Swedenborg, Emanuel
Der Schwede Emanuel Swedenborg (1688 – 1772) war bereits ein international berühmter Gelehrter, als er in der Lebensmitte nach einer Berufungsvision durch Christus seine wissenschaftlichen Forschungen für immer beiseitelegte, um seine letzten 27 Lebensjahre mit der Niederschrift von Visionen und Gesprächen mit Geistern und Engeln zu verbringen, denen er in überweltlichen Sphären begegnete. Er gilt als geistiger Vorbereiter nachfolgender Neuoffenbarungsreligionen, des neuzeitlichen Okkultismus, des New Age und der Esoterik.
Leben
Emanuel Swedberg wurde am 29. Januar 1688 in Stockholm als Sohn des Hofpredigers, Theologieprofessors und- nachmaligen Bischofs der lutherischen Staatskirche Jesper Swedberg geboren. Den Namen Swedenborg erhielt er 1719 mit der Erhebung in den Adelsstand.
Der junge Swedberg zeichnete sich durch unstillbaren Wissensdurst aus. Auf ausgedehnten Europareisen erlernte er Buchbinderei, Schreinerei, Glasschleifen und diverse weitere Handwerke nebenbei, derweil er sich hauptsächlich mit verschiedensten Forschungen, zunächst mit Astronomie, Mathematik, Geologie und Ingenieurswissenschaften, ab 1734 auch mit den organischen Naturwissenschaften (u. a. Physiologie und Hirnforschung) befasste. Der schwedische König machte den 28-Jährigen 1716 zum Bergwerksassessor. Verschiedene Faktoren, u. a. sein durch die spätere Rolle als Seher zweifelhafter Ruf, trugen dazu bei, dass Swedenborgs wissenschaftsgeschichtliche Rolle weniger Beachtung findet als angemessen. Bei dieser Einschätzung handelt es sich nicht nur um die glorifizierende Rückschau seiner Anhänger, sondern um das Urteil der Zeitgenossen. Kurt Hutten konstatierte in „Seher, Grübler, Enthusiasten“: „Hätte es in seiner Zeit schon den Nobelpreis gegeben, er wäre ihm mehrfach verliehen worden“ (12. Aufl. 1982, 561). Allerdings muss Swedenborg feststellen, dass alle Gelehrsamkeit ihn einem Verständnis dessen, was die Welt im Innersten zusammenhält, nicht näherbrachte.
Da beginnt 1744/45 im Alter von 57 Jahren sein zweites Leben. Aufgrund von Gesichten ist er überzeugt, dass ihm Gott Zugang zur Jenseitswelt gewährt hat. Fortan gewinnt er, durch Gespräche mit Engeln und Geistwesen, die ihm Einsicht in die wirklichen Verhältnisse der Welt und des Göttlichen geben, umfassende Klarheit über die jenseitigen Wirklichkeiten. Dabei pflegt er vertrauten Umgang mit vielen berühmten Verstorbenen, darunter diversen Reformatoren, wobei Luther seine Rechtfertigungslehre aufgibt und die Swedenborg’sche Alternative akzeptiert. Alle diese Erfahrungen schreibt Swedenborg auf Lateinisch nieder. So entstehen seine viele Tausend Seiten umfassenden Werke, u. a. „Himmlische Geheimnisse“ (1749 – 1756), „Himmel und Hölle“ (1758) und „Die wahre christliche Religion“ (1771).
Dabei wurde Swedenborg aber keineswegs zum zurückgezogenen Sonderling, sondern blieb ein gern gesehenes Mitglied der Gesellschaft, verkehrte mit Königshof und Erzbischof, korrespondierte mit den Größten seiner Zeit. Selbst Immanuel Kant zeigte sich anfangs hoch interessiert. Erst als dieses Interesse Kants eigene Reputation in Mitleidenschaft zu ziehen drohte, markierte er mit der Publikation der „Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik“ (1766) eine scharfe Swedenborgkritik und methodische Zäsur, die seine Einstellung zur Metaphysik nachhaltig veränderte. Das Verhältnis zwischen Kant und Swedenborg ist bis heute Gegenstand der Wirkungsforschung zu Swedenborg. Aber auch in der Kirche fand Swedenborg Gehör: Der württembergische Pietist Friedrich Christoph Oetinger (1702 – 1782) z. B. distanzierte sich nie von Swedenborg und wurde sein erster Übersetzer ins Deutsche. Die mächtige schwedische Staatskirche erreichte zwar zur Eindämmung seiner Lehrtätigkeit 1769 ein Einfuhr- und Verbreitungsverbot seiner Schriften – er hatte sie schon vorher nur im Ausland drucken lassen –, aber die Konflikte führten nie zum Kirchenausschluss oder zu Maßnahmen gegen ihn selbst. Swedenborg starb am 29. März 1772 in London und wurde in der dortigen schwedischen Kirche bestattet. 1908 wurden seine Gebeine nach Stockholm überführt, 2005 nahm die UNESCO seine Handschriften ins Verzeichnis des Weltkulturerbes auf.
Lehre
„Daß das Wort des Alten Testaments Geheimnisse des Himmels enthält, und daß alles und jedes (in ihm) eine Beziehung hat auf den Herrn, Seinen Himmel, die Kirche, den Glauben und das was zum Glauben gehört, ersieht kein Sterblicher aus dem Buchstaben; denn aus dem Buchstaben oder dem Sinne des Buchstabens sieht niemand etwas anderes, als daß es im allgemeinen sich beziehe auf das Äußere der jüdischen Kirche, während doch überall ein Inneres ist, das nirgends offen vorliegt ... Daß aber alles und jedes, ja das allereinzelnste, bis zum kleinsten Jota, Geistiges und Himmlisches bezeichnet und in sich schließt, darüber ist die Christenheit noch in tiefer Unkunde ... Daß aber dem so ist, kann kein Sterblicher je wissen, außer aus dem Herrn; daher vorläufig kund werden mag, daß vermöge der göttlichen Barmherzigkeit des Herrn (mir) vergönnt worden ist, schon einige Jahre lang fortwährend und ununterbrochen im Umgang mit Geistern und Engeln zu sein“ (Himmlische Geheimnisse, 1f).
Mit diesen Sätzen beginnen die „Himmlischen Geheimnisse“. Sie skizzieren Swedenborgs Programm. Er verstand demnach seine Berufung im Rahmen eines bibelgegründeten christlichen Glaubens, und zwar in Form der Enthüllung eines verborgenen Sinnes der Bibel, der hinter dem vordergründigen Textsinn liege.
Zu den Grundgedanken gehört die Möglichkeit des Fortschritts nach dem Tode und das Fortwirken menschlicher Liebe im Jenseits, womit die Liebe eines Menschen gemeint ist, die ihn jeweils zum Guten oder zum Schlechten zieht und die im Jenseits durch ihre Übersteigerung dem Menschen zu einer Fortexistenz im Glück oder in Trübsal wird. Wer hier das Gute liebte, tut dies dort umso mehr und umgekehrt. Dies bedeutet, dass das „Gericht“ in Gestalt eines Tun-Ergehen-Zusammenhangs direkt nach dem Tode stattfindet. Hier macht der Mensch die Erfahrung, dass ihm seine Prägung zum „Gericht“ wird. Es richtet also kein zürnender oder gnädiger Gott, sondern die Folge der vorfindlichen Lebensführung wird festgestellt.
Daher wird auch die Sühnetheologie als Deutung des Kreuzes hinfällig. Die Rechtfertigungslehre geht für Swedenborg von der falschen Voraussetzung des unfreien Willens und der Idee eines zornigen, sühnebedürftigen Gottes aus, der die menschlichen Tatfolgen im Jenseits außer Kraft setze. Auch die traditionelle Trinitätslehre lehnt Swedenborg als Dreigottglaube und vernunftwidrig ab, ersetzt sie durch ein modalistisch-essentialistisches Modell (die drei „Personen“ sind Ausdruck von Wesenszügen Gottes).
Die Religionsgeschichte sieht er als dispensationalistische Aufeinanderfolge einer Abwärtsspirale von fünf Zeitaltern, in welchen sich die Menschheit auf jeweils neue Weise weiter von Gott entfernte. Das Tun des Bösen prägt sich dem jeweiligen Menschen ein und wirkt nicht nur nachtodlich (s. o.), sondern es wird ihm zur Natur, die er vererbt. Das Böse wird also nicht von Adam geistlich an alle Menschen, sondern von den Eltern jeweils an die Kinder vererbt, sodass sich dieses „Erbböse“ im Laufe der Zeit vervielfältigt. Daher ist die menschliche Geschichte ein steter Niedergang. Mit seinem eigenen Auftreten sieht Swedenborg den Anbruch des Ziels gekommen, nämlich der neuen und abschließenden Offenbarung. Dieses ist die „Neue Kirche“ im Zeichen des Heiligen Geistes, das endzeitlich herabsteigende himmlische Jerusalem (Offb 21).
Nachwirkungen und Einschätzung
Swedenborg ist in der Theologie wenig rezipiert und erforscht worden, die Zahl organisierter Anhänger war immer überschaubar, was diverse Spaltungen nicht verhinderte. Er selbst hatte gar keine Gemeinschaft gebildet, doch seine Anhänger gründeten 1782 in London die „Neue Kirche“, bald folgten Gemeinden in den USA und im 19. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum. Seit Längerem schrumpfen die ohnehin kleinen und überalterten Gemeinden. Viele Mitglieder gehören zugleich evangelischen Landeskirchen oder der katholischen Kirche an. Einen hauptamtlichen Pfarrer gibt es im deutschsprachigen Bereich nur noch im „Swedenborg Zentrum Zürich“.
Die Gemeinden verstehen sich nicht als die eigentliche „Neue Kirche“, sondern als Werkzeuge, die diese vorbereiten. Die endzeitliche Neue Kirche bildet sich durch das Einfließen neuer Spiritualität vom Himmel in die bestehenden Kirchen und Religionen. Heute stellen einige Swedenborgianer, zum Beispiel der swedenborgianische Pfarrer und evangelische Theologe Thomas Noack (Zürich), eine enge Verbindung zu einem hundert Jahre jüngeren Neuoffenbarer, dem „Schreibknecht Gottes“ Jakob Lorber (1800 – 1864) her. Da keine engere literarische Verwandtschaft beider nachweisbar ist, dürfte dahinter auch das Interesse stehen, die Glaubwürdigkeit der jeweiligen Visionen zu erhöhen, weil ja beide Männer unabhängig voneinander zu ähnlichen Einsichten gekommen sein müssten. Das neue Interesse der Lorber-Anhänger an Swedenborg ist allerdings unter den Swedenborgianern durchaus umstritten.
Wichtiger als die organisatorische ist Swedenborgs geistige Wirkung, die, wie gesehen, trotz des kirchlichen Widerstands schon zu Lebzeiten einsetzte. Insbesondere in der Literatur wurde er rezipiert (Goethe, Balzac, Walt Whitman, Ralph Waldo Emerson, zuletzt Martin Walser 2011 im Roman „Muttersohn“).
Swedenborg war ein Zeitgenosse von Pietismus und Aufklärung – und suchte einen dritten, direkten Weg im Ringen um Aufschluss über Welt und Gott, wobei nach seinem Verständnis dieser Weg sowohl aufgeklärt-vernünftig wie wahrhaft christlich ist. Er ist damit Vorläufer für viele Elemente moderner neureligiöser Phänomene, die hier nur in Auswahl stichpunktartig zu nennen sind:
- „Erweitertes“ Verständnis von Wissenschaft: „Swedenborg – Forscher im Diesseits und im Jenseits“ lautet der Titel eines Informationsfilms seiner Anhänger. Demnach ist der Zugang zum Jenseits zwar anders („komplementär“), aber prinzipiell ebenso wissenschaftlich wie der zum Diesseits. Kurt Hutten nannte seine Schriften wohl auch in Swedenborgs Sinne „Aufklärungswerke“. Swedenborg unterscheidet sich von modernen Esoterikern allerdings dadurch, dass er sich ernsthaft mit der säkularen Wissenschaft beschäftigt hatte, bevor er sie als unzureichend überstieg.
- Synthetisierend-universalistische Integration aller vorfindlichen religiösen Vielfalt, denn alle Religionen sind in der neuen Offenbarung aufgehoben und überboten. Jede konkrete Religiosität ist neben der universalen Schau nur ein vorläufiger, verengter Zugang und ihr unterlegen.
- Höherbewertung der individuellen Erfahrung gegenüber organisierter Religion: „Der weltliche und fleischliche Mensch spricht in seinem Herzen: Wofern ich nicht über den Glauben und über das, was Sache des Glaubens ist, belehrt werde durch Sinnliches, daß ich es sehe, oder durch Wissenschaftliches, daß ich es verstehe, so werde ich nicht glauben“ (Himmlische Geheimnisse, 128).
- Individueller Entwicklungsgedanke und Fortschrittsoptimismus (sogar im Jenseits).
Zwar findet sich das meiste hiervon bei Swedenborg noch in christliches Vokabular gekleidet, das seine Nachfolger in Theosophie, Okkultismus und säkularer Esoterik schrittweise aufgegeben haben. Doch wird deutlich, dass bei ihm ein auf der Bibel beruhender christlicher Glaube nur noch schemenhaft erkennbar ist und durch zusätzliche Erkenntnisquellen ersetzt wurde, die ihrerseits nicht an der Bibel zu prüfen sind, sondern auf Glauben (an Swedenborgs „Wissen“) hin angenommen werden müssen. Alle zentralen Inhalte evangelischen Glaubens, u. a. Gotteslehre, Rechtfertigungslehre, Kreuzestheologie, sind hier völlig anders gefüllt. Dieses neue Verständnis ermächtigt zwar den modernen Menschen zum Schweben über den weltlichen und religiösen Dingen und damit zu einer gottgleichen Perspektive, ist aber nur noch im Allgemeinsten als Spielart christlichen Glaubens einzuordnen. Insofern sind die ökumenisch sehr offenen Einschätzungen, welche die VELKD im Standardwerk „Handbuch Religiöse Gemeinschaften und Weltanschauungen“ vornimmt (u. a. Taufanerkennung, Zulassung zum Patenamt, Abendmahlsteilnahme, Doppelmitgliedschaft), überraschend und schwer nachvollziehbar.
Kai Funkschmidt, Juni 2014
Sekundärliteratur
Benz, Ernst, Swedenborg in Deutschland. F. C. Oetingers und Immanuel Kants Auseinandersetzung mit der Person und Lehre Emanuel Swedenborgs nach neuen Quellen bearbeitet, Frankfurt a. M. 1947
Benz, Ernst, Swedenborg in Deutschland. Naturforscher und Seher, München 1948
Hanegraaff, Wouter, Swedenborg aus der Sicht von Kant und der akademischen Kantforschung, in: Stengel, Friedemann (Hg.), Kant und Swedenborg. Zugänge zu einem umstrittenen Verhältnis (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 38), Tübingen 2008, 157-172
Heinrichs, Michael, Emanuel Swedenborg in Deutschland. Eine kritische Darstellung der Rezeption des schwedischen Visionärs im 18. und 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1979
Jonsson, Inge, Die Swedenborgforschung: ein persönlicher Überblick, in: Stengel, Friedemann (Hg.), Kant und Swedenborg. Zugänge zu einem umstrittenen Verhältnis (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 38), Tübingen 2008, 1-11
Noack, Thomas, Der Seher und der Schreibknecht Gottes. Emanuel Swedenborg und Jakob Lorber im Vergleich, Konstanz 2004
Ruppert, Hans-Jürgen, Swedenborg und die „neue Religiosität“, in: Hempelmann, Reinhard/Dehn, Ulrich (Hg.), Dialog und Unterscheidung. Religionen und neue Religiosität im Gespräch (FS Reinhart Hummel), EZW-Texte 151, Berlin 2000, 108-116
Quellen
Swedenborg, Emanuel, Himmlische Geheimnisse, die in der Heiligen Schrift, dem Worte des Herrn, enthalten und nun enthüllt sind, 9 Bde., Zürich 1975 [Arcana coelestia, London 1749 – 1756]
Swedenborg, Emanuel, Die wahre christliche Religion, 4 Bde., Zürich 1960 [Vera christiana religio, Amsterdam 1771] Schriften lateinisch: www.baysidechurch.org/writings; Schriften deutsch: www.wlb-stuttgart.de/referate/theologie/swedvotx.html; Schriften englisch-lateinisch: www.e-swedenborg.com
Zeitschriften
New Church Life (1881ff), online unter www.heavenlydoctrines.org
Offene Tore – Beiträge zu einem neuen christlichen Zeitalter (1957ff)
Studia Swedenborgiana (1974 – 2005), online unter www.baysidechurch.org/writings
The New Philosophy (Swedenborg Scientific Association, 1998ff), online unter http://swedenborg-philosophy.org
Internet
www.swedenborg.ch (Swedenborg Zentrum Zürich und Neue Kirche der deutschen Schweiz)
www.swedenborg.de (Swedenborg Zentrum Berlin und Neue Kirche in Deutschland e. V.)