Vergebung (psychologische Aspekte)
Im Judentum, im Christentum und im Islam gilt Vergebung als wesentliche Eigenschaft des einen Gottes. In den monotheistischen Religionen ist die Vergebung Gottes für die menschlichen Verfehlungen heilsnotwendig. Im Judentum steht die Sündenvergebung im Zentrum des höchsten Feiertags Jom Kippur. Im Christentum bildet sie das Kerngeschehen von Taufe, Abendmahl und Beichte. Im Islam sind „der Verzeiher“ und „der Vergeber der Sünden“ zwei der neunundneunzig Namen Gottes.
Aber nicht nur die Gottesbeziehung, auch zwischenmenschliche Beziehungen sind auf Vergebung angewiesen. Denn dass Menschen anderen etwas schuldig bleiben, ist unvermeidbar, so dass menschliches Leben immer zugleich auch ein Schuldigwerden bedeutet. Aus säkularer Sicht wird die Fähigkeit zum Verzeihen und Vergeben heute als ein wesentlicher psychologischer Faktor für stabile Beziehungen und ein positives Selbstwertgefühl angesehen, das Stress mindert und Wohlbefinden fördert (Kämmerer 2011). In der fünften Vaterunser-Bitte wird die Gottesbeziehung mit dem Prozess des zwischenmenschlichen Verzeihens verknüpft: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Was sind die psychologischen Voraussetzungen und Schritte der Vergebung? Welche Möglichkeiten und Grenzen impliziert Vergebung als eine säkulare Behandlungstechnik?
Ist Vergebung nötig? Anthropologische Voraussetzungen
Vergebung befreit von Schuld als einer unhintergehbaren Begleiterscheinung menschlichen Lebens. Dabei ist das menschliche Schuldbewusstsein keine Erfindung der christlichen Kirchen, um ihre Erlösungsbotschaft zu begründen, sondern eine existentielle Tatsache. Der Wiener Psychiater Viktor Frankl (2007) charakterisierte den Menschen als ein Wesen auf der Suche nach Sinn. Dieses Grundbedürfnis sei angesichts der „tragischen Trias“ von Leid, Schuld und Tod schwer zu stillen. Nach Frankl ist das Schuldigwerden genauso unausweichlich wie die Erfahrung von Leid und der Tod. Die Existenzphilosophie definiert „existentielle Schuld“ als das Scheitern an den eigenen Lebensvorstellungen und -möglichkeiten (Lauke 2022). Im Gegensatz zu falschen Schuldgefühlen sei reale Schuld unvermeidlich – zu leben heißt sich schuldig machen.
Von einem moralisch als negativ empfundenen Handeln gegenüber einem anderen ist ein Schuldempfinden sich selbst gegenüber zu unterscheiden. Gemeint sind damit negative Gefühle und Selbstvorwürfe, sich durch falsche Entscheidungen Möglichkeiten des Lebens vorenthalten zu haben. Deshalb unterscheidet die psychologische Forschung Selbstvergeben vom Vergeben gegenüber einer anderen Person (Worthington/Sandage 2016). Das entspricht einer christlichen Sichtweise. Der EKD-Grundlagentext zum Thema widmet dem „sich verfehlenden Menschen“ ein ganzes Kapitel (EKD 2020, 47–66).
Schuldgefühle entstehen auch durch die herrschende Ungerechtigkeit in der Welt. Platon bestimmt Gerechtigkeit als die höchste Tugend, welche die drei Kardinaltugenden Besonnenheit, Tapferkeit und Weisheit in sich vereint. Kulturübergreifend ist der „Gerechte-Welt-Glaube“ oder die Überzeugung von einem „Tun-Ergehen-Zusammenhang“ tief verwurzelt. Beides gründet auf der generalisierten Erwartung, dass Menschen im Leben dasjenige bekommen, was sie verdienen (suum cuique). Es ist ein natürliches Grundbedürfnis des Menschen, die Welt als geordnet und vorhersagbar zu erleben. Dieses Streben ist Bestandteil eines übergeordneten Bedürfnisses nach Kontrolle. Schuld und ungerecht erscheinendes Leiden anderer bedroht den Gerechte-Welt-Glauben. Die Kraft des Vergebens ermöglicht eine Wiederherstellung dieses Glaubens und wirkt so stabilisierend.
Vergebung aus psychologischer Sicht
Was genau ist aus psychologischer Sicht mit Vergebung gemeint? Mit Vergebung wird jener Prozess beschrieben, in dem ein Mensch die eigenen negativen Gefühle oder Haltungen gegenüber einem anderen, von dem er absichtlich oder unabsichtlich geschädigt oder verletzt worden ist, nachhaltig positiv verändert. Es kann zu einer psychischen Störung führen, wenn das verletzende Verhalten eines anderen dauerhaft als Angriff auf die eigene Selbstachtung und als Infragestellung des eigenen Selbstwertgefühls erlebt werden. Die beiden natürlichen Reaktionen auf solche Verletzungen sind Kampf oder Flucht. Entweder wird nach dem Motto „Wie du mir, so ich dir“ Rache geübt oder der Ärger und Groll wird verdrängt und gleichsam in sich „hineingefressen“. Psychologisch klüger wäre es, nach einer erlittenen Verletzung die eigenen Gefühle genauer zu reflektieren und sich darüber klar zu werden, ob diese Gefühle berechtigt sind oder nicht. Was Vergebung aus psychologischer Sicht nicht ist: alles Geschehene klaglos hinzunehmen oder zu entschuldigen; es zu vergessen und sich wieder zu beruhigen; vordergründig ohne Berücksichtigung der die Verletzung anzeigenden Gefühle wie Zorn oder Rache zu vergeben; unbedingte Versöhnung zu erreichen.
Ist jemandem Unrecht widerfahren, besteht ein natürliches Interesse, mehr über die Entstehungsbedingungen der Tat in Erfahrung zu bringen. Versetzt man sich zum Beispiel in die Situation der eigenen Eltern, kann dies helfen, ihr (Fehl-)Verhalten besser zu verstehen und ihnen aufgrund dieses Verständnisses leichter zu vergeben. Der Prozess des Selbstvergebens gilt dann als abgeschlossen, wenn die Person sich wieder als Mensch mit Chancen, Stärken und Fehlern annehmen kann. Vergebung wird heute in der Psychologie als eine erlernbare Fähigkeit verstanden, die zur Selbstvergebung und zu gelingendem Leben (flourishing) führt (Kanz 2000). Das Vergeben ist nach Jason Kanz durch folgende psychologische Merkmale gekennzeichnet: Es senkt Ärger; es bedarf keiner Entschuldigung als Voraussetzung, auch nicht des Vergessens; die Person, der vergeben wird, muss sich des Vergebens nicht bewusst sein.
Aus psychologischer Sicht fördert es das emotionale Wohlbefinden, sich selbst und anderen zu vergeben. Zahlreiche religionspsychologische Studien belegen: Wer verzeihen kann, lebt gesünder, länger und zufriedener. Die mittlerweile auch in Europa durchgeführte Vergebungsforschung weist nach, dass das Vergeben und Vergessen Stress reduziert und Körper und Psyche guttut. So wirkt sich der Prozess des Verzeihens positiv auf den Organismus wie etwa den Blutdruck und chronische Rückenschmerzen sowie seelisches Wohlbefinden aus (zur Forschungsliteratur vgl. Utsch/Ohls 2022; Bonelli 2018). Auch der Sterbeprozess fällt Menschen leichter, die mit sich und anderen versöhnt sind (Renz u. a. 2018). Verzeihen-Können erhöht die Selbstakzeptanz und begünstigt ein zufriedenes Altern (Allemand/Steiner/Hill 2013). Die Fähigkeit und der Prozess des Verzeihens werden auch als wichtige Schlüssel für eine gelingende Partnerschaft angesehen und mittlerweile als psychotherapeutische Wirkfaktoren in Paartherapien untersucht (Mavrogiorgou/Meister/Juckel 2018).
Aus psychologischer Sicht bedeutet die Vergebung eine doppelte Wohltat: Erstens beugt das Vergeben beim Opfer einer Verbitterungsstörung vor. Zweitens wird der Täter vom schlechten Gewissen und der Last der Schuld befreit. Schlechtes Gewissen und Verbitterung können neurotische und psychosomatische Krankheiten sowie Traumata hervorrufen. Manche Psychologen gehen so weit, die Unfähigkeit oder Verweigerung des Vergebens als eine eigene Störung zu klassifizieren. Michael Linden (2017) beschreibt eine „Verbitterungsstörung“, die als Folge einer außergewöhnlichen Belastung entstehen kann, in der sich der oder die Betroffene als ungerecht behandelt, gekränkt oder herabgewürdigt erlebt hat. Diese Störung ist durch die Entwicklung einer ausgeprägten psychischen Begleitsymptomatik charakterisiert. Im Vordergrund der Beschwerden steht ein andauerndes Gefühl der Verbitterung, verbunden mit Hilflosigkeit, Vorwürfen sowie aggressiven Fantasien gegen sich selbst und andere. Die lange, manchmal sogar lebenslange Dauer der Verbitterung resultiert daraus, dass Betroffene in der Regel in einer passiven Opferrolle verharren. Es bildet sich eine Unversöhnlichkeit heraus, die das Verstehen der anderen Seite unmöglich macht. Aus einer Trotzhaltung heraus wird oft keine professionelle psychotherapeutische Unterstützung in Anspruch genommen. Vielmehr ziehen sich Betroffene gedanklich in ihr eigenes Unglück zurück. Die Opferhaltung kann einerseits Mitleid im sozialen Umfeld erzeugen, andererseits erschwert die damit verbundene passive Haltung einen positiven Neubeginn. Die Störung kann sich auf andere Lebensgebiete ausweiten, wobei zusätzliche Symptome wie Selbstzweifel, Appetitlosigkeit, Depressionen, Phobien und Aggressionen entstehen können und zur Vereinsamung beitragen. Verbitterte wollen die absolute Gerechtigkeit hier und jetzt erleben. Allein hilfreich hingegen wäre die Erkenntnis, dass eine solche absolute Gerechtigkeit nicht existiert und alles Erlebte bloß relativ ist.
Überwinden lässt sich eine Verbitterung allein durch die bewusste Entscheidung zum Loslassen und Neubeginn. Zur Unterstützung und Begleitung dieses emotional anspruchsvollen Veränderungsprozesses sind in den letzten Jahren eine Reihe von therapeutischen Hilfsmitteln entwickelt worden. Therapeutisch angeleitete Schritte der Vergebung können helfen, aus der passiven Opferrolle herauszutreten, sich dem Erlebten zu stellen und die Vergangenheit hinter sich zu lassen. In den USA sind vergebungsbasierte Manuale bereits seit geraumer Zeit fachlich etabliert (Worthington/Sandage 2016) und auch für den deutschsprachigen Raum liegen inzwischen differenzierte Manuale, Selbsthilfebücher und Behandlungsansätze vor (Lammers/Ohls 2017; Handrock/Baumann 2017).
Der hier nur in Grundzügen vorgetragenen gegenwärtigen Forschungslage zufolge ist Vergebungsbereitschaft insbesondere bei religiösen Menschen stark ausgeprägt. Zur Begründung wird in den Studien unter anderem angeführt, dass religiöse Menschen aus dem Glauben leben, dass Gott ihnen verzeiht oder verziehen hat und sie daher anderen leichter vergeben können; dass ihnen, weil sie mit Gott, sich und anderen versöhnt sind, auch der Sterbeprozess leichter fällt; dass sie durch die religiöse Erfahrung des (von Gott) Geliebtseins leichter ein positives Selbstwertgefühl entwickeln; dass sie unabhängig von Leistungsfähigkeit und körperlicher Fitness den eigenen Wert und die Würde empfinden.
Vergebung als säkularisierte Therapiemethode
Sünde, Schuld und Vergebung sind zentrale Bausteine des christlichen Menschenbildes. Im Zentrum der Nachfolge Christi steht der Entschluss zu innerer Umkehr und Neuausrichtung, die im Christentum durch die Taufe, das Abendmahl und das Beichten öffentlich gemacht, symbolisch vergegenwärtigt und rituell bekräftigt wird. Während Tauffeiern und das Abendmahl nach wie vor Höhepunkte im kirchlichen Leben darstellen, hat das Beichten seine befreiende Wirkung zum größten Teil eingebüßt. Die positiven Effekte dieser über Jahrhunderte bewährten Methode der Psychohygiene sind in Vergessenheit geraten. Die ans Licht gekommenen Missbrauchsskandale gerade im Kontext der vertraulichen Einzelbeichte haben den Verlust des Vertrauens in die Kirchen mit ihren spezifischen therapeutischen Angeboten nochmals vergrößert. Erst die neuere Psychotherapieforschung untersucht die Bedeutung des Prozesses der Vergebung genauer und hat, weil ihr therapeutischer Nutzen unbestreitbar ist, säkularisierte Formen entwickelt.
In der Erarbeitung neuer und wirksamer Psychotherapiemethoden sind Wissenschaftler:innen und Therapeut:innen mittlerweile dabei, auf das therapeutische Erbe der Religionen zurückzugreifen. Wesentliche Impulse für Psychiatrie und Psychotherapie kommen dabei aus Asien, von hinduistisch oder buddhistisch geprägten Versenkungsmethoden des Yoga und des Zen (Langen 1963). Diese Methoden stießen deshalb auf Interesse, weil sie der Sammlung und Konzentration dienen und von der Konzeption und ihrem Selbstverständnis her auf den modernen, westlichen Menschen zugeschnitten sind (Baier 2009, 623ff.). Die Psychotherapie wurde so zu einem Nährboden neuer, kontemplativer Übungsweisen. Den Weg zu veränderten, auch meditativen Bewusstseinszuständen ebneten insbesondere die Hypnose und das autogene Training (Thomas 1982; Schultz 2003). Vor zehn Jahren wurde ein amerikanischer Forschungsverbund für Achtsamkeitsstudien gegründet, der evidenzbasierte Fakten für den Prozess und die psychotherapeutische Praxis von Achtsamkeit zusammenträgt (American Mindfulness Research Association, https://goamra.org). Ein monatlicher Newsletter dieses Forschungsverbundes wertet die in den letzten Jahren sprunghaft angestiegene Zahl der Studien zu diesem Thema aus. War die Psychotherapie zu Beginn ihrer wissenschaftlichen Etablierung Anfang des letzten Jahrhunderts darum bemüht, sich von ihren „Eltern“, der Philosophie und Theologie, zu lösen und eigenständige Wege zu gehen, hat sich der Abstand zwischen den Disziplinen mittlerweile verringert. Interdisziplinäre Projekte belegen, dass eine psycho-theologische Zusammenarbeit durchaus sinnvoll ist (Utsch 2020; Richter 2021).
Unterschiedliche spirituelle Praktiken, die in den Religionen entwickelt und kultiviert wurden, zielen aus psychologischem Blickwinkel auf körperliche, mentale und zwischenmenschliche Entspannung ab. Systematisch können drei verbreitete Therapietechniken religiösen Traditionen zugeordnet werden:
Tab. 1: Therapeutische Anwendung religiöser Kulturtechniken
Religion - spirituelle Praxis - säkularisierte Behandlungsmethode
Hinduismus - Yoga - Autogenes Training
Buddhismus - Zen - Achtsamkeitsverfahren
Christentum - Gebet - Vergebungsmanuale
Ursprünglich religionsbasierte Methoden wurden in den letzten zwei Jahrzehnten mit Erfolg in säkularisierte Behandlungsmethoden umgewandelt, deren Wirksamkeit wissenschaftlich belegt werden kann. Allerdings wird nach wie vor kontrovers diskutiert, ob und wie deutlich sich weltanschauliche Inhalte von den säkularisierten Methoden trennen lassen. Annette Meuthrath (2017) stellte etwa bei ihrer Befragung von fortgeschrittenen Praktikern christlicher Meditation fest, dass diese mittlerweile hauptsächlich nichtchristliche Formen wie Zen, Vipassana oder Achtsamkeit anwenden und sich in diesem Prozess auch das Gottesbild wandelt.
Wie lassen sich die praktischen Schritte psychologischer Vergebungsarbeit in aller Kürze beschreiben? In der Zusammenschau verschiedener psychologischer Ansätze lassen sich vier Schritte im Prozess der Vergebung unterscheiden. Die Ansätze stimmen darin überein, dass ein solcher Prozess in der Regel viel Zeit benötigt. Die einzelnen Phasen enthalten innere Aufgaben, die unter Umständen mehrmals in Angriff genommen werden müssen. Für die Begleitung bedeutet dies, geduldig zu sein sowie die Veränderungsschritte behutsam anzuregen und zu unterstützen. Die vier Schritte im Einzelnen:
- Die Bewusstmachung der Emotionen: Dies bedeutet, die eigene Wut und Verletztheit als belastende Gefühle wahrzunehmen. Wie wirken sich die Gefühle auf das Selbstwerterleben aus? Diese in der Regel schmerzhafte Reflexion erfordert Mut und kann erst aus der inneren Distanz zum Geschehen zu einer Neubewertung der Situation führen.
- Die Auseinandersetzung mit sich und der verursachenden Person, Perspektivwechsel: Über die eigene Verletztheit hinaus wird versucht zu erfassen, aus welchen Beweggründen das Unrecht geschehen sein könnte. Das kognitiv-empathische Verstehen muss nicht in einem Entschuldigen enden, vergrößert aber die emotionale Distanz zum Geschehen nochmals und kann den Gekränkten aus der Opferrolle befreien.
- Der Entschluss, nutzlose Bewältigungsstrategien abzulegen: Vergebung erfordert einen Willensakt. Die verletzte Person muss sich dafür entscheiden, nicht länger unter dem Geschehen leiden zu wollen, den Schmerz zu akzeptieren, Wut und Vergeltungswünsche hinter sich zu lassen und so Kräfte für eine selbstbestimmte Zukunft zu gewinnen.
- Neues Verhalten: Die verletzte Person kann nun die Beziehung zum Täter neu bestimmen – sei es in Richtung eines Abbruchs der Beziehung oder in Richtung einer neutralen Distanz. Mit genügend Distanz kann in manchen Fällen auch ein Sinn in der Verletzungserfahrung gefunden werden.
Unterschiede zum christlichen Verständnis von Vergebung
Die differenzierten psychologischen Beschreibungen des Vergebungsprozesses können helfen, die emotionalen Anteile des Geschehens deutlicher in den Blick zu nehmen und hemmende Blockaden aus dem Weg zu räumen. Derartige Hilfen sind nützlich und bisweilen nötig, wenn religiöser Glaube sich auf rationales Analysieren und Erwägen beschränkt und nicht zu hoffnungsvollem, mutigem und entschlossenem Handeln führt. Psychologische Anregungen können dabei helfen, das theologische Wissen in die alltägliche Lebenspraxis umzusetzen und dabei Gefühle mit einzubeziehen (Utsch 2022). Die psychologische Umsetzungsarbeit des Vergebungsprozesses ist wertvoll, weil sie von der Betroffenenperspektive ausgeht. Dabei lässt sie allerdings die Fehlerhaftigkeit der betroffenen Person außer Acht.
In einem größeren Kontext bezieht die christliche Perspektive diese Realität mit ein. Der EKD-Grundlagentext über Sünde, Schuld und Vergebung wirbt für ein realistisches Menschenbild, der die Fehler und die Schuldhaftigkeit des Menschen ernst nimmt. Nach christlichem Verständnis hat die Sünde das Potential, Wahrheit, Liebe und Freiheit zu zerstören. Sünde führt in die Unfreiheit (EKD 2020). Im selben EKD-Text werden insbesondere die Fehlhaltungen von Hochmut, Gier, Trägheit und Lüge untersucht, die zur Selbstentfremdung, Zielverfehlung und schuldigem Verhalten führen. Der Glaube öffnet einen Raum für die Überwindung von Negativität und Schuld: Hass, Ausgrenzung und Gewalt können überwunden werden, die menschliche Versöhnungsbereitschaft kann wachsen. Wer sich seiner eigenen Fehlhaltungen bewusst ist und durch die Vergebung Gottes innere Freiheit erlebt, dem fällt es leichter, anderen zu vergeben. Der anthropologische Realismus von der Fehlerhaftigkeit des Menschen bildet einen Rahmen, in dem sich der psychologische Prozess der Vergebung sinnvoll einfügen lässt.
Michael Utsch, Oktober 2023
Literatur
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