Steiner, Rudolf
Als Rudolf Steiner am 30. März 1925 in Dornach starb, war der Vater der Anthroposophie eine öffentliche Person, deren Denken und Rolle sich klaren Einordnungen entzog. Kritisch beäugt oder begeistert gefeiert, hoch verehrt oder verwundert zur Kenntnis genommen, galt er als bedeutender Denker seiner Zeit oder grotesker Blender mit Massenanhang (Tucholsky: „Jesus Christus des kleinen Mannes“), jedenfalls war er jemand, zu dem man sich verhalten musste. In verschiedenen Zeitungen von der „Börsenzeitung“ bis zum „Vorwärts“ und zur „New York Times“ erschienen zahlreiche Nachrufe, wobei letztere den Tod von „Dr. Rudolf Steiner, Theosophist“ meldete, die Anthroposophie also als Spezialfall der Theosophie wahrnahm.
Der Einfluss, den Rudolf Steiner durch die Entwicklung der Anthroposophie insbesondere auf die deutschsprachige Esoterik hatte, ist kaum zu überschätzen. Ebenso wichtig und doch relativ unbekannt ist die anhaltende gesellschaftliche Wirkung anthroposophischer Ideen. Fast jeder begegnet heute in Deutschland, Österreich und der Schweiz oft unbemerkt, aber regelmäßig Manifestationen von Steiners Philosophie. Steiners Person allerdings hat die Prominenz ihres Todesjahrs nicht bewahrt, und von der Existenz einer Anthroposophischen Gesellschaft haben die wenigsten überhaupt gehört.
Rudolf Steiner wurde 1861 am südöstlichen Rand der Habsburger Doppelmonarchie im ungarischen Nieder Kraliewitz (heute Donji Kraljevec, Kroatien) als Sohn eines Eisenbahners geboren. Nach dem Schulabschluss studierte er in Wien Naturwissenschaften, vermisste aber neben dem rationalen einen geistigen Zugang zur Wirklichkeit. Diesen fand er schließlich bei Goethe (Farbenlehre). Erste Bekanntheit erlangte er danach als Herausgeber von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften (1883 – 1897) im Rahmen zweier Großeditionen, zunächst in Wien, ab 1890 in Weimar. Nach anfänglicher Anerkennung bemängelten Rezensenten den Einfluss seiner eigenen Weltanschauung auf die Goethe-Editionen. Bis heute sind Goethe-Faszination und ein ihn imitierender Sprachstil prägend für die Anthroposophie. Versuche, nach der Promotion 1891 (über Fichtes Erkenntnistheorie, Universität Rostock) und nach der Publikation weiterer Schriften („Die Philosophie der Freiheit“, 1894) eine akademische Laufbahn einzuschlagen, blieben erfolglos. Neben der Herausgebertätigkeit wirkte Steiner als Hauslehrer und Journalist. Von 1897 bis 1923 lebte er meist in Berlin. In dieser Lebensphase vor 1900 lebte Steiner trotz bescheidener Einkünfte das Leben eines ständig klammen, aber programmatisch hedonistischen und agnostischen, ja religionsfeindlichen Anarchisten und Bohémiens. Die ersten Berliner Jahre waren von Armut und Hunger geprägt.
Theosophie und Entstehung der Anthroposophie
1902 schloss sich Steiner der Theosophischen Gesellschaft (TG) an und wurde im selben Jahr Generalsekretär ihres deutschen Zweiges, was ihm ein neues Publikum erschloss. 1902 publizierte er „Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums“ (Bd. 5 SKA). Er deutet hier die Theosophie als Fortsetzung antik-paganer Mysterien. Steiners Verbindung dieser Vorstellungen mit einem mystisch verstandenen Christentum fügt sich dabei als typischer Beitrag in intensiv geführte zeitgenössische Debatten um das Wesen des Christentums im Verhältnis zu antiken Mysterientraditionen ein. Für den Entwicklungsgedanken des Individuums und des Menschengeschlechts ist dabei die von der Theosophie übernommene Lehre von Karma und Reinkarnation zentral.
Steiners rascher Aufstieg in der TG war seiner Kenntnis der deutschen Idealisten und Literatur geschuldet. Der leichthändige Rekurs auf Fichte, Schelling und Goethe war für die esoterisch aufgeschlossenen Teile des bildungsbürgerlichen deutschen Publikums der Jahrhundertwende attraktiv und bot in die Sprache der Hochkultur gekleidete Zugänge für die Sehnsucht nach neuen Erkenntniswegen, welche Philosophie, Religion und Wissenschaft als Schritte auf dem Weg zu tieferer Einsicht oder höherer Erkenntnis transzendierend verarbeiteten.
Steiner verstand seinen Ansatz pointiert als eine Geisteswissenschaft. „Unter Anthroposophie verstehe ich eine wissenschaftliche Erforschung der geistigen Welt, welche die Einseitigkeiten einer bloßen Naturerkenntnis ebenso wie diejenigen der gewöhnlichen Mystik durchschaut und die ... in der erkennenden Seele erst die im gewöhnlichen Bewusstsein und in der gewöhnlichen Wissenschaft noch nicht tätigen Kräfte entwickelt, welche ein solches Eindringen ermöglichen“ (Philosophie und Anthroposophie, Vortrag 1908, GA 35, 66).
In dieser Zeit entstanden die Hauptwerke „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ (1909) und „Die Geheimwissenschaft im Umriß“ (1910). Neu sind in dieser Zeit auch Selbstverständnis und Auftreten Steiners. „Hier spricht nicht mehr eine Stimme, die ein kritisches Publikum durch Argumentation von der eigenen Position zu überzeugen versucht, sondern eine solche, welche die Autorität eines Wissenden für sich in Anspruch nimmt und als Lehrer zu Schülern spricht“ (Clement, SKA 7, XXVII). Steiners Auftreten beschreibt ein Zeitgenosse so: „Steiner liebt die hohenpriesterliche Gebärde, in seinen Vorträgen und in seinen Schriften. Es ist nicht ohne Eindruck, wenn auf der Rednerbühne der hagere Mann die dunkelglühenden Augen zur Decke richtet, das strähnige schwarze, in die Stirn fallende Haar mit einer ruckenden Kopfbewegung zurückschleudert und die gelblichen schlanken Hände wie segnend hebt. Diese Pose hat Stil. Und ihr entspricht seine Stimme, die von suggestiver Eindringlichkeit ist und die die wunderbaren Tatsachen, die er erwähnt, seinen Zuhörern in einer Weise nahebringt, die man nicht überzeugend nennen kann, wohl aber als überredend bezeichnen muß“ (Freimark, 40).
Steiner verweigerte die Gefolgschaft, als die TG ab 1907 zunehmend östliche Einflüsse aufnahm und den 16-jährigen Inder Krishnamurti als Weltenlehrer und Messias propagierte. Steiner suchte dagegen eine „dem deutschen Volksgeist angepaßte Theosophie“ aufzubauen, die eher an ein mystisch interpretiertes Christentum als an Indien anknüpfte (Evangelienvorlesungen 1908-10), wobei z. B. die der Theosophie und der Anthroposophie gemeinsame Lehre vom vierfachen Leib tatsächlich nicht aus Indien, sondern nachweislich von Paracelsus übernommen ist (physischer, Äther- und Astralleib sowie Ich bzw. Seele). Die Differenzen führten 1910 zum Ausschluss Steiners und des Großteils der deutschen Mitglieder aus der TG. Ab 1912 propagierte Steiner sein System als „Anthroposophie“.
Ab 1910 brachte er seine Lehre mittels sog. „Mysteriendramen“ auf die Bühne. Sie werden bis heute regelmäßig im dafür errichteten Goetheanum in Dornach aufgeführt (Holzbau 1913, nach einem Brand ab 1924 in Beton neu errichtet).
In den folgenden Jahren wandte Steiner die Anthroposophie auf immer mehr Gesellschaftsbereiche an, u. a. die Politik: Den Weltkrieg sah er als Auswirkung einer falschen Gesellschaftsordnung. Er empfahl eine „Dreigliederung des sozialen Organismus“: Kultur-, Staats- bzw. Rechts- und Wirtschaftsleben seien unabhängig voneinander zu organisieren und dabei Freiheit im Geiste, Gleichheit vor dem Recht, Brüderlichkeit in der Wirtschaft zu verwirklichen.
Politisch blieb dies wirkungslos, aber 1919 entstand hieraus die Idee einer neuen Art von Bildung, und es erfolgte die Gründung der ersten Freien Waldorfschule in Stuttgart (benannt nach einer Zigarettenfabrik, derzeit ca. 220 Schulen in Deutschland).
Ab 1921 wurde eine anthroposophische Medizin entwickelt („Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen“; Krankheiten haben psychische Ursachen: nicht Bazillen verursachen Krankheiten, sondern Bazillen sind da, weil der Körper krank ist; z. Zt. sechs Kliniken und ca. 4500 Ärzte; Dachverband: Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte in Deutschland, GAÄD).
Im selben Jahr entwarf Steiner eine anthroposophisch gestimmte Gottesdienstordnung, nachdem sich einige evangelische Theologen an ihn gewandt hatten. Hieraus entstand die bis heute bestehende „Christengemeinschaft“.
Ab 1924 wurde auf einem Gut nahe Breslau ein landwirtschaftliches System entwickelt, das die auf Pflanzen und Tiere wirkenden irdischen und kosmischen Kräfte wirksam machen sollte, die sogenannte „biologisch-dynamische Landwirtschaft“ (Demeter).
In all diesen Feldern ist die Anthroposophie bis heute aktiv und einflussreich.
Der kontrovers gesehene Übergang ab 1900
Ein zentraler Streitpunkt der Steiner-Forschung betrifft die Frage der Kontinuität seines Denkens in den verschiedenen Lebensphasen. Insbesondere in den Jahren 1900 bis 1902 bei seinem Übergang zur Theosophie divergieren historisch-kritische Analyse und anthroposophische Interpretation des Geschehens erheblich.
Für Steiner und seine Anhänger stellen seine frühen philosophischen Werke die Grundlegung der späteren „Geisteswissenschaft“ dar. 1918 schreibt er zur Neuausgabe der „Philosophie der Freiheit“: „Von einer ... geistigen Wahrnehmungswelt sprechen eine Anzahl der von mir nach diesem Buche veröffentlichten Schriften. Diese ‚Philosophie der Freiheit‘ ist die philosophische Grundlegung für diese späteren Schriften.“ Für die Anthroposophie gilt seit jeher dieses Selbstverständnis einer Kontinuität seines Denkens als gesetzt. Demnach gebe es eine mehr oder weniger gerade Linie von Steiners philosophischen Schriften in der Tradition des deutschen Idealismus vor 1900 zu seinen späteren theo- bzw. anthroposophischen Theorien. Deren Ursprünge seien eher idealistisch-philosophischer als esoterisch-okkulter Art (vgl. Traub). Diese Kontinuität zu behaupten, ist deshalb notwendig, weil die Anthroposophie bis heute den Anspruch der Wissenschaftlichkeit für sich erhebt. Nicht initiatorische Einweihung durch Meister wie in der Esoterik, sondern überprüfbare Erschließung übersinnlicher Erfahrungen sei hier der Weg.
Die akademische Steiner-Forschung bestreitet diese Kontinuität (z. B. Zander). Denn Steiners Schriften vor und nach der Hinwendung zur Theosophie sind in Stil und Charakter sehr verschieden, und seine zahlreichen Äußerungen über die Theosophie in den 1890er Jahren sind alle ausgesprochen ablehnend. Auch das Christentum sah der Nietzsche und Stirner verehrende selbsterklärte Anarchist damals als geradezu krankhafte Verirrung. Der neutrale Blick kann angesichts des späteren Beitritts zur TG und der Christus-Gnosis nur eine völlige Neuorientierung zwischen 1900 und 1902 feststellen.
Deren Motivation allerdings bleibt bis heute unklar. Geht es um eine Art anthroposophisches Damaskuserlebnis, eine Erweckung, die Steiner als „geistiges Gestanden-Haben vor dem Mysterium von Golgatha in innerster, ernstester Erkenntnis-Feier“ beschrieb? Zeitgenossen und ehemalige Weggefährten wiesen prosaisch darauf hin, dass Steiners Hinwendung zur Theosophie schlagartig seine materielle Lage verbesserte. Der zuvor hungernde, rhetorisch Hochbegabte hat sich damit ein wohlsituiertes bürgerliches Publikum erschlossen, das ihm erlaubte, fortan komfortabel von Vorträgen zu leben (ca. 6000 bis zu seinem Tod).
Steiner Kritische Ausgabe (SKA)
Seit 2013 erscheint im Wissenschaftsverlag Frommann-Holzboog in Kooperation mit dem Dornacher Steiner Verlag eine kritische Edition der Schriften Steiners (Steiner Kritische Ausgabe, SKA). Sie erwuchs aus dem Projekt einer offenen Online-Ausgabe von Steiners Schriften, das bei dem ehemaligen Waldorflehrer Christian Clement an der mormonischen Brigham Young Universität in Utah angesiedelt ist. Das Unterfangen einer historisch-kritischen Analyse Steiners wurde in Fachkreisen als Sensation gewertet, v. a. wegen der Kooperation offizieller anthroposophischer Stellen. Die bisherige vielbändige Gesamtausgabe des Steiner-Verlags war ganz im Geiste von Steiners Selbstdeutung gehalten gewesen und war eher der Erbauung als wissenschaftlicher Genauigkeit verpflichtet. In der SKA werden die Textfassungen verschiedener Auflagen, die Überarbeitungen von Steiners Hand und die vielen paraphrasierten und wörtlichen Übernahmen aus zeitgenössischer philosophischer und okkulter Literatur erstmals für die Öffentlichkeit dokumentiert. Gerade die Entdeckung von philosophischen, esoterischen und literarischen Quellen, Vorlagen und geistigen Einflüssen wird in anthroposophischer Literatur oft als Kritik und Plagiatsvorwurf missverstanden. Durch diese vielfachen Bezüge wird jedoch nur klar, wie fest Steiner in den Debatten und Strömungen seiner Zeit wurzelte, kreativ das Vorgefundene verarbeitete und popularisierte (z. B. die Vorstellung der okkulten „Vril“-Kraft, vgl. Strube). Dadurch werden seine geistigen Entwicklungen und Einflüsse jenseits esoterischer Selbstdeutung sichtbar. Von den avisierten acht Bänden sind bislang die Bände 2 und 5 bis 7 erschienen. Derzeit wird von Verlag und Herausgeber der SKA eine dazugehörige akademische Fachzeitschrift mit dem Titel „Metamorphoses“ für die kritische Forschung zu Werk und Person Rudolf Steiners vorbereitet.
Einschätzung
Steiner erhebt für seine „Geisteswissenschaft“ den Anspruch, jeder könne sich auch ohne hellsichtige Fähigkeiten von ihrer Wahrheit überzeugen, unabhängig davon, ob man seine Autorität als Sehender akzeptiere oder nicht. Diese scheinbare Freiheit zur Eigenprüfung und zum Sich-Überzeugenlassen durch „Erfahrung statt Glauben“ ist heute in der Esoterik Standard, steht aber unter dem Vorbehalt, dass es demjenigen, der nicht überzeugt werde, eben noch an Einsicht und Verständnisvermögen mangele. Mit diesem Zirkelschluss hängt die Gültigkeit der Anthroposophie wie jeder anderen Religion letztlich auch davon ab, ob man an die Autorität des Mitteilenden glaubt oder nicht. Dementsprechend genießt Steiner unter seinen Anhängern auch religiöse Verehrung. Steiners mystische Christusinterpretation ist im Grundsatz und im Detail (Matthäus- und Lukasevangelien beschreiben zwei verschiedene Jesusknaben; im Alten Testament sind sechs Elohim von einem Jahwe zu unterscheiden usw.) ebenso weit vom historischen Jesus wie von der ökumenischen Christenheit entfernt und kann nur als eine mit Offenbarungsanspruch vorgetragene alternative Weltanschauung oder Religion verstanden werden.
Kai Funkschmidt, November 2017
Quellen
Clement, Christian (Hg.): Steiner Kritische Ausgabe (SKA), Stuttgart 2013ff, 8 Bde. (www.steinerkritischeausgabe.com)
Steiner, Rudolf: Gesamtausgabe (GA), Dornach 1955ff, 340 Bde.
Steiner, Rudolf: Schriften online: http://anthroposophie.byu.edu
Das Goetheanum, Wochenschrift für Anthroposophie, Dornach (seit 1921)
Info3. Zeitschrift zur Erneuerung von Wissenschaft, Kunst und sozialem Leben, Frankfurt a. M. (seit 1976)
Sekundärliteratur
Barz, Heiner: Anthroposophie im Spiegel von Wissenschaftstheorie und Lebensweltforschung, Weinheim 1994
Fincke, Andreas (Hg.): Anthroposophie – Waldorfpädagogik – Christengemeinschaft. Beiträge zu Dialog und Auseinandersetzung, EZW-Texte 190, Berlin 2007
Freimark, Hans: Moderne Theosophen und ihre Theosophie, Leipzig 1912
Hammer, Olav: Claiming Knowledge. Strategies of Epistemology from Theosophy to the New Age, Leiden 2001
Oppholzer, Siegfried: Anthropologie und Pädagogik bei Rudolf Steiner, in: Paedagogica Historica 2 (1962), 287-350
Staudenmaier, Peter: The Higher Worlds meet the Lower Criticism. New Scholarship on Rudolf Steiner, in: Correspondences 3 (2015), 93-110
Strube, Christoph: Vril. Eine okkulte Urkraft in Theosophie und esoterischem Nationalsozialismus, München 2013, insbes. 77-79, 94f.
Traub, Hartmut: Philosophie und Anthroposophie. Die philosophische Weltanschauung Rudolf Steiners – Grundlegung und Kritik, Stuttgart 2011
Treml, Alfred: Träume eines Geistersehers oder Geisteswissenschaft? Die Erkenntnistheorie Rudolf Steiners, in: Zeitschrift für Entwicklungspädagogik 10 (1987), 17-24
Wichmann, Jörg: Das theosophische Menschenbild und seine indischen Wurzeln, in: ZRGG 35 (1983), 12-33
Zander, Helmut: Rudolf Steiner. Die Biografie, München 2011
Zander, Helmut: Anthroposophie in Deutschland. Theosophische Weltanschauung und gesellschaftliche Praxis, 2 Bde., Göttingen 2007