Sant Mat (Radhasoami-Satsang)
Die bärtigen Meister aus Indien füllen auf ihren Besuchsreisen an vielen Orten große Hallen mit aufmerksamen Zuhörerscharen aus aller Herren Länder. Es braucht wenig Äußerlichkeiten, man konzentriert sich auf Wesentliches: den Yoga des Klangs und Lichts, der in Vortragsveranstaltungen und mit zeitgemäßem Werbematerial erläutert und angepriesen wird. Die für die betont asketische Praxis notwendige Initiation durch den Meister wird in der Regel gleich mit angeboten. Die hingebungsvolle Verehrung des „Lebenden Meisters“ und ein bestimmter Meditationsweg, der die Seele durch die kosmischen Sphären zur höchsten Gottheit aufsteigen lassen soll, bilden den Kern der religiösen Anschauung, die ein Stück modernisierter indischer Religion mit universalem Anspruch darstellt.
Allgemeines
Die weit verzweigte guruistische Radhasoami-Bewegung bezeichnet ihre Lehre als Sant Mat, wörtlich „Lehre (oder Pfad) der Heiligen“. Ihr Begründer, der nordindische Mystiker Shiv Dayal Singh (1818-1878), stand in der älteren Tradition volkstümlicher indischer Heiliger („Sants“) wie Kabir (gest. 1518) und Guru Nanak (gest. 1539), auf den die Sikh-Religion zurückgeht. Durch ihn und seine Nachfolger wurde der Sant Mat (im weiteren Sinne) lehrmäßig gefestigt und erhielt eine organisatorische Gestalt. So steht die Radhasoami-Religion dem Sikhismus nahe, betont aber im Unterschied zu diesem die Bedeutung des lebenden Satgurus, des wahren Meisters (nicht eines heiligen Buches, bei den Sikhs der „Adi Granth“). Vom Hinduismus trennt sie aufgrund islamischen Einflusses die Ablehnung sowohl der Bilderverehrung als auch des Kastenwesens. Radhasoami ist eine Bezeichnung für Krishna („Herr bzw. Gatte Radhas“, Radha ist eine indische Göttin) und zugleich für die höchste Gottheit, von daher verstanden als „Herr der Seele“. Satsang bedeutet „Versammlung“ der Anhänger (Satsangis).
Shiv Dayal Singh (genannt Soamiji Maharaj), Sohn eines Tuchhändlers, führte 1861 im indischen Agra die Pflege regelmäßiger Zusammenkünfte mit Vorträgen über spirituelle Themen und eine neue Meditationspraxis ein. Er wurde als Inkarnation des höchsten Gottes Radhasoami und als Satguru verehrt, der selbst keinen Guru hat. Dagegen war für Jaimal Singh (genannt Babaji Maharaj, 1839-1903), einen geborenen Sikh und Schüler des Gründers, die Kontinuität der Lehrtradition wichtig. Dies und andere Differenzen führten 1891 zur Trennung. Hier beginnt die nach dem Gründungsort Beas (Punjab) benannte Linie des Radhasoami-Satsang, die im Westen die bedeutsamste geworden ist. Streitigkeiten um die Nachfolge des jeweiligen Gurus und damit zusammenhängende Konflikte ließen die Radhasoamis allerdings noch viele Spaltungen erleben, sodass sich heute eine Fülle von Gruppen und Organisationen unter dem Oberbegriff Sant Mat versammelt.
Neben einigen Abspaltungen, die im Wesentlichen auf Indien beschränkt bleiben, setzte die Beas-Linie bewusst auf Verbreitung, auch im Westen. Der „Radha Soami Satsang Beas“ (RSSB) ist heute nach eigenen Angaben in über 90 Ländern aktiv. Zur Bekanntheit des Sant Mat außerhalb Indiens hat insbesondere Sant Kirpal Singh beigetragen (1894-1974). Der Bauernsohn, später Rechnungsprüfer, gründete 1950 den Ruhani Satsang (wörtlich „spirituelle Zusammenkunft“ – die die reine, spirituelle Lehre der ganzen Menschheit vermitteln soll). Er bereiste viele Länder und gründete weltweit „Menschheitszentren“, die den Auftrag zur interreligiösen Einheit der Menschheit umsetzen sollten. 1974 gründete er die „World Conference on Unity of Man“ (Weltkonferenz für die Einheit der Menschen), die mit großer Resonanz erstmals in Neu Delhi tagte. Kirpal Singh ist bis heute die überragende Gestalt der Radhasoami-Religion.
Aus dem Ruhani Satsang gingen nach Kirpals Tod weitere Nachfolgeorganisationen einiger Schüler hervor. Dazu gehört die „Wissenschaft der Spiritualität“ (Sawan Kirpal Ruhani Mission), die von einem Enkel Kirpal Singhs, Sant Rajinder Singh, geführt wird. Sie hat ihren Sitz in München und zählt über 70 Zentren in Deutschland, ein gutes Dutzend in Österreich und einige mehr in der Schweiz. Ein weiterer Zweig ist „Unity of Man“, zu der Dr. Harbhajan Singh (1932-1995) 1974 beauftragt worden war und die mit Literaturarbeit und Konferenzen zur religiösen Toleranz und zum interreligiösen Dialog beitragen will. „Unity of Man“ mit dem europäischen Sitz im österreichischen St. Gilgen anerkennt keinen Lebenden Meister und lehnt die Bezeichnung Radhasoami ab. Auf den unrühmlich in die Schlagzeilen geratenen Thakar Singh (1929-2005) geht schließlich die Gründung eines Netzwerks nationaler „Holosophischer Gesellschaften“ seit 1992 zurück.
Zu den Vorwürfen, die gegenüber Thakar Singh erhoben wurden, gehören neben massenhaftem Initiieren Misshandlungen von Anhängern und vor allem Anhängerinnen, gewaltsame Exorzismen sowie brutale Methoden im Rahmen einer „spirituellen Erziehung“. Die skandalösen Ereignisse um erzwungene Kindermeditationen in „Lichtheim-Kindergärten“, die später geschlossen wurden, brachten eine erschreckende Unerbittlichkeit ans Licht. Kinder, darunter auch Kleinkinder, wurden gezwungen, mit verbundenen Augen und einem Ohrenstöpsel viele Stunden lang zu meditieren. Mit radikaler und bedingungsloser Hingabe an Gott, konkret an den Lebenden Meister, sollten dem gegenwärtigen finsteren Zeitalter der negativen Mächte „Leuchttürme“ und „Retter der Menschheit“ erwachsen. Nachfolger Thakar Singhs ist inzwischen Sant Baljit Singh (geb. 1962).
Weitere Abkömmlinge bzw. Gruppen im weiteren Umfeld der Radhasoami-Tradition sind das „Forum für die Universale Religion“ des Soami Divyanand, die „Divine Light Mission“ / „Elan Vital“ (Prem Rawat) sowie Eckankar (Paul Twitchell, heute Harold Klemp).
Zu Zahlen und Verbreitung in Deutschland gibt es kaum aussagekräftige Angaben. Es bestehen an vielen Orten Vereine, Meditationsgruppen, kleinere oder größere Zentren unterschiedlicher Richtungen, für die insgesamt wohl eine Aktivenzahl im unteren vierstelligen Bereich angenommen werden kann.
Lehre und Praxis
Die eine Gotteskraft wirkte und wirkt ewig durch Jesus, Guru Nanak, Muhammad, Buddha und viele Heilige bis in die heutige Zeit. Anspielungen heiliger Schriften auf das Licht und das Wort Gottes werden auf den göttlichen Energiestrom aus Klang und Licht bezogen, auf den die Seele sich einstimmen soll, um durch die himmlischen Sphären aufzusteigen. Die Bibel wird häufig zitiert, beliebt sind Worte z. B. aus dem Johannesevangelium, aber auch die Veden, buddhistische Schriften oder der Koran. Die Götter der Religionen (auch der Christen und Muslime) gehören niederen Sphären an, die der Satsangi hinter sich lässt.
Der Satguru öffnet bei der Initiation das „Dritte Auge“ (zwischen den Augenbrauen, wo der Sitz der Seele lokalisiert wird) und teilt die Mantras mit, die für die Seelenreisen notwendig sind. Ohne den Meister, der selbst als Seelenführer im „Dritten Auge“ Platz nimmt und das Karma seiner Schüler übernimmt, kann das höchste Ziel nicht erreicht werden. In der Meditation verlässt der Schüler in äußerster Konzentration und Sammlung aller Kräfte seinen Körper, um in der Astralwelt seinem Meister zu begegnen. Der Meister leitet zur Befreiung der Seele aus fünf Leidenschaften an: Lust, Begierde, Zorn, Verhaftung (am Materiellen etc.) und Ego. Durch die Verbindung des Selbst (Surat) mit dem lebendigen Klangstrom (shabd), d. i. letztlich die Vereinigung mit Gott (= „Surat Shabd Yoga“), werden die negative Macht und die niederen Gottheiten überwunden und die Seele aus ihrer Gebundenheit befreit.
Mit mindestens zwei Stunden Meditation pro Tag, Guru-Seva (Dienst für den Guru) und Einhalten des vierfachen Gelübdes (Enthaltung von Fleisch, Alkohol, Drogen und unerlaubtem Sex) unterwerfen sich die Anhänger der Leitung des Lebenden Meisters. Auch Kinder werden zu Simran, dem Singen der fünf göttlichen, kraftgeladenen Namen, und zur Meditation angehalten. Teilweise werden die Anhänger aufgefordert, ein spirituelles Tagebuch zu führen. Es erleichtert die Kontrolle über den Fortschritt in der Bereitschaft, „die Offenbarung des Meisters“ zu empfangen.
Diese Form der Spiritualität wird als eine innere Wissenschaft, geradezu als „die Mutter aller Wissenschaften“ verstanden. Rituale und religiöse Formen stehen nicht im Vordergrund. Der Sant Mat wird darüber hinaus als universale Religion betrachtet, gleichsam als das verloren gegangene Zentrum aller Religionen. Diese bilden demnach gemäß ihren grundlegenden Lehren eine Einheit. Auf dieser Basis wird die Bedeutung interreligiöser Kontakte hervorgehoben.
Wichtige Quellen sind, zumal für die Sant-Mat-Gruppen im Westen, die Schriften Kirpal Singhs (z. B. „Der Pfad nach innen“; „Die Krone des Lebens“). Auch Thakar Singh hat viele Schriften publiziert. Literatur der „Wissenschaft der Spiritualität“ wird in Deutschland durch die Sawan Kirpal (SK-)Publikationen verlegt.
Stellungnahme
Der Sant Mat in der Gestalt des Radhasoami-Satsang ist gelegentlich dem charismatisch-mystischen Reformhinduismus zugerechnet worden. Übereinstimmend mit vielen Anhängern kann jedoch gesagt werden, dass das grundsätzlich Neue gegenüber der früheren hinduistischen Religionsgeschichte den Radhasoami-Glauben prägt. Was allerdings die Einheit der Religionen herbeiführen sollte, hat zu einer unübersichtlich gewordenen Vielfalt mehr oder weniger konkurrierender religiöser Organisationen geführt.
Die Ereignisse um den „Skandalguru“ Thakar Singh haben dem Ruf der Sant-Mat-Meister zugesetzt. Auch wenn sie als Entgleisung anzusehen sind, ist das Menschenbild im Sant Mat tendenziell leibfeindlich und die religiöse Praxis nicht ohne Risiko, besonders für psychisch labile Menschen. Die Rigorosität der religiös-praktischen Anforderungen, die Technik des Seelenreisens mit ihren Extremerfahrungen meditativer Entgrenzung, die Abhängigkeit vom Guru und nicht zuletzt die Kindermeditation sind Aspekte, die in ihren Auswirkungen nicht unterschätzt werden sollten.
Sant Mat vertritt einen exklusiven Heilsanspruch und lehrt Erlösung in diesem Leben. Zur direkten Verbindung mit dem göttlichen Licht und Ton ist die Initiation und Leitung durch den Lebenden Meister notwendig. Dessen unentbehrliche Stellung hat auch mit der Vorstellung zu tun, dass der Guru dem Schüler bei der Aufarbeitung seines Karmas entscheidend hilft, indem er einen Teil gleichsam auf sich nimmt und beseitigt.
Die Einstellung gegenüber anderen Religionen ist ambivalent. Das interreligiöse Engagement kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Religionen als vorläufige und niedere Orientierungen als hinderlich auf dem Weg zum höchsten Heilsziel betrachtet werden. Zwar wird gesagt, die Abkehr von der eigenen kulturellen Identität und Religion sei nicht nötig. Die behauptete Übereinstimmung mit grundlegenden geistlichen und theologischen Einsichten des Hinduismus, des Christentums und des Islam wird jedoch durch massive Uminterpretation bzw. völlige Neudeutung der Begriffe (z. B. Schöpferwort, Heiliger Geist, Logos, Inkarnation, Mensch als Ebenbild Gottes, Gott als Hirte aller Seelen) erkauft. Insofern wird an anderen religiösen Überzeugungen akzeptiert, was dem Sant Mat als Schlüssel zur Einheit der Menschen und der Religionen entspricht; was der Vereinnahmung widerstrebt, wird nicht beachtet oder abgelehnt.
Friedmann Eißler, Mai 2011
Quellen
Huzur Maharaj Sawan Singh Ji, Philosophy of the Masters, Radha Soami Satsang, Beas (Indien) 1973
Julian P. Johnson, Der Pfad der Meister, Beas (Indien) 1939
Sant Kirpal Singh, Die Krone des Lebens. Die Yoga-Lehren und der Weg der Meisterheiligen, Bern 1987
Rajinder Singh, Heilende Meditation, Neuhausen (Schweiz) 42007
Zeitschrift (Wissenschaft der Spiritualität)
Sat Sandesh – Die Botschaft der Wahrheit (erscheint sechsmal im Jahr)
Internet
www.sos-online.eu Wissenschaft der Spiritualität)
Literatur
Reinhart Hummel, Gurus, Meister, Scharlatane. Zwischen Faszination und Gefahr, Freiburg i. Br. / Basel / Wien 1996, 144-183
Reinhart Hummel, Radhasoami-Gruppen, in: Reinhard Hempelmann u. a. (Hg.), Panorama der neuen Religiosität. Sinnsuche und Heilsversprechen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Gütersloh 22005, 348-352
Hans Krech / Matthias Kleiminger (Hg.), Handbuch Religiöse Gemeinschaften und Weltanschauungen, Gütersloh 62006, 911-949