Sikhismus / Sikhi
Sikhs, vor allem männliche Gläubige, sind an ihrem markanten Äußeren zu erkennen: Ein kunstvoll gebundener Turban (Dastar) bedeckt das ungeschnittene Haar, die Männer tragen Bart, häufig sieht man auch den stählernen Armreif, den Sikhs als Zeichen der Gemeinschaft tragen. Nicht selten erleben es Anhänger der Sikh-Religion, dass sie mit Ausdrücken wie „Taliban“ oder Schlimmerem bedacht werden, weil sie für „fanatische Muslime“ gehalten werden. Dabei ist der Sikhismus – auch Sikhi genannt – die vierte große einheimische Religion Indiens neben Hinduismus, Buddhismus und Jainismus. Er hat Anteile aus dem Islam und mehr noch aus dem Hinduismus mit mystischen Elementen aus dem Sufismus und dem Yoga zu einem Glaubenssystem verbunden, das heute eine eigene Weltreligion darstellt.
Geschichte
Sikh heißt Schüler. So bezeichneten sich zunächst die Anhänger von Guru Nanak, der von 1469 bis 1539 in dem seit 1947 auf Pakistan und Indien aufgeteilten Fünfstromland Punjab gelebt und gewirkt hat. Nach einem Berufungserlebnis war Nanak rastlos unterwegs, um seine reformerische Botschaft von dem einen unveränderlichen, bedingungslos liebenden Gott und der Erlösungsfähigkeit aller Menschen unabhängig von Stand, Kaste, Geschlecht oder Handeln zu verkünden. Der Islam hatte sich in Indien ausgebreitet, ab dem 16. Jahrhundert sollte die Mogul-Dynastie ihre Herrschaft weit ausdehnen. Schon vor Nanak gab es Protestbewegungen gegen die erstarrten Formen der etablierten Religionen. Aus dem islamischen Sufismus wie aus der hinduistischen Bhakti-Bewegung kam Kritik an überkommenen Tempelriten und Opferpraktiken. Bhakti heißt „Hingabe“ und bezieht sich auf die liebende Zuwendung des Menschen zu Gott und Gottes zu den Menschen. Im Anliegen einer unmittelbaren Gottesbeziehung, ja der Vereinigung der Seele mit Gott, die Gott aus freier Gnade gewährt, treffen sich mystische Traditionen aus dem Islam und der indischen Religion. Ein wichtiger Vertreter in der Tradition der volkstümlichen indischen Sants („Heiligen“), der eine solche monotheistische Gottesbeziehung über Islam und Hinduismus hinaus mit großer Ausstrahlungskraft vertrat, war Kabir (1440-1518). Wie er ging Nanak mit den Verantwortlichen für die herrschende soziale und politische Lage hart ins Gericht und kritisierte in unzähligen Hymnen weltliche Lebensweise ebenso wie religiösen Ritualismus und hinduistischen Bilderkult.
Nanak bekannte sich zu keiner Religion, doch er wurde als Guru anerkannt und betonte die Bedeutung des lebenden Meisters für den Weg zu Gott. Seine neun Nachfolger, die jeweils vom Vorgänger bestimmt wurden, festigten die Glaubensgemeinschaft, sodass im Lauf der Zeit das Selbstbewusstsein einer eigenen Religion entstand. So wurden unter den ersten Gurus eigene Feste und Wallfahrtsorte eingerichtet, die ersten Hymnensammlungen erstellt, die freie Küche (gemeinsames Essen für alle, Guru Ka Langar) institutionalisiert sowie die Gleichbehandlung von Männern und Frauen, Armen und Reichen ungeachtet der Kastenzugehörigkeit gefordert. Die Gründung des späteren Amritsar („Nektarteich“), das zum Zentrum der Sikhs wurde, geht auf den vierten Guru Ram Das zurück. Sein Sohn Arjan (1581-1606) ließ in dem Teich das Zentralheiligtum der Sikhs errichten, den heutigen „Goldenen Tempel“ (Harimandir), der symbolisch für die Offenheit für alle von allen vier Himmelsrichtungen begehbar ist. Guru Arjan besorgte auch die erste Redaktion des Adi Granth (des „ursprünglichen Buches“), der heiligen Schrift der Sikhs, die im Harimandir aufbewahrt und fortlaufend verlesen wird. Nachdem Arjan der erste Märtyrer der Sikhs geworden war, kam es unter dem sechsten Guru, Hargobind, zu einer dramatischen Wende von der ursprünglichen pazifistischen Haltung zur Militarisierung der Sikhs. Hargobind führte die Zwei-Schwerter-Lehre ein (Miri und Piri). Der zehnte und letzte der menschlichen Gurus, Gobind Singh (1675-1708), der ebenfalls im Kampf gegen die Moguln stand, vollendete schließlich diese Entwicklung, indem er den Khalsa gründete (Gemeinschaft der „Reinen“), eine religiöse Waffenbruderschaft, die fortan den „harten Kern“ der Sikhs bildete. Von höchster Bedeutung war seine Entscheidung, keinen weiteren menschlichen Nachfolger zu bestimmen, sondern dessen Funktionen auf den durch weitere hymnische Werke vervollständigten Adi Granth zu übertragen. Das Buch erhielt den Titel Sri Guru Granth Sahib, kurz Granth Sahib oder Guru Granth („Schrift-Guru“) und sollte von nun an der einzige Meister sein.
Die von Gobind 1699 an „Fünf Geliebten“ (aus unterschiedlichen Kasten!) vollzogene Schwerttaufe ist das Vorbild des heutigen Taufritus (khande di pahul), mit dem man in den Khalsa aufgenommen und auf bestimmte Verhaltensregeln (rahit) verpflichtet wird. Dazu gehören die „fünf Ks“ als identitätsstiftende Kennzeichen: kesh, das ungeschorene Körperhaar und der Turban, kangha, der hölzerne Kamm zur Pflege, kara, ein eiserner oder stählerner Armreif, kirpan, ein Dolch oder Schwert zur Selbstverteidigung, sowie kaccha, bequeme Baumwollshorts. Auch die typische Namensgebung, dass alle Männer den Nachnamen Singh („Löwe“) und alle Frauen den Nachnamen Kaur („Prinzessin“) erhalten – ebenfalls ein Zeichen der aufgehobenen Kastenzugehörigkeit –, soll auf Gobind Singh zurückgehen.
Die Folgezeit verlangte von den Bauern und Kriegern, die das Bild der Sikhs prägen, Kampfbereitschaft, die sich auch im Khanda, dem Waffenemblem des Khalsa, symbolisch niedergeschlagen hat. Es ist als Sikh-Symbol bekannt: ein doppelschneidiger Dolch vor einem stählernen Wurfring, flankiert von den beiden gekreuzten Schwertern Miri und Piri. Nicht alle Sikhs wurden Mitglieder des Khalsa, grob geschätzt sogar nur 15 Prozent. Daneben blieben andere Gruppen bestehen, die zwar dem Panth (Weg) der Sikhs folgen, jedoch nur teilweise die rahit-Regeln oder stattdessen andere Regeln einhalten: so etwa die Keshdhari, die Sahajdhari, die Udasi und die Akali Sikhs. Äußere und innere Faktoren stärkten langfristig den Khalsa als selbstbewussten Repräsentanten des Sikhismus.
Anfang des 19. Jahrhunderts bestand im Punjab ein Sikh-Königreich, das 1849 durch die britische Kolonialmacht sein Ende fand. Die Sikhs arrangierten sich mit den Briten, die vor allem ihre Verlässlichkeit und ihre militärischen Fähigkeiten schätzten. Noch heute ist jeder fünfte Offizier der indischen Armee ein Sikh (bei 2 Prozent Bevölkerungsanteil). Immer wieder gab es jedoch auch Versuche radikaler Sikh-Gruppen, mehr Autonomie oder gar die Unabhängigkeit der Sikhs durchzusetzen. Eine dramatische Eskalation ereignete sich im Juni 1984, als die Stürmung des Goldenen Tempels in Amritsar durch indische Regierungstruppen in einem Blutbad endete (Operation Blue Star). In der Folge wurde die indische Premierministerin Indira Gandhi von ihren Sikh-Leibwächtern erschossen. Unter dem Druck der Umstände verließen viele Sikhs ihre Heimat, was auch die Sikh-Religion in andere Teile der Welt auswandern ließ.
Lehre und Praxis
„Ein Gott, sein Name ist Wahrheit, er ist der Schöpfer, er ist die Höchste Wesenheit, bei ihm ist keine Angst, bei ihm ist keine Feindschaft, seine Gestalt ist zeitlos, er stammt aus keinem Schoß, er ist aus sich selbst – durch des Gurus Gnade (wird er erkannt).“ Mit diesen Worten Nanaks beginnt das Mulmantra, die „Grundformel“ der Sikhs, und mit ihm der Adi Granth. Es enthält die wesentlichen Kernaussagen des Sikh-Glaubens, der den ursprünglichen Impuls der Vermittlung zwischen Islam und Hinduismus vielfach aufgenommen hat. Gott ist einer (im Original „Ik Oankaru“ oder „Ek Onkar“, durch die Ziffer 1 mit dem folgenden Symbol ausgedrückt), das ungeteilte höchste Wesen, weder weiblich noch männlich, zeitlos über dem ewigen Kreislauf von Geburt, Tod und Wiedergeburt, die absolute Wirklichkeit. Jede Form von Bilderverehrung wird abgelehnt. Die äußerste Annäherung, deren der Mensch fähig ist, geschieht in der Gebetsversenkung in den Gottesnamen. Deshalb ist die meditierende Wiederholung von Gottes Namen so wichtig. Sie bereitet den Weg zur Überwindung von Karma und Reinkarnation, die wie im Hinduismus als Realitäten betrachtet werden. Viele Gottesnamen finden Verwendung, häufig Waheguru (großer Guru) oder Satnam (wahrer Name). Der Guru ist letztlich der sich offenbarende Gott selbst. Die Autorität des menschlichen Gurus bzw. des Guru Granth beruht darauf, dass er frei ist von allem Weltlichen und vollkommen von Gott erfüllt. Menschliches wird nicht vergöttlicht, vielmehr teilt Gott sich selbst mit. Hier kommt die Gnade ins Spiel, die die unmittelbare Hingabe des Menschen sucht. Dieser Weg steht allen offen, auch Niedrigkastige und Frauen erhalten gleichermaßen Zugang zum Heil. Dabei kommt es nicht auf äußerliche Riten und sichtbare Tempel oder Moscheen an.
Ein Gottesdienst findet in einem Gurdwara (Tor zum Guru) statt, dem mit der gelben Sikh-Flagge geschmückten Sikh-Tempel. Es gibt kein Priesteramt. Jeder Sikh kann eine Versammlung leiten, auch Frauen, wenngleich es Spezialisten z. B. für die Rezitation (Granthi) oder den Gesang (Ragi) gibt. Rezitationen aus dem Granth wechseln mit religiösen Gesängen (Bhajan, Kirtan) ab, teilweise gibt es Belehrungen, am Ende ein Gebet. Danach wird Prasad, eine gesegnete Süßspeise, gereicht. Das anschließende gemeinsame Essen symbolisiert über den Gemeinschaftsaspekt hinaus die Gleichheit und Geschwisterschaft aller ohne Unterschied. Neben den mystischen Elementen – das Ziel des Lebensweges ist die Vereinigung mit Gott – betont die Sikh-Religion die Ethik. Durch eine rechtschaffene Lebensweise strebt der Mensch nach Überwindung seines fixierten Ichgefühls. Sie basiert auf drei praktischen Grundsätzen: 1) „Gottes Namen beten“ (Nam Japna), was durch meditative Wiederholung, Gottesgedenken und Hymnen geschieht; 2) „Ehrliche Arbeit leisten“ (Dharam ki Kirat Karni), was Aufrichtigkeit, einen eigenen Lebensunterhalt und ein gutes Familienleben umfasst; 3) „Verdienste mit anderen teilen“ (Vand Ke Chakna), womit der soziale Aspekt gemeint ist, die Früchte der Arbeit zu teilen, bevor man an sich selbst denkt.
Sikhs verrichten – in vielen Tempeln regelmäßig – Morgen- und Abendgebet, leben monogam, beachten das Verbot von Alkohol-, Tabak- und Drogengenuss und essen Fleisch nur von Tieren, die nach bestimmten Vorschriften geschlachtet wurden.
Verbreitung und Organisation
Weltweit leben heute schätzungsweise 20 bis 25 Millionen Sikhs, die meisten davon im Punjab, etwa drei Millionen außerhalb Indiens. Die größten Auslandsgemeinschaften bestehen in Kanada und Großbritannien (jeweils etliche Hunderttausend), in Deutschland leben mehrere tausend Sikhs (Zahlen zwischen 5000 und 15000 werden genannt), die sich in knapp 30 Gurdwaras vor allem in den städtischen Ballungszentren versammeln. Für die Schweiz werden mehrere Hundert angenommen, für Österreich knapp 3000. Über die Belange der Sikhs wacht eine Art religiöses Parlament in Amritsar, in das auch die deutschen Sikhs eingebunden sind. Hierzulande verwalten Vereine die Angelegenheiten des Gurdwara und der Ortsgemeinde (Sangat). Die Finanzierung erfolgt durch Spenden.
Aus den gleichen Wurzeln wie der Sikhismus ging im 19. Jahrhundert die Radhasoami-Tradition (Sant Mat) hervor. Sie knüpft an den frühen guruistischen Sikhismus an, bildet aber eine eigenständige, weitverzweigte Religion, die die Bedeutung des lebenden Meisters betont. Sie findet im Westen vor allem in der esoterischen Szene Resonanz. Dies gilt auch für die „3H-Organisation“ (3HO – healthy, happy, holy), die von dem in die USA ausgewanderten Sikh Yogi Bhajan gegründet wurde, der ab 1968 Kundalini Yoga im Westen lehrte. Manche Konvertiten kamen indes über 3HO zum Sikhismus.
Einschätzung
Der Sikhismus ist heute eine internationale Gemeinschaft, die von einem regen Austausch zwischen den indischen und den im Ausland lebenden Gruppen geprägt ist. Die Erfahrungen im Umgang mit Pluralität und interner Vielfalt werden dadurch nur intensiviert. Ein Anliegen des Sikh-Glaubens, das historisch sein Potenzial immer wieder entfaltet hat, ist die Vermittlung zwischen Unterschieden und die Betonung der Gleichheit und Gleichberechtigung aller Menschen (auch wenn die Ideale in Bezug auf das Kastenwesen und die Gleichwertigkeit der Geschlechter in der gesellschaftlichen Wirklichkeit weitgehend unerfüllt geblieben sind).
Der Sikh-Glaube ist nicht von einem exklusiven Wahrheitsanspruch geprägt. Gute Anknüpfungspunkte für das Gespräch bieten die Bedeutung des „Buches“ („Buchreligion“ – nicht der Buchstabe ist heilig, entscheidend ist das lebendige Wort) sowie die Anschauung, dass jeder Mensch gleichermaßen erlösungsbedürftig und erlösungsfähig ist. Dabei erbarmt sich Gott des Niedrigsten und Unwürdigsten – der sich in seiner Glaubenspraxis zu Gott hinwendet und doch auf die freie Gnade Gottes angewiesen bleibt.
Friedmann Eißler, Februar 2012
Quellen
Sri Guru-Granth Sahib, übers. ins Engl. von Gopal Singh, 4 Bde., New Delhi u. a. 1984
Monika Thiel-Horstmann, Leben aus der Wahrheit: Texte aus der Heiligen Schrift der Sikhs, Zürich 1988
Die Sikh-Religion, Informationsblatt des Sikh-Forums, www.sikh-religion.de
Die Sikh-Religion, Informationsbroschüre der Sikh Gemeinde Berlin, o. J.
Guru Granth Sahib. Der Elfte Guru der Sikhs, Informationsbroschüre der Sikh Gemeinde Berlin, o. J.
Internet
www.sikh-religion.de (Sikh-Forum)
Sekundärliteratur
Ulrich Dehn, Sikhismus, in: Michael Klöcker / Udo Tworuschka (Hg.), Handbuch der Religionen 4/X, München 2000
Othmar Gächter, Sikhismus, in: Johann Figl (Hg.), Handbuch Religionswissenschaft. Religionen und ihre zentralen Themen, Innsbruck u. a. 2003, 368-383
Monika Horstmann, Der Sikhismus, in: Peter Antes (Hg.), Die Religionen der Gegenwart, Geschichte und Glauben, München 1996, 136-160
Khushwant Singh / Raghu Rai, Die Sikhs, Stuttgart / Bonn 1986