Alevitentum
„Beherrsche deine Hände, deine Zunge, deine Lenden!“ – Dieser Dreiklang ist oft zu hören, wenn es um alevitische Lehre und Ethik geht. Wer sind die Aleviten? Über viele Jahre wurden sie fraglos dem Islam zugerechnet, wie es in vielen Statistiken bis heute der Fall ist. Seit etlichen Jahren wird jedoch zunehmend deutlich, dass es neben Gemeinsamkeiten etwa mit den Schiiten vor allem grundlegende Unterschiede gibt. Immer mehr Aleviten bringen deshalb ihre Überzeugung zum Ausdruck, nicht dem Islam, sondern einer eigenständigen Religion anzugehören.
Geschichte
In diesem Artikel geht es allein um die anatolischen Aleviten, auch Bektasi-Aleviten (Aleviten-Bektaschiten) oder Kizilbas („Rotköpfe“, aufgrund der historischen roten Kopfbedeckung) genannt. Sie sind nicht mit den vornehmlich in Syrien beheimateten Nusairiern zu verwechseln, die sich erst in neuerer Zeit Alawiten nennen – was zwar sprachlich genauso „Ali-Verehrer“ bedeutet, aber eine bis auf wenige religionsgeschichtlich interessante Merkmale völlig verschiedene Religionsgruppe bezeichnet.
Ali ibn Talib war der Vetter und Schwiegersohn Muhammads, den die Aleviten wie die Schiiten als ersten rechtmäßigen Nachfolger des Propheten ansehen. Mit den Schiiten teilen die Aleviten die besondere Verehrung für Ali, für die Familie Muhammads (ehlibeyt) und die zwölf Imame sowie manche Glaubensvorstellungen, nicht aber die rituelle Praxis.
Als eigenständige Bewegung am Rande des Islam und vom Schiitentum unterschieden entstand das Alevitentum aus verschiedenen heterodoxen Strömungen im Zeitraum vom 13. bis 16. Jahrhundert in Anatolien. Es nahm sehr unterschiedliche, auch nichtislamische Einflüsse in sich auf. So sind neben sufischen (islamisch-mystischen) Elementen schamanistische Einflüsse des vorislamischen, alttürkischen Volksglaubens ebenso ausgemacht worden wie Anklänge an christliche Überlieferungen. Sozialrevolutionäre Ideen flossen ein. Kizilbas waren die an ihren Kopfbedeckungen kenntlichen Anhänger des militanten Safawiden-Ordens (Iran), die bald zum Synonym für Rebellengruppen und Gegner der osmanischen Staatsmacht wurden. Massive Verfolgungserfahrungen gehören seither zur alevitischen Identität. Die Folge waren Rückzug und Absonderung, auch durch strikte Endogamie und die Verheimlichung der eigenen religiösen Überzeugung in einem als feindlich wahrgenommenen Umfeld (takiye, arab. taqiyya). Dies wiederum bestärkte die Vorurteile der Nichtaleviten, die über Jahrhunderte immer wieder im Inzest-Vorwurf gipfelten.
Eine zentrale Rolle bei der Ausformung des Alevitentums wird dem Sufi-Mystiker Haci Bektas Veli (Hadschi Bektasch Weli, 13. Jahrhundert) zugesprochen, der etwa die Gleichheit der Geschlechter und den Vorrang der Vernunft gegenüber dem Dogma lehrte. Er ist der Namensgeber des städtischen Bektaschi-Ordens, einem Sammelbecken unorthodoxer Strömungen, das sich vor allem in den hierarchischen Sozialstrukturen, kaum jedoch in den Glaubensansichten von den ländlich orientierten Aleviten unterschied.
Die Türkische Republik verbot 1925 alle religiösen Orden. Die staatliche Religionsbehörde („Diyanet“) kontrolliert und bestimmt bis heute alle religiösen Angelegenheiten, seit 1980 forciert im Sinne der (sunnitischen) „türkisch-islamischen Synthese“. Minderheiten wie die Aleviten werden nicht anerkannt, sondern einem erheblichen Assimilationsdruck ausgesetzt. Das umfangreiche Budget des Diyanet aus Steuern aller Bürger dient ausschließlich sunnitischen Einrichtungen und der „Sunnitisierung“ der Bevölkerung.
In den 1970er Jahren sympathisierten viele Aleviten mit linken und linksrevolutionären Bewegungen, eine Ikone des politischen Kampfes wurde der Dichterheilige Pir Sultan Abdal, ein Märtyrer des 16. Jahrhunderts. Inneralevitisch kam es im Blick auf das religiöse Leben und das kulturelle Wissen zu einem erheblichen Traditionsabbruch. Viele Aleviten betrachten das Alevitentum eher als Kultur denn als Religion. In Pogromen (Dersim, Çorum, Maras, Sivas) hatten die Aleviten viele Verluste zu beklagen. Einen Wendepunkt stellt der Brandanschlag auf ein Hotel in Sivas am 2.7.1993 dar, bei dem 37 Menschen starben. Seit dieser Zeit geben die Aleviten vermehrt takiye auf, organisieren sich und fordern offensiv die Anerkennung des Alevitentums. Die gleichzeitige Entwicklung der alevitischen Bewegung in Deutschland, in der die gestaltenden Kräfte nicht religiöse Autoritäten, sondern alevitische Intellektuelle und Verbände sind, schuf neue Möglichkeiten der Interessenvertretung wie auch der religiösen Neufindung. Dabei ist inneralevitisch in einem noch offenen Prozess umstritten, ob das Alevitentum als der aufgeklärte, „wahre“ Islam, als eine selbstbewusste eigenständige Religion oder etwa als eine humanistisch-philosophisch orientierte, möglicherweise pantheistische Weltanschauung zu verstehen sei.
Lehre und Praxis
Bis ins 20. Jahrhundert erfolgte die Traditionsvermittlung fast ausschließlich mündlich durch die hoch geachteten „geistlichen Trägerfamilien“ (ocak, eigentl. „Herd“), denen die als Lehrer und Ritualspezialisten fungierenden Dede (weiblich: Ana) entstammen. Ihnen stehen die (Laien-)Familien als „Schüler“ (talip) gegenüber. Schriftlich niedergelegt sind in einigen wichtigen Sammlungen Sprüche, Gedichte, Lieder und Legenden. Besonders bedeutsam für den Glaubensvollzug der Aleviten ist das Buch Buyruk („Das Gebot“).
Aleviten glauben an den einen und einzigen Gott (Allah/Hak), an Muhammad als Gesandten Gottes und an Ali, der wie der Prophet zum Licht Gottes gehört, das seit Anbeginn der Schöpfung die Welt erhellt. So kommt es zu dem Kultspruch Allah/Hak-Muhammet-Ali, der diese drei als Einheit bekennt. Alle Menschen haben Anteil an der „heiligen Kraft“ Gottes, sie sind „aus demselben Licht“ erschaffen, sie sind „von Gott“. Eine Maxime ist, alle Menschen ungeachtet der Ethnie oder der Religion als gleichwertig zu achten. Die unsterbliche Seele (can) kommt von Gott und geht zu Gott zurück. In neuen Existenzen kommt sie immer wieder zur Welt, bis sie den Zustand der Vervollkommnung, bei Gott zu sein, erreicht hat. Der „alevitische Weg“ dahin ist ähnlich wie im Sufismus ein Erkenntnisprozess, den es durch entsprechende Lebensführung möglichst gut zu meistern (und zu verkürzen) gilt. „Vier Tore – Vierzig Stufen/Regeln“ muss jeder Mensch durchlaufen (seriat/Ordnung – tarikat/mystischer Weg – marifet/Erkenntnis – hakikat/Wahrheit mit jeweils zehn, überwiegend allgemeingültigen Tugenden, die gefordert werden).
Aus dieser Sicht ergibt sich zum einen, dass die islamischen Schariaregelungen für Aleviten keine Geltung haben, und zum anderen eine Sozialethik der Gleichheit aller Menschen und des Respekts vor jedem Einzelnen. Gott ist im Menschen zu finden, nicht in einer Schrift oder in einem Glaubenssatz: „Das wichtigste Buch, das zu lesen ist, ist der Mensch“, heißt es. So gilt der Koran als durch die Sunniten manipuliert, für seine Auslegung ist der verborgene Sinn (batini) wichtig. Aleviten beten daher nicht fünfmal täglich, fasten nicht im Ramadan und pilgern nicht nach Mekka. Sie beten nicht in Moscheen, sondern in Cem-Häusern (sprich „Dschem“). Das Cem-Ritual ist die zentrale Feier der Aleviten, zu der ein ritueller Tanz (Semah) und Musik gehören, auch mit Instrumenten, während islamisch-orthodox nur die menschliche Stimme zugelassen ist. Es gibt Gebete, ein Tieropfer und ein gesegnetes Mahl (lokma). Höchst bedeutsam ist, dass die Teilnehmer – Männer und Frauen – im Halbkreis sitzen, damit sie einander „ins Gesicht schauen“ können. Ferner ist ein zentrales Element die Bewahrung bzw. Wiederherstellung des gegenseitigen Einvernehmens (rizalik), sowohl zwischen Dede und Gemeinde als auch untereinander. Dabei gibt es eine Art öffentlicher Beichte sowie gemeinschaftlicher Urteilsbildung, um Versöhnung zu erreichen. Auch die Einrichtung von „Weggemeinschaften“ (musahiplik) zwischen Familien dient der Solidarität untereinander. Im Alevitentum herrscht Gleichberechtigung der Frauen, auch alle Veranstaltungen finden ohne Geschlechtertrennung statt, es gibt weibliche Geistliche (Anas). Im Scheidungsrecht ist die Frau gleichberechtigt, eine unilaterale Scheidungserklärung des Ehemannes ist nicht möglich.
Im Monat Muharrem wird zwölf Tage lang zu Ehren der zwölf Imame gefastet. Den Abschluss bildet der festliche Aschure-Tag, an dem eine Süßspeise aus zwölf verschiedenen Zutaten gekocht und großzügig mit Nachbarn und Freunden geteilt wird. Einige Tage im Februar sind dem Fasten zu Ehren der Beschützer- und Rettergestalt Hizir gewidmet.
Viele Aleviten begehen das Opferfest mit ähnlichen Ritualen wie die Muslime.
Verbreitung und Organisationsformen
In der Türkei machen die Aleviten bis zu 20 Prozent der Bevölkerung aus, ungefähr ein Drittel von ihnen sind Kurden. In Deutschland liegt der Anteil der Aleviten an der türkeistämmigen Bevölkerung aufgrund der stärkeren Zuwanderung aus Anatolien und der Minderheitensituation in der Türkei etwas höher, vermutlich bei mehr als einer halben Million. Die Schätzungen sind schwierig, zumal auch viele der zugewanderten Aleviten (zunächst) takiye praktizierten oder/und von Haus aus nicht religiös eingestellt waren, sondern sich z. B. in politischen Organisationen engagierten. Großzügig geschätzt wird vielleicht ein Viertel der hiesigen Aleviten von einem alevitischen Verein erreicht.
Rund 120 Vereine sind in der Alevitischen Gemeinde Deutschland e.V. mit Sitz in Köln organisiert (die Abkürzung AABF bezieht sich auf die türkische Bezeichnung „Föderation der Alevitengemeinden in Deutschland“). Die Cem-Häuser sind zumeist als anatolische bzw. alevitische Kulturzentren ausgewiesen. Der Dachverband ist transnational in Europa einflussreich und gut vernetzt und eng mit den Entwicklungen in der Türkei verzahnt. Die AABF wurde 2004 von mehreren Bundesländern rechtlich als Religionsgemeinschaft anerkannt. So wurde sukzessive (in Berlin seit 2002) ein eigener, ordentlicher alevitischer Religionsunterricht (ARU) eingeführt, der heute in sieben Bundesländern sowie in Hamburg im Rahmen des „Religionsunterrichts für alle“ erteilt wird.
Eine erfolgreiche, auf Integration zielende Jugendarbeit verantwortet der Bund der Alevitischen Jugendlichen in Deutschland e.V (BDAJ), die größte Migrantenjugendselbstorganisation Deutschlands.
Durch die Arbeit der AABF und des BDAJ sowie insbesondere durch die Einführung des ARU wird nicht nur die institutionelle Integration des Alevitentums gefördert, sondern auch die Position gestärkt, das Alevitentum sei nicht islamisch. Daneben existieren relativ wenige alevitische Vereine, die in Opposition zur AABF die Zugehörigkeit des Alevitentums zum Islam betonen – so z. B. Organisationen im Umfeld der eher türkisch-national(istisch) ausgerichteten CEM-Stiftung (C.E.M. Vakfi, „Republikanisches Stiftungszentrum für Bildung und Kultur“).
Einschätzung
Es sind u. a. das Gottes- und Menschenbild, die spezifische Ausprägung des Seelenwanderungsglaubens sowie die sozialen und ethischen Folgerungen, die daraus gezogen werden, die das Alevitentum als eine eigenständige synkretistische Religion mit besonderen Bezügen zum Islam erscheinen lassen. In der alevitischen Bevölkerung überwiegt die Auffassung, das Alevitentum sei ein Teil des Islam.
Der Prozess der Identitätsfindung ist nicht abgeschlossen, er hat in der Diasporasituation neue Impulse bis hin zu Neuformulierungen des alevitischen Selbstverständnisses erhalten. Aufgrund ihrer Ablehnung der islamischen Scharia, patriarchalischer Traditionen und polygamer Tendenzen im Islam gelten die Aleviten als besonders integrationsfreundlich. In einem Kontext, in dem der Islamdiskurs zunehmend belastet ist, nutzen Aleviten die Gelegenheit, sich deutlich von „dem Islam“ zu distanzieren. Welche Rückwirkungen die Entwicklungen mittelfristig auf die Aleviten hierzulande und vor allem in der Türkei haben werden, ist noch nicht abzusehen. Sie sind schon jetzt erheblich.
Friedmann Eißler, März 2013
Literatur
Bozkurt, Mehmet Fuat (Hg.), Buyruk. Das Gebot. Mystischer Weg mit einem Menschen, Hamburg 1988
Dreßler, Markus, Die Alevitische Religion. Traditionslinien und Neubestimmungen, Abhandlungen für die Kunde des Morgenlandes Bd. LIII,4, Würzburg 2002
Eißler, Friedmann (Hg.), Aleviten in Deutschland. Grundlagen, Veränderungsprozesse, Perspektiven, EZW-Texte 211, Berlin 2010
Gorzewski, Andreas, Das Alevitentum in seinen divergierenden Verhältnisbestimmungen zum Islam, Bonner Islamstudien Bd. 17, Berlin 2010
Gülçiçek, Ali Duran, Der Weg der Aleviten. Menschenliebe, Toleranz, Frieden und Freundschaft, Köln 32003
Gümüs, Burak, Die Wiederkehr des Alevitentums in der Türkei und in Deutschland, Konstanzer Schriften zur Sozialwissenschaft Bd. 73, Konstanz 2007
Güzelmansur, Timo, Gott und Mensch in der Lehre der anatolischen Aleviten. Eine systematisch-theologische Reflexion aus christlicher Sicht, CIBEDO-Schriftenreihe Bd. 2, Regensburg 2012
Kaplan, Ismail, Das Alevitentum. Eine Glaubens- und Lebensgemeinschaft in Deutschland, Alevitische Gemeinde in Deutschland e.V., Köln 2004
Sökefeld, Martin (Hg.), Aleviten in Deutschland. Identitätsprozesse einer Religionsgemeinschaft in der Diaspora, Bielefeld 2008
Zeitschrift
Alevilerin Sesi („Die alevitische Stimme“), monatlich erscheinende Zeitschrift der AABF
Internet
www.alevi.com/de (Alevitische Gemeinde Deutschland e.V.)
www.aagb.net (Bund der Alevitischen Jugendlichen in Deutschland e.V.)