Theosophie
„Keine Religion ist größer als die Wahrheit.“ Dieses Zitat, das sich als Schriftzug um mehrere religiöse Symbole rankt (u. a. Ankh-Kreuz, Swastika, nicht das christliche Kreuz), ziert heute das Logo der „Theosophischen Gesellschaft Adyar“, der gegenwärtig größten theosophischen Organisation. Es fasst Anspruch und Weltsicht der Theosophie (wörtlich „Gottesweisheit“) zusammen. Sein Ursprung weist auf die prägende Gründergestalt der Theosophie hin: Es entstammt Helena Blavatskys Werk „The Secret Doctrine“ (Die Geheimlehre) von 1888. Die Theosophie versteht sich selbst nicht als Religion, beansprucht aber, mithilfe der Weisheiten, die ihre eingeweihten Führer von „Höheren Meistern“ erhalten haben, Erkenntnis von der vollkommenen Wahrheit hinter bzw. über allen real existierenden Religionen zu haben. Auch wenn die organisierte Theosophie heute eher ein zahlenmäßig kleines Phänomen ist, so ist doch ihr Einfluss auf die moderne Esoterik enorm gewesen. Man kann sagen, dass New Age und Esoterik im Hinblick auf Inhalte und Formen die popularisierten Kinder der Theosophie sind, sodass deren Bedeutung für die gegenwärtige Religionskultur kaum zu überschätzen ist.
Geschichte und Verbreitung
Die Theosophie entstammt dem Spiritismus des 19. Jahrhunderts. Sie lässt sich vor allem in ihrer Frühzeit nicht von den Biografien ihrer Gründergestalten trennen. Hier ist allen voran die aus deutsch-russischem Adel stammende Helena Petrovna Blavatsky (1831 – 1893) zu nennen. Sie entfloh mit 17 Jahren ihrer Ehe und begab sich jahrzehntelang auf ein Wanderleben durch viele Länder und Kontinente, das sie später mit allerlei Legenden umwob. 1874 ließ sie sich in New York nieder, wo sie den späteren Mitgründer der Theosophischen Gesellschaft, den Rechtsanwalt und Journalisten Henry Steel Olcott (1832 – 1907), kennenlernte. Zuvor hatte sie sich seit vielen Jahren als spiritistisches Medium betätigt. Allerdings befand sich der Spiritismus nach einer kurzen Erfolgswelle ab Mitte des Jahrhunderts durch diverse prominente Betrugsfälle und weil er nie nachprüfbare Belege für seine Wirksamkeit bringen konnte, zu diesem Zeitpunkt schon im Abschwung. 1875 beschlossen Blavatsky und Olcott daher, anstelle der Geisterbeschwörungen nach den Grundlagen des verborgenen (okkulten oder esoterischen) Wissens über den Urgrund der Welt, nach „göttlicher Weisheit“ zu suchen. Zu diesem Zweck gründeten sie in New York die „Theosophical Society“ (Theosophische Gesellschaft). Okkultes Wissen eignete man sich zum einen durch religionswissenschaftliche Studien westlicher und östlicher Herkunft an (der Aufbau einer umfangreichen Bibliothek ist bis heute für theosophische Logen typisch), zum anderen durch den Empfang von Botschaften von Höheren Meistern. Nicht mehr das Hervorbringen von spiritistischen „Wundern“ stand im Vordergrund, sondern das Verstehen, wie sie überhaupt möglich sind, was sie bedeuten, was sie über Ursprung, Aufbau und Entwicklungsziel des Universums und der Menschheit lehren.
Zunächst war Blavatsky vornehmlich damit befasst, magische und andere okkulte Schriften zu studieren und ihr Erstlingswerk zu verfassen, das 1877 als „Isis Unveiled“ erschien (deutsch 1907, „Die entschleierte Isis“). 1888 folgte „The Secret Doctrine“ (Die Geheimlehre), die beide zusammen die Grundlage der Theosophie bildeten. Spätere Vergleiche zeigen, dass große Teile insbesondere der „Entschleierten Isis“ aus verschiedenen Werken der okkulten abendländischen Tradition abgeschrieben waren.
1879 siedelten Olcott und Blavatsky nach Indien über und verlegten schließlich das Hauptquartier der Theosophischen Gesellschaft nach Adyar bei Madras (daher heißt dieser Zweig bis heute „Theosophische Gesellschaft Adyar“). Nun übernahm die Theosophie auch buddhistische und hinduistische Vorstellungen.
Botschaften erhielt Blavatsky nicht mehr wie zu ihrer spiritistischen Zeit durch „automatisches Schreiben“, bei dem die Hand durch ein Geistwesen gelenkt werden soll, sondern durch sogenannte „Meisterbriefe“, die in einer besonderen Vorrichtung in ihrem Hause in Papierform ankamen. Betrugsvorwürfe im Zusammenhang dieser Vorrichtung führten schließlich zum Rückzug Blavatskys aus Indien.
Schon bald nach Blavatskys Tod 1891 kam es zu Spaltungen in der Theosophischen Gesellschaft, aus denen zahllose, teils bis heute bestehende Gruppen hervorgingen. In Deutschland etablierte sich 1896 unter Franz Hartmann (1838 – 1912) die eigenständige „Theosophische Gesellschaft in Deutschland“, bevor die Theosophische Gesellschaft Adyar 1902 hierzulande unter dem Generalsekretär Rudolf Steiner Fuß fasste. Allerdings löste sich dieser bereits ab 1911 von der Leitung in Indien. Steiner lehnte die wachsenden buddhistisch-hinduistischen Elemente sowie die Rolle Krishnamurtis (s. u.) ab. Er nahm den größten Teil der deutschen Mitglieder mit in seine „Anthroposophische Gesellschaft“.
Die Führung der Theosophischen Gesellschaft Adyar übernahm bald die irischstämmige Engländerin Annie Besant (1847 – 1933), die sich stark sozialreformerisch engagierte. Besant hatte sich nach sechsjähriger Ehe 1873 von ihrem Mann, einem anglikanischen Pfarrer, getrennt. Neben jahrelanger religiöser Suche engagierte sie sich politisch (u. a. irische Unabhängigkeit, Frauenrechte). 1890 trat sie nach der Begegnung mit Helena Blavatsky der Theosophischen Gesellschaft bei, siedelte 1893 nach Indien über und wurde dort 1907 nach Olcotts Tod Vorsitzende der Theosophischen Gesellschaft Adyar. Zur Zerreißprobe führte die Rolle von Jiddu Krishnamurti (1895 – 1986). Besant hatte die nahe bevorstehende Ankunft eines „Weltlehrers“ (neuer Christus bzw. buddhistischer Maitreya) angekündigt und 1910 einen 15-jährigen Inder als diesen Avatar (Inkarnation) erkannt. Krishnamurti wurde systematisch in diese Rolle hinein erzogen, die er im 33. Lebensjahr, in dem Jesus gestorben war, voll übernehmen sollte. Allerdings sagte er sich 1929 von der Theosophischen Gesellschaft Adyar völlig los und wirkte fortan eigenständig als spiritueller Redner und Lehrer.
Die letzte große Führungsgestalt der Theosophie war Alice Ann Bailey (geb. La Trobe Bateman, 1880 – 1949). Nach einer Kindheit voller Reisen arbeitete sie als junge Frau für kurze Zeit u. a. als Missionarin in Indien. Jahrzehnte später, inzwischen Theosophin geworden, berichtete sie, 1895 einen Besuch von Master Koot Hoomi (Kuthumi) erhalten zu haben, dem Höheren Meister, der auch Helena Blavatsky geführt haben sollte. Ab 1908 lebte sie als Ehefrau des anglikanischen Pfarrers Walter Evans in den USA. Nach der Trennung 1915 trat sie der Theosophischen Gesellschaft Adyar in den USA bei und stieg rasch in der Hierarchie auf. 1920 heiratete sie den amerikanischen Theosophen Foster Bailey. Ab 1919 übermittelte Alice Bailey die Lehren des „Tibeters“ (Djwhal Khul genannt) und bezeichnete sich als dessen „Adeptin des zweiten Strahls“. Anders als Blavatsky praktizierte sie kein „automatisches Schreiben“, erhielt auch keine Meisterbriefe, sondern empfing ihre Botschaften durch Gedankenhören. In ihrem System galt Christus als höchster der „Meister der Weisheit“.
Zu nennen ist schließlich noch die in Deutschland aktive „Welt-Spirale“, gegründet 1961 durch Leo Brandstätter (genannt Leobrand, 1916 – 1968), hervorgegangen aus der Schule Agni Yoga der Russin Helena I. Roerich (1879 – 1955) und nach Brandstätters Tod mehrfach gespalten. Sie erhebt den Anspruch, die „Religion für das neue Zeitalter“ zu sein, die das Christentum aufnehmen und aufheben wird.
Die Größe der organisierten Theosophie ist bescheiden. Heute hat die Theosophische Gesellschaft Adyar als größte Gruppe ca. 30000 Mitglieder, alle anderen sind weitaus kleiner. Für Deutschland liegen keine gesicherten Zahlen vor.
Lehre
Die Theosophie ist personell und ideell mit den westlichen okkulten Traditionen (u. a. Hochgradfreimaurerei und Rosenkreuzertum) sowie mit Buddhismus und Hinduismus verknüpft. Die Darstellung der Lehre wird erschwert durch die einander ablösenden Ideen der prägenden Gründungsgestalten, die jeweils anderes in den Vordergrund stellten, durch die Vielzahl der Spaltungen sowie durch den Synkretismus, der viele verschiedene Vorstellungen integriert. Die Theosophie sieht sich selbst manchmal explizit nicht als Religion, manchmal aber als die höchste Synthese aller Religionen.
Aus dem Spiritismus kommt die Idee einer Geisterwelt hinter den sichtbaren Dingen. Diese Geisterwelt wird in sieben Stufen unterteilt. 1. Physische Ebene, 2. Ätherebene, 3. Astralebene (beide feinstofflich, also materiell, aber aus feinerer, geistiger Materieform gedacht); diese feinstofflichen Ebenen geben Tier und Pflanze das Leben. Darüber stehen vier geistige Ebenen. Ähnlich gibt es eine Hierarchie der Welt vom Mineral-, Pflanzen- und Tierreich zu den Menschen, Engeln der Astralebene, Gott ähnlichere Engel usw.
Vor allem auf Alice Bailey geht der dispensationalistische Zug der Theosophie zurück, demzufolge sich zu der biologischen Evolution auch eine geistige geselle, bei der das Universum in sieben aufsteigenden Stufen vom Grob- zum Feinstofflichen emporsteige. Die Aufladung der Siebenzahl findet sich an vielen anderen Stellen von der Kosmologie bis zur Organisation theosophischer Gesellschaften wieder. So ist die Rede von sieben Chakren, sieben Energiefeldern, sieben Planeten.
Alice Bailey führte als Botschaft des „Tibeters“ das sogenannte „Wassermannzeitalter“ (Age of Aquarius) in die Theosophie ein. Der von ihr in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erwartete Übergang vom Fische- zum Wassermannzeitalter wurde ab den 1970er Jahren zur definierenden Idee des „New Age“.
Typisch für die Theosophie ist bis heute ein Fortschrittsoptimismus, der sich schon in der Entstehungszeit findet. Die aufstrebenden USA, die Evolutionslehre, naturwissenschaftlicher und technischer Fortschritt, Reformpädagogik fördern die Idee, dass die Menschheit auch in geistiger und spiritueller Hinsicht auf ganz neue Ebenen der Erkenntnis gelangen könne. Dementsprechend ist die Reinkarnation nur aufsteigend möglich, man kann also nicht in einer niedrigeren Existenzform wiedergeboren werden. Der Sinn der Reinkarnation ist pädagogisch: Es geht um die stetige Weiterentwicklung. Die Theosophie kennt entwicklungsförderndes und -hemmendes Verhalten, ist aber über die Inhalte uneinig. Oft werden Verzicht auf Fleisch, Alkohol und Tabak und sexuelle Zurückhaltung empfohlen.
Träger des reinkarnatorischen Lernfortschritts ist das „Höhere Selbst“, das von oben die Inkarnationen steuert und nicht in den Leib inkarniert. Es kann zu einer Art persönlichem Gott werden. Dahinter steht die gnostische Idee der Seele als Teil der universalen Gottheit (Monismus). Es gibt Seelen, die nicht mehr inkarnieren, aber aus dem Jenseits als „Höhere Meister“ den Menschen helfen.
Die Theosophie ist Vorläuferin des New Age und der modernen Esoterik. Ihr Ziel ist die Schaffung einer aus verschiedenen Traditionen synthetisierten Welteinheitsreligion, die den Menschen durch Erkenntnis zur Erlösung aus eigener Kraft verhelfen soll. Dieser Anspruch soll verwirklicht werden durch eine Verbindung zwischen den niederen Stufen menschlichen Bewusstseins, der analytisches Wissen sammelnden Verstandesebene und den höheren Leistungen des sich selbst bewusst gewordenen geistigen Selbst. Diese Vermittlung kann als Entwicklung verstanden werden, deren Weg wissenschaftlich erforschbar und beschreibbar sein soll.
Einschätzung
Besonders in ihrer Frühzeit hat die Theosophie eine intensive sozialpolitische Wirksamkeit entfaltet und namentlich in Asien nicht nur organisatorisch, sondern ideell einen Beitrag zur Entkolonialisierung geleistet. Die Gründung des Indischen Nationalkongresses, der später unter Leitung Mahatma Gandhis (1869 – 1948) zur indischen Unabhängigkeit führte, geht maßgeblich auf Theosophen zurück. Gandhi hatte schon in seiner Zeit in Südafrika (1893 – 1914) unter anderem in den von ihm gegründeten Ashrams unter theosophischem Einfluss gestanden. Dies bewegte ihn dazu, seine indische kulturelle und religiöse Herkunft neu wertzuschätzen.
Nicht zufällig ist auch die dominante Rolle von Frauen, die sich schon im Spiritismus angedeutet hatte und sich in der Theosophie noch steigerte. Die Theosophie bot Frauen die damals seltene Möglichkeit, neue Rollen zu erproben und Führungspositionen einzunehmen.
Problematisch erscheint, dass die Theosophie mit ihrem monolinearen pädagogischen Modell zu einem Elitedenken führt, weil die Träger der Weisheit per se auf der höchsten Entwicklungsstufe stehen. Entsprechend ist die Theosophie meist hierarchisch strukturiert und hat wiederholt rassistische Vorstellungen (Entwicklungsstufen verschiedener Völker) hervorgebracht.
Einflussreich ist die Lehre vom „Esoterischen Heilen“ (Bailey) geworden. Dessen Erstes Gesetz lautete: „Jede Krankheit ist die Folge von gehemmtem Seelenleben.“ Dieser Gedanke, der dem Kranken die Schuld an seinem Schicksal zuweist, ist in weiten Teilen der Esoterik bis heute populär.
Die Stellung zum Christentum ist komplex. Eine ganze Reihe der theosophischen Führungsfrauen war dem kirchlichen Christentum stark verbunden und hat sich teilweise erst ab Mitte 30 im Zusammenhang von persönlichen Krisen davon abgewandt. Bei Helena Blavatsky, die in der Orthodoxie sozialisiert worden war, herrschte eine starke Skepsis bis zur massiven Ablehnung christlicher Ideen vor, aber spätere Generationen verwendeten häufig christliche Terminologie. Alice Bailey veröffentlichte 1948 ein Werk mit dem Titel „Die Wiederkunft Christi“ (1948), in dem die Parusie Christi als „Avatar“ im Übergang vom Fische- zum Wassermannzeitalter verstanden wird. Auch moderne theosophische Publikationen benutzen vielfach christliche Terminologie. Doch werden diese christlichen Begriffe mit neuem Sinn gefüllt. Der evolutionäre Monismus, die Reinkarnationslehre und die Ablehnung der Christologie lassen sich mit christlichen Überzeugungen nicht harmonisieren. Das Streben nach Selbsterlösung, der Anspruch, eine gottähnliche Erkenntnis zu besitzen (Wahrheit über allen Religionen), unterscheiden die Theosophie fundamental vom christlichen Glauben.
Kai Funkschmidt, Juni 2013
Literatur
Blavatsky, Helena, Isis Unveiled. A Master-Key to the Mysteries of Ancient and Modern Science and Theology, 2 Bde., Pasadena 1972 (Erstveröff. 1877)
Blavatsky, Helena, The Secret Doctrine. The Synthesis of Science, Religion, and Philosophy, 2 Bde., Pasadena 1970 (Erstveröff. 1888)
Bochinger, Christoph, „New Age“ und moderne Religion. Religionswissenschaftliche Analysen, Gütersloh 1994
Frenschkowski, Marco, Art. „Theosophie“, in RGG4, Bd. 8, Tübingen 2005, 348-350
Ruppert, Hans-Jürgen, Der biblische und der esoterische Christus, in: MD 8/1997, 226-242
Zander, Helmut, Anthroposophie in Deutschland, Bd. 1, Göttingen 2007, insbes. 75-432
Zeitschriften
Theosophie heute, Hg.: Theosophische Gesellschaft Deutschland, 60. Jg. 2013
Die Weltspirale. Zeitschrift für Geisteswissenschaft, Kultur, Ethik und Evolution, gegr. von Leopold Brandstätter (Leobrand), Hg.: Welt-Spirale. Internationale Ethische Gesellschaft, 51. Jg. 2013
Internet
www.theosophieadyar.de (Theosophische Gesellschaft Adyar in Deutschland)
www.theosophie.de (Theosophische Gesellschaft Deutschland e.V.)