Anthroposophie und Christengemeinschaft
Die Anthroposophie ist besonders durch ihre praktischen Lebensformen bekannt: Waldorfpädagogik, biologisch-dynamischer Landbau („Demeter“), anthroposophische Medizin in Praxen und Kliniken, Pharmaka und Kosmetika (Wala und Weleda) gehören zum festen Bestand unserer Gesellschaft. Doch nur wenige wissen, dass all dies – und noch manches andere – auf der „Anthroposophie“ gründet. Ihre Weltanschauung selbst ist weitgehend unbekannt. Inhaltlich von ihr inspiriert, organisatorisch aber von der Anthroposophischen Gesellschaft unabhängig ist der Kultus der 1922 gegründeten Christengemeinschaft.
Geschichte der Anthroposophie
Die Anthroposophie (wörtlich: „Weisheit vom Menschen“) ging aus dem Wirken Rudolf Steiners (1861 – 1925) hervor. Er hatte Naturwissenschaften studiert, Goethes naturwissenschaftliche Schriften kennengelernt und wurde in Philosophie promoviert. Um 1900 kam er in Berlin in Kontakt mit Mitgliedern der Theosophischen Gesellschaft, einer esoterischen Organisation, und schloss sich dieser Bewegung zunächst an. Seit 1901 wirkte er als Generalsekretär ihrer deutschen Sektion. In zahlreichen Büchern, Aufsätzen und Vorträgen, die auch heute noch zum Grundbestand der Anthroposophie zählen, formulierte Steiner auf der Basis theosophischer, christlicher, philosophisch-idealistischer Elemente seine Weltanschauung, die er nach der Trennung von den Theosophen „Anthroposophie“ nannte und die 1913 mit der Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft ihren organisatorischen Rahmen erhielt.
Nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte er, angeregt durch Anfragen seiner Anhänger, die Waldorfpädagogik (benannt nach der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik in Stuttgart, für deren Arbeiterkinder sie zunächst gedacht war), den biologisch-dynamischen Landbau, Grundzüge der anthroposophischen Medizin – und gemeinsam mit einigen Theologen den religiösen Zweig der Bewegung, die Christengemeinschaft, die institutionell unabhängig blieb und der Steiner selbst nie angehört hat (s. u.).
Nach Steiners Tod im Jahre 1925 wurde der Schweizer Dichter Albert Steffen sein Nachfolger. Heftige Auseinandersetzungen, u. a. um die Rechte an Steiners Werk, erschütterten in der Folgezeit die Anthroposophische Gesellschaft. Im nationalsozialistischen Deutschland wurde sie 1935 verboten. Nach 1945 erlebte die Anthroposophie hingegen einen bemerkenswerten Aufschwung.
Noch heute hat die Anthroposophische Gesellschaft ihr Zentrum in Dornach bei Basel: das sog. „Goetheanum“ – dessen erstes Gebäude in der Neujahrsnacht 1922/23 einer Brandstiftung zum Opfer fiel und dessen jetzige Gestalt (Stahlbeton!) noch auf Steiners Entwürfe zurückgeht.
Lehre und Organisation der Anthroposophie
Steiner bezeichnet die Anthroposophie als einen Erkenntnisweg, „der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltenall führen möchte“ (Anthroposophische Leitsätze, GA 26, 14). Ihren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit begründet er damit, dass die Erforschung der übersinnlichen Welt in methodischer Weise vor sich gehe. Deshalb nennt er die Anthroposophie „Geisteswissenschaft“ und meint damit eine Wissenschaft von der (übersinnlichen) „geistigen Welt“, die über die Grenzen bisherigen Erkennens hinausführt. Zugleich betrachtet er sie als „Geheimwissenschaft“, das heißt als Wissenschaft von dem, was dem Außenstehenden, der diesen Erkenntnisweg nicht gegangen ist, geheim, verborgen, „okkult“ bleibt (zum Beispiel in den Büchern Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? und Geheimwissen im Umriss).
Rudolf Steiner entwirft ein höchst komplexes Menschenbild, das den Menschen einspannt in eine sehr eigenwillige Evolutionslehre. Nach dieser Lehre ist der Mensch nicht Spätform, sondern Anfang. Um seiner Höherentwicklung willen wurde das ganze Weltgeschehen in Gang gesetzt. Der Mensch hat derzeit vier Wesensglieder oder „Leiber“, die ihn mit vier Bereichen der Welt in Verbindung bringen: den physischen Leib (mineralisch), den Äther- oder Lebensleib (pflanzlich), den Astral- oder Seelenleib (tierisch) und die ewige Individualität, das Ich, das ihn mit der geistig-göttlichen Welt verbindet. Diese Wesensglieder hat der Mensch im Lauf der Evolution erlangt, und seine Aufgabe besteht darin, in langwierigen Fortentwicklungen, die die Existenz des jetzigen Planeten Erde weit übersteigen, auch die „niederen“ Glieder zu vergeistigen, um ganz in die geistige Heimat einzugehen und die materielle Hülle (den sichtbaren Leib) endgültig abzulegen.
Diesem Ziel dient die anthroposophische Pädagogik, die im Waldorfkindergarten beginnt, sich in den Schulen fortsetzt und für die Anhänger von Steiners Lehre weitergeht. Auch in der jenseitigen, geistigen Welt wird das Ich permanent geschult. Die Evolution des Menschen vollzieht sich nicht durch Naturgesetze, sondern durch Entfaltung des Bewusstseins – durch Schulung. Um sein Entwicklungsziel zu erreichen, untersteht der Mensch zwei geistigen Gesetzen: der Reinkarnation und dem Karma. Reinkarnation eröffnet die Dimension der Zeit: Die Entwicklung des Ich vollzieht sich über viele Erdenleben hinweg. Die Ergebnisse eines Lebens werden als Karma an die nächsten Erdenleben weitergegeben. Das Karma bestimmt das Schicksal. Als „geistiges Ursachengesetz“ steht es für Kausalität, aber auch für Gerechtigkeit: Jeder Mensch erhält in seinem Leben, was er sich zuvor verdient hat.
Der Mensch ist in letzter Instanz verantwortlich für sein Tun und dessen Folgen. Daher kann ihn vom Karma kein vergebender Gott erlösen. Christus kann allerdings das „Weltenkarma“ auf sich nehmen – jenen Teil einer Schuld, die das Weltganze betrifft und nicht den verantwortlichen Täter. Auch stärkt der „Christus-Impuls“ die Ich-Kräfte des Menschen und ermöglicht ihm den stufenweisen Aufstieg in die geistige Welt. Unter Christus versteht Steiner die höchste geistige Wesenheit, die während der Johannestaufe aus dem Sonnendasein in den Körper Jesu herabgestiegen ist, dort drei Jahre wohnte, bei der Kreuzigung seinen menschlichen Leib verließ und in die Erdenaura einzog, also zum Erdengott wurde, und so – als „Christus-Impuls“ – für die Menschen wirkt.
Steiners Erkenntnisquelle ist die „Akasha-Chronik“, ein sogenanntes „geistiges Weltengedächtnis“, zu dem er Zugang zu haben behauptet. Dieser „Akasha-Chronik“ entnimmt Steiner seine „Menschenkunde“ und auch seine Christologie (Aus der Akasha-Forschung: Das Fünfte Evangelium, GA 148). Mittels des oben erwähnten Erkenntnisweges soll auch die Schülerschaft zu solchen Erkenntnisquellen vorstoßen können.
Die Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft hat ihr Zentrum in Dornach bei Basel. Dort unterhält sie eine „Freie Hochschule für Geisteswissenschaft“. In den einzelnen Ländern gibt es „Landesgesellschaften“, die von anthroposophischen Arbeitszentren gebildet werden. Der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft Deutschland gehören etwa 20 000 Mitglieder an, ihre Zentrale befindet sich in Stuttgart, ihr angeschlossen sind zehn regionale Zentren.
Die Waldorfschulen in Deutschland sind zu einem Bund der Freien Waldorfschulen zusammengeschlossen, der seinen Sitz ebenfalls in Stuttgart hat. Derzeit gibt es hierzulande 254 Waldorf- und Rudolf-Steiner-Schulen, die Lehrerausbildung erfolgt in elf speziellen Seminaren.
Die Christengemeinschaft
Die von der Anthroposophie inspirierte, aber unabhängig von ihr organisierte Christengemeinschaft (CG) bezeichnet sich als „Bewegung für religiöse Erneuerung“. Ihre Gründung jährt sich 2022 zum 100. Mal. Die CG will in ihren Gemeinden Menschen vereinen, „die in einer zeitgemäßen Form Christen sein wollen“. Wesen und Zentrum der CG bilden der neue Kultus und die Sakramente. Ungewöhnlich ist auch ihr theologischer Sprachgebrauch. Ihr Gottesdienst heißt „Menschenweihehandlung“. Im Unterschied zu den klassischen Sondergemeinschaften handelt es sich nicht um eine Laienbewegung, sondern um eine Gemeinschaft, die sich auf Lehrfreiheit beruft und in der das priesterliche Amt, zu dem auch Frauen zugelassen sind, eine besondere Rolle spielt.
Die CG zählt zu den wenigen Sondergemeinschaften, die im deutschen Sprachraum entstanden sind. Untrennbar mit ihrer Entstehungsgeschichte verbunden ist neben Rudolf Steiner der evangelische Theologe Friedrich Rittelmeyer (1872 – 1938), der zu ihrer prägenden Führungsgestalt werden sollte. Am 16. September 1922 wurde die CG offiziell gegründet. An diesem Tag vollzog Rittelmeyer in Anwesenheit Rudolf Steiners die erste Menschenweihehandlung im weißen Saal des Goetheanums in Dornach / Schweiz. Steiner selbst hatte die Bezeichnung „Menschenweihehandlung“ als Äquivalent zu „Initiation“ bzw. „Weihe“ vorgeschlagen, um damit die Zurückführung des Menschen zu seinem göttlichen Ursprung zum Ausdruck zu bringen.
Der offiziellen Gründung waren verschiedene Etappen vorausgegangen. Bereits am 21. Mai 1921 traten rund 20 Studenten, die auf der Suche nach einer Erneuerung des Christentums waren, mit der Bitte an Steiner heran, die Anthroposophie für das religiöse Gebiet fruchtbar zu machen. Daraufhin führte Steiner vom 12. bis 16. Juni 1921 den ersten „Theologenkurs“ durch. Steiner trat der neuen Gemeinschaft nicht bei. Gleichwohl hat er den Wortlaut des Kultus übermittelt und das bis heute gültige Glaubensbekenntnis der CG formuliert. Die Selbstbezeichnung Christengemeinschaft sollte das überkonfessionelle Anliegen zum Ausdruck bringen, um über Katholizismus und Protestantismus hinaus die dritte Kirche zu errichten. Im Zentrum der religiösen Praxis steht der neu offenbarte Kultus, dessen Wortlaut Rudolf Steiner den ersten Priestern der CG in mehreren Schulungskursen zwischen 1921 und 1924 mitgeteilt hat.
Bald darauf erfolgten Gemeindegründungen in Deutschland, auch in Prag, in der Schweiz, in Österreich, Norwegen, Holland, Schweden und England. 1925 wurde zur Verbreitung des Schrifttums der „Verlag der Christengemeinschaft“ (heute Verlag Urachhaus) in Stuttgart gegründet. Ebenfalls in Stuttgart richtete die CG 1933 ein Priesterseminar ein. 1941 verhängten die Nationalsozialisten ein Verbot gegen die CG. Nach 1945 nahm diese ihre Arbeit wieder auf und gründete zahlreiche neue Gemeinden in Europa. 1953 entstand in Stuttgart ein neues Seminargebäude. 1960 wurde der Verband der Sozialwerke der CG ins Leben gerufen. Zu dessen Tätigkeitsfeldern zählen u. a. Kinder- und Jugendfreizeiten sowie Fortbildungsangebote für Gruppenleiter und für Mitarbeiter in der Altenpflege.
Das Hauptverbreitungsgebiet der CG liegt im nord- und mitteleuropäischen Raum; einzelne Gemeinden wurden seit den 1990er Jahren neu gegründet, wie in Tschechien, Russland, Estland, in der Ukraine und in Georgien. Neben dem Priesterseminar in Stuttgart arbeitet seit 2001 in Hamburg ein weiteres Priesterseminar; ein berufsbegleitendes Proseminar besteht in Köln. Seit 2003 gibt es ein Priesterseminar in Nordamerika (ursprünglich in Chicago, dann in New York, jetzt in Vaughan bei Toronto in Kanada). Die Christengemeinschaft ist derzeit in 35 Ländern vertreten und hat – nach eigenen Angaben – weltweit etwa 35 000 Mitglieder. In Deutschland gibt es 126 Gemeinden mit ca. 16 000 bis 20 000 Mitgliedern; hinzu kommen zahlreiche Freunde, die nicht Mitglieder sind.
Die CG versteht sich als Kultusgemeinschaft und beansprucht Lehr- und Bekenntnisfreiheit. Ihre kultischen Grundlagen stützen sich außer auf biblische – vor allem neutestamentliche – Aussagen (die meist spirituell-esoterisch bzw. allegorisch gedeutet werden) auf die Anthroposophie Steiners. Seine „Geisteswissenschaft“ dient als hermeneutischer Schlüssel für die Interpretation der Bibel. Die von Steiner durch geistige Schau vermittelten Ritualtexte und seine Hinweise zur Ausübung des Kultus gelten für den einzelnen Priester als verbindlich. Er darf keine Auffassungen vertreten, die dem Inhalt des durch Steiner dargereichten Kultus widersprechen. Der Kultus ist neben dem Neuen Testament als zweite Offenbarungsquelle zu betrachten (Debus 2011, 21). Steiner habe den Kultus aus der Christus-Offenbarung heraus „vermittelt“. Der Kultus sei „durch Anthroposophie dargereicht“. Nicht „Dogmatik“, sondern das religiöse Erlebnis ist nach Meinung der CG für den Wahrheitsgehalt ausschlaggebend: Die „Kultuslautworte“ würden sich im Erleben des Kultus selbst bestätigen. Daher lehnt es die CG ab, den Wortlaut des Kultus zu veröffentlichen. Er soll vielmehr gehört und erlebt werden.
Zentraler Kultus im religiösen Leben der CG ist die Menschenweihehandlung, die vom Priester täglich gefeiert wird. Ihr Ablauf orientiert sich im Wesentlichen am katholischen Messritus. Weitere Elemente der Menschenweihehandlung sind das von Steiner formulierte Glaubensbekenntnis der CG, eine kurze Predigt und das Vaterunser. Im Vollzug der Menschenweihehandlung finden liturgische Gewänder, Ministranten und Weihrauch Verwendung. Im Credo, dem einzig verbindlichen öffentlichen Text der CG, treten ihre Besonderheiten deutlich hervor:
- So ist die Rede von einem „allmächtigen geistig-physischen Gotteswesen“ als Daseinsgrund, das unpersönliche Züge aufweist.
- Christus, nach Steiner der hohe Sonnengeist, ist die beherrschende Mitte des Kultus der CG. Seine Sendung wird im kosmischen Rahmen begriffen und gilt der gesamten Menschheit und dem Universum. Christus wird zu Grund, Mitte und Ziel für den Prozess der „Durchgeistigung“ des Irdischen.
- Das Credo der CG deutet die Sündhaftigkeit vom Wesen des Menschen her. Es ist demnach erkrankt und droht zu ersterben. Sünde wird wesentlich als „Krankheit an dem Leiblichen“ verstanden. Gnade ist in diesem Verständnis lediglich ein Gnadenimpuls, mit dem die Glaubenden arbeiten müssen. Ziel sei letztlich die Vergeistigung des Wesenhaften. Diese Wesensverwandlung steht in enger Beziehung zum „Weltenfortgang“ kosmischen Ausmaßes. In diesem Zusammenhang gibt es innerhalb der CG eine große Offenheit für die anthroposophische Karma- und Reinkarnationsvorstellung, die zwar nicht offiziell gelehrt wird, die letztlich aber als grundlegend für das Wirken der CG vorausgesetzt werden kann.
Die CG kennt insgesamt sieben Sakramente: Taufe, Konfirmation, Menschenweihehandlung, Beichte, letzte Ölung, Priesterweihe und Trauung. Unterschiede zu den großen christlichen Kirchen zeigen sich besonders in ihrem Verständnis der Taufe, die in der CG im Regelfall nur bis zum 14. Lebensjahr vollzogen wird. Sie wird als Inkarnationshilfe verstanden: Die vorgeburtliche Seele soll in den menschlichen Körper einziehen. Als Taufsubstanzen dienen Wasser, Salz und Asche. Diese triadische Substanz soll mit der Trichotomie des Menschen und letztlich mit der göttlichen Trinität korrespondieren (Debus 2011, 121).
In der CG gibt es elf Kultushandlungen mit einem je eigenen Kultuswortlaut. Zu den Kultushandlungen zählen neben den sieben Sakramenten die Sonntagshandlung für Kinder, die Weihnachtshandlung für Kinder (meist am 25. Dezember), das Kinderbegräbnis sowie die Bestattung. Ein Kirchenaustritt wird von der CG nicht erwartet, sondern dem freien Ermessen des Einzelnen überlassen, sodass Doppelmitgliedschaft prinzipiell möglich ist.
Die CG weist eine priesterschaftlich-hierarchisch geprägte Organisationsform auf: Auf geistlicher Ebene wird sie vom „Siebenerkreis“ geleitet, dem der Erzoberlenker, zwei Oberlenker und vier Lenker angehören. Sitz des Erzoberlenkers und der Leitung ist Berlin. Seit 1. Juni 2021 amtiert João Torunsky (Jg. 1956) als „Erzoberlenker“. Seine Vorgänger waren Friedrich Rittelmeyer (am 24. Februar 1925 zum ersten Erzoberlenker der CG ernannt), Emil Bock, Rudolf Frieling, Taco Bay und Vicke von Behr.
Die Gesamtbewegung ist als Stiftung holländischen Rechts unter dem Namen Stichting de Christengemeenschap (international) eingetragen. Die Mitgliedschaft ist erst ab einem Alter von 18 Jahren möglich.
Einschätzung zur Anthroposophie und zur Christengemeinschaft
Anthroposophie ist eine von der Theosophie inspirierte (Zander 2007) esoterische Weltanschauung, deren Hauptquelle nicht diskutierbar ist, da sie nur von einem „Eingeweihten“ eingesehen werden kann. Da das Menschenbild ebenso wie das Christus- und das Gottesbild aus dieser Quelle zu sein beanspruchen und nicht biblischen Ursprungs sind, erscheint die Anthroposophie mit den Grundlagen aller christlichen Kirchen unvereinbar:
- An die Stelle des in Jesus Mensch gewordenen Gottes tritt eine unhistorische ewige Christus-Wesenheit.
- An die Stelle der Gnade Gottes, die den Schuldigen annimmt und ihm die Schuld abnimmt, tritt die Notwendigkeit, aus eigener Kraft das negative Karma abzuarbeiten.
- An die Stelle der verheißenen Auferstehung tritt Reinkarnation – eine Folge vieler Erdenleben.
- Neben die Bibel tritt als Quelle der Christus-Erkenntnis das „Fünfte Evangelium“ aus der „Akasha-Chronik“.
Zwischen Vertretern der evangelischen Kirche und der Christengemeinschaft hat es in den letzten Jahrzehnten vielfältige Kontakte und Gespräche gegeben. Die publizierten Ergebnisse haben – trotz mancher weiterführender Impulse – die Unterschiede zwischen evangelischer und christengemeinschaftlicher Theologie deutlich hervortreten lassen. Die Abhängigkeit von anthroposophischen Überzeugungen, nicht zuletzt in Gestalt der durch Steiners geistige Schau vermittelten „Kult-Neuoffenbarung“, entfremdet die CG von biblisch gewonnenen Grundeinsichten, denen sich die christlichen Kirchen verpflichtet wissen. Der Sonderweg der „Bewegung für religiöse Erneuerung“ zeigt sich nicht zuletzt in ihrem Taufverständnis, das von einer vorgeburtlichen Existenz der Seele ausgeht. Die Taufe der CG wird von der Evangelischen Kirche in Deutschland (nach mehreren Beratungen in den Jahren 1949, 1968 und 1969), aber auch von der katholischen Kirche nicht anerkannt. Der von Steiner geformte Kultus, sein Vollzug und sein Erleben, hat in der CG die gleiche Autorität wie die biblischen Schriften. Insofern handelt es sich bei der Christengemeinschaft – Bewegung für religiöse Erneuerung um ein anthroposophisch interpretiertes Christentum neben den konfessionellen Kirchen.
Jan Badewien / Matthias Pöhlmann, August 2021
Quellen (Anthroposophie)
Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA) – mehr als 350 Bde.; zahlreiche Bände liegen als Taschenbuch vor. Zur Einführung wichtig: Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten, Geheimwissenschaft im Umriss, Aus der Akasha-Chronik.
Umfangreiche Literatur in eigenen Verlagen (Freies Geistesleben, Stuttgart; Rudolf-Steiner-Verlag, Dornach u. a.).
Zeitschriften
Das Goetheanum. Wochenschrift für Anthroposophie, Dornach.
Erziehungskunst, hg. vom Bund der Freien Waldorfschulen, Stuttgart.
Info3. Zeitschrift zur Erneuerung von Wissen, Kunst und sozialem Leben, Frankfurt a. M.
Quellen (Christengemeinschaft)
Debus, Michael (2011): Auferstehungskräfte im Schicksal. Die Sakramente der Christengemeinschaft, 3. Aufl., Stuttgart.
Debus, Michael (2020): Maria-Sophia. Das Element des Weiblichen im Werden der Menschheit, 2. Aufl., Stuttgart.
Frieling, Rudolf (1974): Christentum und Wiederverkörperung, Stuttgart.
Schroeder, Hans-Werner (2001): Die Christengemeinschaft. Entstehung, Entwicklung, Zielsetzung, 2. Aufl., Stuttgart.
Zeitschrift
Die Christengemeinschaft – Monatsschrift zur religiösen Erneuerung (2021 im 93. Jg.).
Sekundärliteratur
Allgemein
Fincke, Andreas (Hg., 2007): Anthroposophie – Waldorfpädagogik – Christengemeinschaft. Beiträge zu Dialog und Auseinandersetzung, EZW-Texte 190, Berlin.
Pöhlmann, Matthias / Jahn, Christine (Hg., 2015): Handbuch Weltanschauungen, Religiöse Gemeinschaften, Freikirchen, hg. im Auftrag der VELKD, Gütersloh, 568 – 593.
Ullrich, Heiner (2010): Rudolf Steiner. Leben und Lehre, München.
Zander, Helmut (2007): Anthroposophie in Deutschland. Theosophische Weltanschauung und gesellschaftliche Praxis 1884 bis 1945, 2 Bde., Göttingen.
Zander, Helmut (2011): Rudolf Steiner. Die Biografie, München.
Zander, Helmut (2019): Die Anthroposophie. Rudolf Steiners Ideen zwischen Esoterik, Weleda, Demeter und Waldorfpädagogik, Paderborn 2019, 61 – 73.
Zur Waldorfpädagogik
Barz, Heiner / Randvoll, Dirk (Hg., 2007): Absolventen von Waldorfschulen. Eine empirische Studie zu Bildung und Lebensgestaltung, Wiesbaden.
Bierl, Peter (2005): Wurzelrassen, Erzengel und Volkslieder, Hamburg.
Buddemeier, Heinz / Schneider, Peter (2005): Waldorfpädagogik und staatliche Schule. Grundlagen, Erfahrungen, Projekte, Stuttgart / Berlin.
Rest, Franco (1992): Waldorfpädagogik, Mainz / Stuttgart.
Zur Heilkunde
Burkhard, Barbara (2000): Anthroposophische Arzneimittel. Eine kritische Betrachtung, Eschborn.
Zur Christengemeinschaft
Becker, Claudia (2000): Versuche religiöser Erneuerung in der Moderne am Beispiel des evangelischen Theologen Friedrich Rittelmeyer, Dissertation, FU Berlin.
Evangelischer Oberkirchenrat (Hg., 2004): Zur Frage der Christlichkeit der Christengemeinschaft. Beiträge zur Diskussion, Stuttgart.
Pöhlmann, Matthias / Jahn, Christine (Hg., 2015): Handbuch Weltanschauungen, Religiöse Gemeinschaften, Freikirchen, hg. im Auftrag der VELKD, Gütersloh, 331 – 346.
Zander, Helmut (2005): Evangelische Kirche und anthroposophische Christengemeinschaft – quo vaditis?, in: Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim 6, 116 – 119.
Zander, Helmut (2007): Anthroposophie in Deutschland. Theosophische Weltanschauung und gesellschaftliche Praxis 1884 – 1945, 2 Bde., Göttingen, insbesondere Bd. 2, 1611 – 1676.
Internet
https://www.anthroposophische-gesellschaft.org.
https://www.goetheanum.org/de.
https://christengemeinschaft-international.org.
https://www.relinfo.ch/anthroposophie (kritisch).
(Abruf der Internetseiten: 18.6.2021)