so umfangreich finanziert. Nirgendwo sonst sind die Behandlungen allerdings so strikt auf lediglich zwei „Richtlinien-Verfahren“ begrenzt. In den Niederlanden, Schweden oder Großbritannien stehen Hilfesuchenden immerhin fünf Therapieverfahren zur Auswahl, in Österreich sogar 22. Im Februar 2018 wurde ein umfangreicher und gut begründeter Antrag humanistischer Verfahren auf Zulassung zur Kassenversorgung in Deutschland abgewiesen.

Folgen des Psychobooms und Herausforderungen

Die explosive Pluralisierung der therapeutischen Methoden seit den 1970er Jahren hat sich weitreichend ausgewirkt, vier Folgen und Herausforderungen werden herausgestellt.

1. Der Psychoboom hat durch die Ideologisierung therapeutischer Methoden zu einer teilweise übertriebenen Therapeutisierung des Alltags geführt (Hemminger 2016). Störungen wie Depression, posttraumatische Belastungsstörung, Burn-out oder Narzissmus scheinen sich epidemieartig verbreitet zu haben und werden zum Teil immer noch eilfertig und undifferenziert diagnostiziert. In den letzten beiden Jahrzehnten wurden jedoch die Diagnose-Schlüssel seelischer Krankheiten intensiv überarbeitet und präzisiert. Dadurch wird dem Psychoboom-Trend wirksam begegnet.

2. Verfahren des Psychobooms schließen in ihr Vorgehen Existenz- und Sinnfragen mit ein. Spiritualität ist in den meisten Ansätzen der humanistischen Therapien ein wichtiges Thema. Auch in der Psychoanalyse und der Verhaltenstherapie ist in den letzten Jahren ein „spiritual turn“ zu bemerken. Spiritualität ist in den beiden Richtlinien-Verfahren angekommen – auch eine Folge des Psychobooms.

3. Durch die parallel existierenden Systeme der offiziellen und der alternativen psychotherapeutischen Gesundheitsversorgung fehlen dem alternativen Psychomarkt Qualitäts- und Kontrollmöglichkeiten. Dadurch werden Hilfesuchende immer wieder geschädigt. Für die dringend notwendige Qualitätssicherung auf dem alternativen Psychomarkt fehlen allerdings wichtige Fakten: Welche Verfahren werden besonders nachgefragt, welche von wem angeboten? Wann und warum wenden sich Hilfesuchende an das offizielle, wann an das alternative Hilfesystem? Mit welchen Wirkungen? Was ist schädigend, was hilfreich?

4. Wenn die weltanschaulichen Grundannahmen der Psychologie und damit die Grenzen ihrer Aussagemöglichkeiten nicht reflektiert werden, erhält sie eine Deutungsmacht, durch die sie mitunter als Heilslehre zur persönlichen Sinnfindung überinterpretiert und damit zur Ersatzreligion werden kann. Durch interdisziplinäre Vernetzungen mit philosophischen, religionswissenschaftlichen und theologischen Modellen vom Menschen kann die Psychologie ihren genuinen Beitrag zu einem besseren Verständnis des Menschseins liefern.

Michael Utsch, Juli 2018


Literatur

Bach, George R. / Molter, Haja (1976): Psychoboom. Wege und Abwege moderner Psychotherapie, Köln

Bergmann, Jens (2015): Der Tanz ums Ich. Risiken und Nebenwirkungen der Psychologie, München

Brentrup, Martin / Kupitz, Gaby (2015): Rituale und Spiritualität in der Psychotherapie, Göttingen

Conrad, Ruth / Kipke, Roland (Hg., 2015): Selbstformung, Münster

Gebhardt, Miriam (2002): Sünde, Seele, Sex. Das Jahrhundert der Psychologie, München

Hemminger, Hansjörg (2016): Psychotherapie als Allheilmittel, in: MD 10/2016, 363-370

Höllinger, Franz / Tripold, Thomas (2012): Ganzheitliches Leben, Bielefeld

Klinkhammer, Gritt / Tolksdorf, Eva (Hg., 2015): Somatisierung des Religiösen, Bremen

Liebscher, Martin (2011): Vom Beichtstuhl zur Couch, in: Hödl, Hans Gerald / Futterknecht, Veronica (Hg.): Religionen nach der Säkularisierung, Münster, 200-213

Pollak, Thomas (2014): Psychoanalyse als Religion?, in: Psyche 68/2014, 1109-1131

Tändler, Maik (2016): Das therapeutische Jahrzehnt. Der Psychoboom in den siebziger Jahren, Göttingen

Utsch, Michael (Hg., 2014): Spirituelle Lebenshilfe, EZW-Texte 229, Berlin

Utsch, Michael (2005): Psychoszene, in: Hempelmann, Reinhard u. a. (Hg.): Panorama der neuen Religiosität, Neuausg., Gütersloh, 97-112