Totentaufe (Mormonen)
Regelmäßig erhalten Kirchengemeinden das Angebot, ihre Kirchenbücher kostenlos auf Mikrofilm sichern zu lassen. Es kommt von der „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ (Mormonen), die diese Dokumente für genealogische Forschungen benutzt, um die Namen und Lebensdaten von Personen zu erhalten, die nicht Mormonen waren und nun im Nachhinein mormonisch „getauft“ werden sollen. Wegen dieser Praxis der „Taufe für die Verstorbenen“, so die offizielle Bezeichnung, haben Mormonen in bomben- und erdbebensicheren Stollen in den Rocky Mountains die größte genealogische Datensammlung der Welt angelegt. Die Mikroverfilmung von Kirchenbüchern hat praktische, theologische, seelsorgerliche und juristische Aspekte. Sie war katholischerseits lange vielerorts möglich. Auch einzelne evangelische Landeskirchen erlaubten sie. Heute wird aus theologischen Gründen sowie aus Gründen des Personendatenschutzes durchweg davon abgeraten. Dabei ist abzuwägen, dass eine ablehnende Entscheidung in vielen Fällen den endgültigen Verlust dieses Kulturgutes bedeuten wird (Theurer).
Entstehung und Theologie
Paulus erwähnt den Brauch einer stellvertretenden Taufe für Verstorbene (1. Kor 15,29) als Argument im Kontext einer Diskussion über die leibliche Auferstehung. Er bezieht weder ablehnend noch zustimmend dazu Stellung. Verbreitung, Ursprung, Theologie und Gestalt dieser Praxis liegen daher im Dunklen. Der Brauch war in späterer Zeit unter gnostischen Christen verbreitet und lebte in christlichen Randgruppen noch Jahrhunderte fort. Erst im Jahr 397 wurde er vom Konzil zu Karthago verboten. Anders gelagert sind Fälle der Taufe von Leichnamen, etwa ungetaufter Kinder oder im Katechumenat verstorbener Erwachsener, von denen zum Teil bis ins Mittelalter berichtet wird.
Erst im 19. Jahrhundert tauchte die stellvertretende Taufe von Lebenden für Verstorbene bei den Mormonen und in der Neuapostolischen Kirche wieder auf. Ein Zusammenhang ist unwahrscheinlich, da in den beiden Gemeinschaften der Brauch jeweils zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedener Gestalt aufkam. Außer auf den Korintherbrief verweisen die Vertreter der Totentaufe – oder Vikariats-, also Stellvertretertaufe – auch auf den Petrusbrief, wo mehrfach vorausgesetzt wird, dass die Verstorbenen in einer jenseitigen Welt existieren und durch die Predigt des Evangeliums erreicht werden können (1. Petr 3,18f und 4,6).
Für Mormonen sind zur Begründung ihres ausgefeilten Totentaufwesens die neuzeitlichen Offenbarungen in ihren heiligen Schriften wichtiger als die genannte biblische Herleitung (vgl. z. B. Lehre und Bündnisse [LuB] 127,5-9. 128. 138,30ff).
Da für Mormonen zwischen der Zeit der Urchristenheit und dem Auftreten Joseph Smiths keine wahre Kirche existierte, stellte sich die Frage, wie die Menschen, die dazwischen, sowie alle, die seitdem als Nichtmormonen gelebt haben, überhaupt zum Heil kommen können. Denn die Taufen aller christlichen Kirchen in Vergangenheit und Gegenwart sind aus mormonischer Sicht unwirksam, wodurch es auch keinen Unterschied macht, ob ein Verstorbener Christ war, einer anderen oder gar keiner Religion angehörte. Entscheidend ist, dass die einzig gültige Taufe nur von einem beauftragten mormonischen Priester gespendet werden kann.
Im August 1840 setzte der Gründungsprophet Joseph Smith anlässlich einer Traueransprache die Totentaufe ein. Smith zufolge war Christus in die Totenwelt hinabgestiegen, hatte dort aus den Rechtschaffenen Boten ausgesandt, um den Totengeistern das Evangelium zu predigen, sie die Stellvertretertaufe zu lehren und ihnen den Heiligen Geist zu spenden (LuB 138,30.33). Nach mormonischem Verständnis leben Verstorbene als Geister in einer jenseitigen Welt weiter und können dort aus freiem Willen Entscheidungen treffen, die ihr weiteres Schicksal bestimmen. Die stellvertretende Taufe eines lebenden Mormonen eröffnet der Seele eines namentlich genannten Toten die Wahl, diese Taufe anzunehmen. Er wird dadurch also nicht automatisch oder zwangsweise posthum Mormone.
Dahinter steht die durch Joseph Smith offenbarte mormonische Anthropologie gnostischer Prägung, der zufolge Menschen vor ihrer Geburt als Geistwesen bei Gott sind. Sie dürfen vorübergehend in eine Existenzform auf die Erde kommen, um sich unter den Bedingungen der Leiblichkeit und Willensfreiheit zu bewähren und durch Gesetzesgehorsam Fortschritte zu machen. Diese Entwicklung des Einzelnen ist Teil des ewigen Fortschritts, den die ganze Schöpfung und auch Gott selbst durchlaufen. Dieser Fortschritt des Menschen endet nicht mit seinem Tod, sondern geht in einer jenseitigen Existenzform weiter. Erst im Endgericht entscheidet der Stand dieser Entwicklung darüber, in welche von drei Stufen der Herrlichkeit man eingehen wird, deren höchste nur Mormonen vorbehalten ist. Wer als Toter die für ihn vollzogene stellvertretende Taufe annimmt, kann auch im Jenseits noch die höchste Stufe der Herrlichkeit erlangen, obwohl er im Leben nicht Mormone war. Die Totentaufe ist also ein Angebot: „Die Toten, die umkehren, werden erlöst werden“ (LuB 138,58).
Jeder würdige Mormone kann als Stellvertretertäufling fungieren. Die Rolle des Stellvertreters hat auch für diesen selbst Heilsbedeutung. Er kommt damit sogar dem heilsvermittelnden Werk Christi nahe, sodass der Stellvertreter an der Erlösung des Toten mitwirkt: „Ich denke, dass das stellvertretende Werk für die Toten dem stellvertretenden Opfer des Heilands selbst näher kommt als irgendein Werk, das ich kenne. Es wird aus Liebe getan, ohne Hoffnung auf Lohn ... Was für ein großartiges Prinzip” (Gordon B. Hinckley, Präsident 1995-2008).
So wie Jesus in der Totenwelt im Prinzip genau das gleiche tat wie auf Erden, nämlich predigen, Jünger sammeln und sie aussenden, so ist auch die Totentaufe für die Heiligen der Letzten Tage eine jenseitige Fortsetzung ihres missionarischen Wirkens auf Erden. Sie ist fortgesetzte Verkündigung von Jesu Auferstehung, der unbegrenzten Wirkung, Einzigartigkeit und der Bedingungen seines Heils sowie seiner Wiederkunft. Das erklärt den großen Aufwand, den Mormonen in die Totentaufe stecken, insbesondere in Form der genealogischen Forschung. Angesichts einer ausgeprägten Endzeiterwartung – nicht zufällig nennen sich Mormonen „Heilige der Letzten Tage“ – eignet den mormonischen Totenbräuchen auch immer eine gewisse Dringlichkeit.
Praxis
Anders als die Taufen an Lebenden, die in jedem mormonischen Gemeindehaus vollzogen werden, finden Totentaufen nur in einem der weltweit 138 Tempel (Stand August 2012) statt, wobei die Raumgestaltung hier ungleich prächtiger ist. Das Taufbecken in einem unterirdisch gelegenen Raum des Tempels ruht auf zwölf Marmor-Ochsen, die zwölf Stämme Israels symbolisierend. Wie alle Verrichtungen im Tempel sind die Totentaufen für die Öffentlichkeit unzugänglich und unterliegen der Arkandisziplin. Sie sind das zahlenmäßig bedeutendste der Tempelrituale, daneben gibt es u. a. noch sogenannte „Siegelungen“, bei denen Ehepaare und Eltern und Kinder für die Ewigkeit miteinander verbunden werden. Auch solche Siegelungen können über Stellvertreter an Verstorbenen vollzogen werden.
Für eine Totentaufe reicht ein Mormone bei den zuständigen kirchlichen Stellen den Namen eines Toten, meist eines Vorfahren, mit dessen Lebensdaten ein. Die stellvertretenden Taufen finden dann oft im Rahmen eines Gruppenausflugs zum nächstgelegenen Tempel statt. Dort finden viele Stellvertretertaufen hintereinander statt. Männer lassen sich für Männer, Frauen für Frauen taufen.
Der Vollzug ähnelt der Lebendentaufe. Der Täufer, ein melchisedekischer Priester, „Tempelarbeiter“ genannt, und der Täufling sind weiß gekleidet. In Verbindung mit einem vollständigen Untertauchen spricht der Täufer: „Bruder (Schwester) N.N., in Vollmacht taufe ich dich für und anstelle von N.N, der (die) tot ist, im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.“ Bei männlichen Verstorbenen kann sich direkt die Weihung zum melchisedekischen Priester unter Handauflegung zweier Tempelarbeiter anschließen.
Das Totentaufwesen erfreut sich unter Mormonen ungebrochener Beliebtheit – man kann etwas für Verstorbene und das eigene Heil tun und dabei an Mysterienreligionen erinnernde Erfahrungen im Tempel machen.
Es gibt bestimmte Richtlinien für die Auswahl der Verstorbenen. So muss zwischen dem Tod und der stellvertretenden Taufe mindestens ein Jahr liegen. Es sollen in der Regel – manchmal wird auch gesagt: ausschließlich – persönliche Vorfahren angemeldet werden. „Berühmte Persönlichkeiten“ und bestimmte Personengruppen sind nicht zugelassen. Allerdings sind vielfach trotzdem bekannte historische Persönlichkeiten getauft worden, so Martin Luther, einige Päpste und Mahatma Gandhi.
2012 gab es einen Konflikt um die Taufe von Holocaustopfern. Dazu hatte es erstmals 1995 eine Vereinbarung mit jüdischen Verbänden gegeben, der zufolge Juden nur noch getauft werden sollten, wenn es sich um direkte Vorfahren von Mormonen handelte. Eine erneute Vereinbarung 2010 beschränkte das Verbot nur noch auf Holocaustopfer. Trotzdem wurde 2012 bekannt, dass es wieder zu solchen Taufen gekommen war.
Konflikte treten bisweilen auch auf, wenn mormonische Angehörige verstorbener Christen sogar dann eine Totentaufe vollziehen lassen wollen, wenn der Verstorbene dies vorher ausdrücklich abgelehnt hatte. In diesen Fällen sind Mormonengemeinden im Gespräch bisweilen zu Kompromissen und zum Taufverzicht bereit.
Einschätzung
Als Christ muss man ernst nehmen, dass Paulus die Totentaufe nicht verurteilt. Der Gang Christi in das Reich des Todes gehört zum christlichen Glaubensbekenntnis. Wenn den Toten das Evangelium gepredigt wird (1. Petr 3,18f; 4,6), ist es möglich, daraus zu schließen, dass Verstorbene in einer Art „Zwischenwelt“ heilsrelevante Entscheidungen treffen können. Doch sind im Neuen Testament die eschatologischen Bilder vielfältig, weil sie etwas menschlich Unfassbares umschreiben wollen. Zwar beantwortet auch die protestantische Theologie die Frage nach dem Sein der Verstorbenen unterschiedlich. Selbst der Gedanke der nachtodlichen Weiterentwicklung kann hier vorkommen (Gestrich). Aber im Mormonismus ist gerade die neutestamentliche Vielfalt der tastenden Bilder für die unmittelbare Gottesgegenwart völlig aufgegeben. Hier ist Gott seines Geheimnisses entkleidet, im Detail ist das Jenseits bekannt und an menschliche Sakramentshandlungen gebunden. Inhaltlich ist die mormonische individuelle Eschatologie eine Engführung, in der es nach dem Tod im Wesentlichen so weitergeht wie vorher: Gnadenlos wird Gott nur die als die Seinen anerkennen, die per Taufe Mormonen geworden sind.
Indem Mormonen das Heil auch für bereits Verstorbene nur denken können, wenn es durch einen mormonischen Priester vermittelt wird, ist Gottes Souveränität und freie Gnade verneint. Gott wird Ausführungsorgan menschlicher Ritualpraxis. Damit passt die Totentaufe in die mormonische Gotteslehre und Anthropologie, der zufolge Gott ein zur Vollkommenheit weiterentwickelter Mensch ist – eine Entwicklung, die prinzipiell jedem Menschen offensteht. Wenn Christus den Totengeistern predigt, ist dies nach mormonischer Vorstellung eben noch nicht die volle, unmittelbare Gottesbegegnung, da er als zweiter Gott neben dem Vater verstanden wird.
Der mormonischen Totentaufe liegt aus christlicher Sicht eine Verkennung des Wesens des Sakraments zugrunde. Das Sakrament ist eine von Christus eingesetzte Zeichenhandlung zur Versinnbildlichung der Heilsverkündigung. Seine Funktion ist ins Gegenteil verkehrt, wenn es aus dem Kontext des „Sehens wie durch einen Spiegel“ (1. Kor 13,12) gelöst und zu einem Gott absolut bindenden magisch-menschlichen Akt wird. Im Petrusbrief predigt Christus selbst den Verstorbenen. Wozu soll aber in solch unmittelbarer Gottesgegenwart noch ein Sakrament nötig sein?
Kai Funkschmidt, Oktober 2012
Literatur
Bushman, Richard L., A Very Short Introduction to Mormonism, Oxford 2008
Christofferson, D. Todd, The Redemption of the Dead and the Testimony of Jesus, in: Liahona 1/2001, www.lds.org/liahona/2001/01/the-redemption-of-the-dead-and-the-testimony-of-jesus?lang=eng (abgerufen am 24.8.2012)
Gestrich, Christof, Die Seele des Menschen und die Hoffnung der Christen. Evangelische Theologie vor der Erneuerung, Frankfurt a. M. 2009
Hauth, Rüdiger, Tempelkult und Totentaufe. Die geheimen Rituale der Mormonen, Gütersloh 1985
Merkt, Andreas, Art. „Volksfrömmigkeit III Alte Kirche“, in TRE 35, Berlin/New York 2003, 222-226
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Theurer, Andreas, Bedrohte Kirchenbücher, in: MD 5/2004, 189f
Weaver, Sarah Jane, Die Kirche bittet die Mitglieder, die Richtlinien für die genealogische Forschungsarbeit unbedingt einzuhalten, in: Liahona 7/2012
Wolff, Christian, Art. „Vikariatstaufe“, in: RGG4 Bd.8, Tübingen 2005,1114f
Internet
www.lds.org (Dort sind die Heiligen Schriften komplett zugänglich.)