Sufismus (islamische Mystik)
Sufi-Musik, Sufi-Tanz, Sufi-Kalligrafie – ob es um tanzende Derwische als Folklore oder um meditative Versenkung auf dem Weg zur reinen Gottesliebe geht: Der Sufismus („islamische Mystik“, arab. tasawwuf) ist auch in unseren Breiten zu einer bekannten und beliebten Größe in der religiösen Landschaft geworden. Gegenüber extremistischen oder starr orthodoxen Strömungen im Islam erscheint er manchen als liberale Alternative, die anderen religiösen Überzeugungen versöhnlich zu begegnen imstande ist. Dabei ist der Begriff alles andere als eindeutig. Es werden sehr unterschiedliche religiöse Phänomene damit zusammengefasst, die nicht an bestimmte Institutionen, ja nicht einmal an den Islam als Religion gebunden sein müssen.
Zur geschichtlichen Entwicklung
Die frühen frommen Asketen wurden nach ihren Gewändern aus grober Wolle (arab. suf) Sufis genannt. (Die Ableitung des Wortes aus safa = Reinheit oder griech. sophos = weise in Selbstdarstellungen hat inhaltliche Gründe.) Schon früh suchte man, nicht zuletzt in Berührung mit dem christlichen Mönchtum, den verborgenen Sinn des Korans über die Glaubenspflichten hinaus durch asketische Übungen und Armut (pers. darwisch = der Arme) zu ergründen und den Islam zu verinnerlichen.
Im heutigen Irak liegen die Anfänge der Bewegung, die auch Frauen in großer Zahl kennt, so z. B. Rabi’a al-Adawiyya von Basra (gest. 801), die die reine Gottesliebe in den Mittelpunkt stellte, und Fatima von Nischapur (gest. 849), die auch von großen Mystikern um Rat gefragt wurde.
Berühmt wurde Mansur al-Halladsch, der „Märtyrer der Gottesliebe“, der seine ekstatische Erfahrung mit dem Ausruf ana l-haqq „Ich bin die Wahrheit“ umschrieb und dafür im Jahre 922 grausam hingerichtet wurde. Besondere Bedeutung hat das Werk des Persers Abu Hamid Muhammad al-Ghazali (gest. 1111) erlangt. Es begründete die Vereinbarkeit von Sufismus und orthodox-islamischer Theologie und trug entscheidend dazu bei, dass sich Sufis trotz aller neuplatonischen, iranischen, indischen und volksreligiösen Einflüsse islamisch legitimieren konnten. Freilich blieb die Skepsis der orthodoxen Mullas und Ulemas und schlug auch immer wieder in Ablehnung um. Diese traf besonders pantheistisch empfundene Lehren wie die des Spaniers Muhyiddin Muhammad Ibn al-Arabi (gest. 1240), der in einer theosophischen Einheitsschau die Einheit alles Seienden lehrte und heute vielen als Vorbild der Toleranz gilt. Über die Poesie gewann der Sufismus großen Einfluss insbesondere auf das Persische durch bedeutende Dichter wie Maulana („unser Meister“, türk. Mevlana) Dschalal ad-Din Rumi (gest. 1273 in Konya) und Hafis (gest. um 1390) sowie auf das Türkische durch Yunus Emre (gest. ca. 1321).
Überall in der islamischen Welt entstanden ab dem 12. Jahrhundert „Sufi-Orden“ (arab. tariqa = Pfad, Weg, Lebensregel), die – je nach Prägung mehr weltverneinend oder weltbejahend – mit Musik und ekstatischem Wirbeltanz oder ganz auf die Lehrunterweisung zwischen Meister und Schüler (suhba oder sohbet) ausgerichtet auf je eigene Weise den Aufstieg der Seele (nafs) zur höchsten Gotteserkenntnis lehren. Die Orden sind meist nach ihren Gründern benannt, wie zum Beispiel der Mevlevi-Orden nach Mevlana Rumi, die Naqschbandiyya nach Baha’uddin Naqschband (gest. 1389), die Burhaniyya nach dem Sudanesen al-Burhani (gest. 1983). Große Sufis werden als Heilige (Gottesfreunde, arab. auliya) verehrt, ihre Grabstätten als Wallfahrtsorte besucht, die Nachkommen – es gibt keinen Zölibat – bilden häufig Dynastien.
Zwar beeindruckte die arabisch-persische Gedankenwelt der Sufis Denker und Dichter wie Goethe und Rückert oder auch den Erweckungstheologen F. A. G. Tholuck, doch kam der Sufismus erst Anfang des 20. Jahrhunderts im Westen an – in Gestalt der von dem Inder Inayat Khan (gest. 1927) gegründeten universalreligiösen „Sufi-Bewegung“, die Sufismus nicht primär islamisch, sondern gleichsam als die Essenz aller Religion versteht. Die religionsverbindende „Botschaft von Liebe, Harmonie und Schönheit“ dieses Neo-Sufismus richtet sich als universelle Weisheit, die älter ist als die geschichtlichen Religionen, an alle Menschen. Ähnliches wurde auch von Idries Schah (gest. 1996) propagiert. Hier öffnet sich ein weites Feld kreativ-spekulativer Patchworkreligiosität mit stark esoterisch-gnostischem Einschlag, die Sufi-Frömmigkeit mühelos in den Markt esoterischer Angebote einreiht und losgelöst vom Islam als spirituellen Pfad zur Erleuchtung anpreist.
Traditionelle Sufi-Orden fanden ab den 1970er Jahren verstärkt deutsche Anhängerschaft, die sich aber weitgehend unabhängig von den „Diasporagemeinden“ der Migranten organisiert und nichts mit der universalreligiösen Variante zu tun hat.
Aspekte der traditionellen Lehre und Praxis
Der Sufi versteht sein Leben als Weg, mit Hilfe der Anleitung seines spirituellen Meisters alles Weltliche zu überwinden, das ihn von Gott trennt. Durch Gebet, Meditation und asketische Übungen strebt er die niedere Triebseele (nafs) zu transformieren und letztlich mit Gott eins zu werden (tauhid). Das Ziel kann als Eingehen in die absolute Existenz Gottes durch Hingabe an Gott (islam) und als Bleiben (baqa) in der mystischen Vereinigung mit Gott beschrieben werden. Daher spielt die Braut- und Liebesmetaphorik eine große Rolle. Für den Sufi gehört die vollkommene Liebe zu Gott zu den höchsten Stufen des mystischen Pfades. Dieser Weg hat (mindestens) drei Stufen: schari’a (islamisches Gesetz), tariqa (der mystische Pfad) und haqiqa (Wahrheit), die in die vollkommene Erkenntnis (ma’rifa, „Gnosis“) mündet. Einige Gemeinschaften sehen in den Stufen gleichsam Dimensionen, die aufeinander aufbauen (und damit die Scharia bleibend zur Grundlage haben), andere verstehen sie als aufeinander folgende, jeweils zu überwindende Stufen.
Der Pfad ist lang und beschwerlich, und man geht ihn am besten in Gemeinschaft. Schon früh wurden aus der Koranmeditation Techniken der mystischen Versenkung entwickelt und – später in Handbüchern – „Stationen“ (maqamat) und „Zustände“ (ahwal) des Weges des Adepten bis zur glückseligen „Entwerdung“ (fana) in der Schau Gottes bzw. in der absoluten Wirklichkeit beschrieben. Wichtige Schritte auf dem Weg geschehen durch Gebet, dhikr („Gottesgedenken“, indem in unterschiedlichen Ausprägungen teilweise laut schreiend oder leise meditierend mantraartig verschiedene Gottesnamen wiederholt werden), vielfach auch durch sama’ („Hören“, das Musik, mystische Konzerte oder auch Tänze wie den berühmten Wirbeltanz der Mevlevi-Derwische umfasst) – und im Alltag durch Erfüllung der Pflichten in absolutem Gottvertrauen.
Dem Meister (Scheich, Pir) gebührt unbedingter Gehorsam, denn er (allein) verfügt über die nötige Reife der Erkenntnis, die ihn in die bis auf den Propheten Muhammad zurückreichende Kette der geistigen Autoritäten (silsila) einreiht. Durch sie ist er befähigt, den Schüler (murid) in den mystischen Pfad einzuweihen. Am Anfang steht in der Regel als Initiationsritual die bai’a (Treueschwur), auch als „Bund-Nehmen“ bezeichnet. Auch wenn die Zirkel der tatsächlich Eingeweihten zahlenmäßig nicht ins Gewicht fallen, prägen die bestehenden weiteren Anhängerkreise den Islam und vor allem den sogenannten Volksislam in hohem Maße – dies auch da, wo die Orden wie in der Türkei offiziell verboten sind.
Zur gegenwärtigen Lage
1. Die größte Sufi-Gemeinschaft im deutschsprachigen Raum ist die Naqschbandiyya, die als ausgesprochen schariakonformer Sufi-Orden gilt. Die hierzulande breiteste Strömung untersteht der Autorität von Scheich Nazim Adil al-Haqqani (geb. 1922) mit Sitz in Lefke/Nordzypern, daher auch Haqqaniyya genannt. Unter der weltweiten Anhängerschaft sind viele amerikanische und europäische Konvertiten, darunter mehrere tausend Deutsche. Der Koran und die Sunna des Propheten (die Überlieferungen seiner Lebensweise) gelten als unverzichtbare Grundlagen islamischer Lebensführung. So fallen die Naqschbandi-Schüler durch den traditionellen Turban und die Pumphosen ebenso auf wie durch strikte Geschlechtertrennung und konservativ-islamische Frömmigkeit. Dazu kommen Heiligenverehrung, die Erwartung des nahen Weltendes und eine spezielle rituelle Meditationsübung der Herzensbindung an den Scheich. Mit der in Kall-Sötenich in der Eifel gelegenen „Osmanischen Herberge“ betreiben Ordensanhänger seit 1995 eines der führenden Sufismus-Zentren Deutschlands. Gründer und Leiter ist Scheich Hassan P. Dyck, Stellvertreter Scheich Nazims in Deutschland. Hier finden nicht nur interne Treffen statt, sondern auch Seminare und Konzerte bis hin zum sommerlichen Sufi-Soul-Festival.
2. Jüngste Entwicklungen zeigen, dass sich traditionelle Sufis für den Esoterikmarkt öffnen und diesen nutzen, um Interessenten anzusprechen. So vertritt der Berliner Naqschbandi-Verein Der wahre Mensch um Scheich Esref Efendi und dessen Bruder zwar im Kern ein rigides Islamverständnis (sie nennen sich auf der türkischen Website „Die Neuen Osmanen“), nimmt aber in der Internetpräsenz und in der Palette der Angebote Elemente des marktförmigen Neo-Sufismus auf. Ob es sich von vornherein um die umgekehrte Bewegung handelt, dass esoterische Angebote mit Sufi-Ingredienzien angereichert werden, ist hier freilich schwer zu entscheiden.
3. Es ist umstritten, ob die Anhänger von Süleyman Hilmi Tunahan (gest. 1959), der selbst Naqschbandi war, einen Sufi-Orden bilden. Die Süleymancilar, die in Europa im Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ) organisiert sind, pflegen zwar die enge Herzensverbindung mit dem Scheich, sehen sich selbst jedoch nicht als tariqa. Es fehlt auch das lebende spirituelle Oberhaupt.
Auch die Nurculuk-Bewegung im Anschluss an den türkischen Reformer Said Nursi weist sufische Elemente auf, hat aber nicht die institutionellen Strukturen eines Ordens. Eine bedeutende Abspaltung dieser Richtung mit wachsendem Einfluss vor allem im Bildungsbereich ist die Anhängerschaft des charismatischen Predigers Fethullah Gülen (geb. 1938/1941?, heute in USA).
4. Die Mevleviyye, der Orden der „Tanzenden Derwische“, hat in Deutschland zwei beachtliche Zentren: den Mevlana e. V. Nürnberg (Scheich Süleyman Wolf Bahn) und die Trebbuser Mevlevihane (Trebbuser Derwischkonvent) mit Scheich Abdullah Halis Dornbrach (geb. 1945) an der Spitze und dem in Trebbus geführten Institut für Islamstudien – Sufi-Archiv Deutschland. Leben und Lehre sind eng am rituellen Islam, an der Sunna und der „guten Sitte“ (adab) orientiert.
5. Mit der Tariqah as-Safinah besteht seit 1983 ein Zweig des nordafrikanischen Alawiya-Ordens in Deutschland. Unter der Führung von Scheich Baschir Ahmad Dultz (geb. 1935), der zugleich Gründer und Vorsitzender der Deutschen Muslim-Liga Bonn ist, wird auf der Grundlage eines liberalen Islamverständnisses vor allem auf den interreligiösen Dialog Wert gelegt und auf die politische Dimension (Integration, Rechte für die islamische Minderheit) aufmerksam gemacht.
Stellungnahme
Die Sehnsucht nach mystischer Erfahrung und umfassender Geborgenheit, nach Versinken in der Gottesliebe oder nach Einssein mit sich und der Welt wird als solche wohl in allen Religionen ähnlich erlebt und beschrieben. Oft wird das auf Harmonie und unmittelbare Gotteserfahrung ausgerichtete Streben als frei von dogmatischen Bindungen erlebt und deshalb als besonders tolerant empfunden. Der Eindruck der „Machbarkeit“ (und damit auch Sicherung) des eigenen Heils durch ein erlernbares „Programm“ in dieser oder jener Form eines mystischen Stufenweges steigert die Attraktivität. Einseitige Wahrnehmungen im Kontext individualisierter Patchworkreligiosität und zeitgeistiger Idealisierungen liegen hier offenbar nahe.
Im Blick auf den traditionellen Sufismus entspricht das Urteil, es handle sich um eine besonders liberale und damit tolerante Strömung des Islam, mehr der Bedürfnislage „westlicher“ Orientierungssuchender als der Wirklichkeit. Es gibt, wie erwähnt, Ausnahmen, doch ist der Sufismus in aller Regel mitnichten kultlose Spiritualität, sondern streng reglementierte Intensivierung des spirituellen Erlebens auf der Basis gewissenhafter Ritenerfüllung.
Handelt es sich um neo-sufistische Esoterik, so ist nicht der Islam im Blick, sondern der Esoterikmarkt, der mit seinen Heils- und Heilungsversprechen eigene Abhängigkeitsstrukturen ausbilden kann. Zu Beziehungen mit erheblichem persönlichem und sozialem Konfliktpotenzial neigen Personen, die, fasziniert von der Exotik der religiösen Erfahrung, mit dem „Meister“ wie mit einem Guru eine enge spirituelle und emotionale (und/oder finanzielle) Bindung eingehen, die für immer weniger anderes Raum lässt. Auch auf diese Weise kann die vordergründig propagierte Idee von Harmonie und Toleranz ihre Grenze finden.
Friedmann Eißler, Januar 2009
Literatur
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